Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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Sellian schmiegte sich an den Vater. Der konnte vor Erregung und Freude kaum die Tränen zurückhalten. Sie hatten alle und alles verloren, aber Sellian lebte, er war unverletzt, und jetzt waren sie hier. Sellian war hier.

      Am ersten Bus wurden die Türen geöffnet. Ein Ordnungsbeamter winkte die Frauen heran, und sie tappten mühsam mit gefesselten Füßen und Händen nach vorn. Die Kinder hielten sich an den Blusen und Hosen ihrer Mütter fest. Die Männer sahen schneidig aus, richteten in Bereitschaft ihre Reihe präzise aus, konnten den nächsten Schritt in die Freiheit kaum erwarten.

      Der Aufseher überblickte die Menschenmasse, und als er Sellian sah, winkte er ihm.

      Appa, was sagt der?

      Ich weiß nicht, Baba.

      Der Aufseher gab beiden ein Zeichen: halt für Mahindan, komm her für Sellian. Mahindan konnte den Gesichtsausdruck des Mannes nicht deuten. Immer wieder sagte er dasselbe kurze Wort, dann kam er ungeduldig auf sie zu und schnappte Sellian am Oberarm.

      Appa!

      Nein! Das ist mein Sohn! Die Kette zwischen seinen Füßen rasselte, Mahindan verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Die Männer vor und hinter ihm brüllten auf, und Ranga versuchte, ihn mit gefesselten Händen aufzufangen. Als Mahindan wieder auf den Beinen war, sah er, wie der Aufseher Sellian über die Schulter geworfen hatte und wegschleppte. Einige Frauen, die noch nicht im Bus waren, wandten sich um und schrien ihn auf Tamil an, er solle den Jungen loslassen. Sellian wehrte sich aus Leibeskräften und trommelte mit den Fäusten auf den Rücken des Mannes. Das Saftpäckchen fiel zu Boden und die Flüssigkeit bildete eine lilafarbene Lache auf dem Asphalt.

      Eine laute Stimme durchschnitt den Aufruhr. Mahindan sah, wie die Krankenschwester, die seinen Blutdruck gemessen hatte, auf den Entführer zueilte. Sie sprach Englisch mit der Stimme einer Tamil-Mutter, die rügt und keinen Widerspruch duldet. Ihr Kinn schoss nach vorn, der Zeigefinger stieß zu. Der Mann fuhr mit der flachen Hand über den Hinterkopf und setzte Sellian schließlich wieder ab.

      Sellian rannte zu seinem Vater zurück, und Mahindan hockte sich im Klammergriff seiner Fesseln mühsam zu ihm hinunter. Heftig keuchend und mit aufgerissenen, verweinten Augen klammerte Sellian sich mit beiden Händen an seinen Arm, presste das Gesicht an den Vater. Mahindan spürte Sellians festen Griff, wie leicht er aufgebrochen werden konnte.

      Wo werden wir hingebracht?, fragte er die Krankenschwester auf Tamil.

      Er wusste, dass ein großes, weites Land vor ihnen lag, aber wenn er versuchte sich vorzustellen, wie das aussehen mochte, kamen ihm nur vage Erinnerungen an Geschichten, die der Großvater über England erzählt hatte. Schafe und hohe Gebäude, Polizisten, die anstelle von Gewehren Schlagstöcke trugen.

      Die Krankenschwester trug keine Schutzmaske. Auf Mahindans Frage wichen ihre Augen seitlich aus und die Mundwinkel gingen nach unten. Aber als sie antwortete, sprach sie laut, so dass alle Männer in der Schlange es hören konnten: Normalerweise gibt es in der Nähe ein paar Unterkunftsräume. Aber wenn so viele auf einmal kommen … gibt es nur einen Ort mit genügend Betten.

      Mahindan fühlte sich zum Narren gehalten. Freien Menschen legt man keine Handschellen und Fußfesseln an.

      Die Schwester wandte sich mit weicherer Stimme wieder an Mahindan. Wo die Frauen hinkommen, gibt es Einrichtungen für Kinder.

      Chithra war bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Sellian kannte nur Mahindan, der von Anfang an Vater und Mutter für ihn gewesen war. Kein Tag war vergangen, an dem Mahindan nicht für seinen Sohn gesorgt hatte. Bei dem Gedanken, ihn weggehen zu lassen, ihn allein in einen Bus einsteigen und zu einem unbekannten Ort fahren zu lassen, drehte sich ihm das Herz um.

      Sellian fing an zu weinen. Appa! Lass mich nicht allein! Lass mich nicht allein!

      Das schnürte Mahindan die Kehle zu. Hatte er eine Wahl? Er musste stark sein, um seines Sohnes willen.

      Alles ist gut, Baba, sagte er. Willst du nicht mit den andern Kindern spielen? Und sieh mal, alle diese netten Tanten hier werden sich um dich kümmern. Es ist nur auf kurze Zeit.

      Die Schwester nahm Sellian bei der Hand. Siehst du den kleinen Jungen dort? Kennst du ihn?

      Sellian schluckte und nickte und wischte sich mit dem Handrücken die verschmierte Nase ab. Mahindan sank das Herz, als er sah, wer das war – Kumurans Sohn. Er sagte zu Sellian: Du kennst doch den Jungen, nicht?

      Ich werde seine Mutter bitten, nach dir zu schauen, sagte die Schwester. Es tut mir leid, sagte sie zu Mahindan, als sie sah, wie Sellian die Arme um den Hals seines Vaters schlang. Das kommt nicht oft vor, ein Schiff mit so vielen Leuten … Jeder tut sein Bestes.

      Wir sind ja so froh, hier zu sein, sagte Mahindan und hielt seinen Sohn noch fester im Arm. Ganeschas Elefantenrüssel bohrte sich in seinen Hinterkopf.

      Der Aufseher gab eine Anweisung.

      Komm her, Kindchen, sagte die Schwester zu Sellian.

      Sei schön lieb, sagte Mahindan, zeig Appa, wie tapfer du sein kannst.

      Sellian bemühte sich, das Schluchzen zu unterdrücken, da kam der Schluckauf. Er wurde weggeführt und konnte nur noch den Kopf umdrehen und über die Schulter zurückschauen. Mahindan Brust zog sich zusammen. Die meisten Frauen waren jetzt im Bus und starrten aus den Fenstern. Die Männer starrten auf ihre Füße. Mahindan spürte, wie Kumurans Frau ihn mit ihrem harten, unversöhnlichen Blick fixierte. Er bemühte sich mit aller Kraft, ein ruhiges und zuversichtliches Gesicht zu zeigen. Als er Sellian noch einmal ansah, sah er Chithras Augen, ihre großen Vorderzähne.

      Sellian verschwand im Bus und die Türen schlossen sich zischend. Angst und Entsetzen überfluteten Mahindan wie ein Tsunami das Land. Die Welle kam unaufhaltsam anschwellend auf ihn zu. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er das Heck des davonfahrenden Busses, aber alles, was er sah, war Dunkelheit.

      TERORISTEN RAUS!

      Priya war bei einem Besuch des Marinemuseums schon einmal auf der Basis der kanadischen Streitkräfte in Esquimalt gewesen. Sie konnte sich daran erinnern, wie ihr Bruder sie an den Zöpfen gezogen hatte, um sie zu ärgern. Ob ihre Eltern dabei gewesen waren, wusste sie nicht mehr. Es war durchaus möglich, dass die Erinnerung sie trog.

      Gigovaz’ Auto wurde von einem Sicherheitsoffizier durch den Checkpoint gewinkt, und sie fuhren auf das Gebäude zu, wo die Flüchtlinge verhört werden sollten. Das war ein grauer Klotz auf einer schmalen Landzunge, begrenzt von Wald und Meer. Die Sonne war voll aufgegangen, der Himmel komplett wolkenlos, die Erde trocken.

      Auf dem Parkplatz standen die Kleintransporter von Radio und Fernsehen, Kameraleute liefen mit geschulterten Geräten herum, Reporter blätterten in ihren Notizblöcken. Gegenüber vom Gebäude wurde ein Podium errichtet, und ein junger Mann hantierte an einem Schild, das vor einem Rednerpult hing.

      Wer gibt hier eine Pressekonferenz?, fragte Gigovaz.

      Minister Blair, antwortete der Mann.

      Öffentliche Sicherheit, erklärte Gigovaz seiner Assistentin. Nicht Einwanderung. Interessant, meinen Sie nicht auch?

      Der Weg zum Eingang war beiderseitig mit Planen abgeschirmt. Ein halbes Dutzend Leute standen in einer Reihe da, schwenkten selbstgefertigte Plakate und skandierten Sprüche. Ein Mann mit Jacke und Logo eines Fernsehsenders schwenkte seine Kamera von rechts nach links. Gigovaz ging an ihm vorbei, sah und hörte nichts. Priya las, was auf den Plakaten stand. Schickt das illegale Pack zurück! Teroristen raus! Sie hätte die Leute gern auf den Rechtschreibefehler hingewiesen.

      Sie kamen ins Gebäude, aber das war menschenleer. Allein am Empfangstresen saß eine Frau mit Haarknoten und Bowler-Hut. Sie gab ihnen ihr Namensschild und Priya hängte es sich gleich um den Hals. Auf einer Seite stand ein blaues V, auf der anderen Seite sah sie ihren Namen und ihr Gesicht. Es war ihr ID-Foto aus der Kanzlei. Vor einem Monat war es aufgenommen worden. Sie hatte auf einem Hocker im Postraum gesessen, und ein Typ mit Nackenmatte hatte sie angewiesen, nicht zu blinzeln. Auf dem Foto sah sie verängstigt und gekünstelt aus.

      Wo