Es war ein reiches Leben. Arthur Ernest Wilder-Smith

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Название Es war ein reiches Leben
Автор произведения Arthur Ernest Wilder-Smith
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783958932708



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und in Reading Student war, übernahm ich diese Arbeit wieder. Man lernt allerlei Praktisches bei einer solchen Beschäftigung. Mein Bruder und ich hatten alle beide einen Hang zum Ingenieurwesen und neben der elektrischen Anlage bastelten wir viel an Autos herum. Wahrscheinlich hing diese Liebe zum Maschinenwesen mit Mutters Familie zusammen.

      INTERNAT

      1. Das Internat

      Zwischen 1922 und 1930 besuchten Walter und ich die Schule in Wallingford. Wir fuhren jeden Tag mit einer Kleinbahn dorthin. Andere Jungen von den umliegenden Ortschaften nahmen den gleichen Zug, sodass die Bahnfahrt eine fröhliche Gemeinschaftsfahrt wurde. Aber meine Mutter, die Lehrerin war, war vom Standard der Lehrerschaft dort in Wallingford nicht so sehr begeistert. Ich galt in Wallingford zum Beispiel als zu dumm, um Latein zu studieren, und musste deshalb Buchführung lernen. Mutter probierte mit mir Latein aus. Offenbar glaubte sie den Schulberichten und Zeugnissen nicht. Das Gleiche galt für Mathematik und Chemie. Mein Bruder und ich galten in der Schule als hoffnungslose Fälle, aber bei Mutter lernten wir offenbar ganz gut.

      Vater und Mutter besprachen die Lage und überlegten, ob ein Internat die Lösung wäre. Mutter war der Meinung, dass der Direktor der Schule in Wallingford kein Mensch war, der Kinder unter sich haben sollte. Denn er wurde sehr leicht wütend und bezeichnete uns regelmäßig als unaussprechliche Affen, statt seine Lehrertätigkeit auszuüben. Wir hatten noch dazu einen dünnen, mageren, chronisch schlecht gelaunten Chemielehrer namens Hyslop. Er trug eine Pincenez-Brille, sah sehr asketisch und auch furchterregend aus. Neben Chemie lehrte er uns Physik. Nach einem Jahr seines Unterrichts hatte ich schier nichts gelernt. Meine Noten in seinen Fächern waren schlecht und die meines Bruders noch schlechter. Wir verstanden den Mann einfach nicht.

      a) Mutters Gespräch mit dem Lehrer

      Meine Mutter suchte eines Abends Mr. Hyslop auf und fragte ihn nach meinem Können. Der Lehrer gab einen positiven Bericht über mich: Ich sei immer höflich, aufmerksam, entgegenkommend und so weiter und so weiter.

      „Warum schneidet denn mein Sohn in den Prüfungen so schlecht ab?“, fragte meine Mutter, die Lehrerin, den Lehrer.

      „Das ist ein Mysterium“, antwortete er, es sei ihm unerklärlich.

      Das war meiner Mutter zu viel. Sie kündigte der Schule – es handelte sich um eine Privatschule; der Staat hatte damals im Schulwesen noch kein Monopol. Sie entgegnete ihm, er und der Direktor seien offenbar untauglich. So viele Schüler seien von der Schule bereits gegangen. Mein Vater war mit Mutters Entscheidung einverstanden; denn man musste auch für die Schule Schulgeld bezahlen. Vater war der Meinung, wenn für das Schulgeld zu wenig geliefert wurde, sollte man kündigen. Was die Kinder in der frühen Jugend verpassen, könnten sie später kaum mehr einholen. Man lernt am schnellsten und am gründlichsten vor und in den Pubertätsjahren. John und Charles Wesley konnten mit zwölf Jahren zur Universität Oxford gehen und dort studieren, weil sie schon Latein, Griechisch, etwas Hebräisch und Französisch konnten. Sie hatten all das von ihrer Mutter gelernt. Dass die heutige Jugend mit zwölf Jahren nichts oder sehr wenig von Mathematik, Sprachen und Grammatik weiß, liegt nicht allein an den Kindern selbst, sondern wahrscheinlich daran, dass sie an Stimulusüberflutung (zu viel Eindrücke von den Massenmedien, sodass das Informationsspeicherungs- und Wiedergabesystem mit der Informationsflut nicht mehr fertig wird) leiden. Dazu kommt die Tatsache, dass auch die Lehrer an der gleichen Krankheit leiden – zu viel Informationsflut durch die Massenmedien und durch billige, minderwertige Literatur.

      „Also“, meinten unsere Eltern, „schicken wir die Kinder auf ein Internat. Die Mädchen hatten auf einem Mädcheninternat mit guten Resultaten abgeschlossen. Lasst uns die Jungen auf ein Internat schicken, sonst werden sie nichts lernen und ihr Leben lang darunter leiden.“

      Im Internat müssen die Schüler um 21.00 Uhr ins Bett gehen, um 7.00 Uhr morgens aufstehen, sich kalt waschen, im Sommer und Winter bei offenem Fenster schlafen. Gute Umgangsformen werden ihnen auch beigebracht. Die Lehrer werden mit „Sir“ angeredet und die Lehrerinnen mit „Ma’am“ (Madame). Man geht vor einem Lehrer oder vor einem Mädchen nicht zuerst durch eine Tür. Und das schwächere Geschlecht gilt als unantastbar. Die meisten englischen Jungen und Mädchen aus besserer Familie gehen mit zwölf bis 13 Jahren auf ein solches Internat (Public School), das übrigens sehr privat und gar nicht „public“ ist.

      b) Taunton School

      So wurde beschlossen, dass wir Taunton School in Somerset, Westengland, besuchen sollten. Taunton School ist eine Privatschule mit Internat, die damals etwa 700 Jungen aller Altersgruppen von drei bis achtzehn Jahren unterbrachte. Die ganz kleinen Kinder wurden in einem Extra-Haus namens „Thone“ gepflegt. Warum gingen die Kinder so jung ins Internat? Der Grund war, dass England damals ein großes Kolonialreich war, das mit „Führungskräften“ versehen sein musste. Das Klima in diesen Teilen dieses Kolonialreiches war für Kinder ganz ungeeignet, sodass die Kinder in diesen Teilen der Erde nicht aufwachsen konnten. Oft gab es in solchen Kolonialgebieten überhaupt keine Schulen, die auf die englischen Colleges und Universitäten vorbereiteten. Die Beamten des englischen Kolonialreiches waren also auf Internate wie Taunton School, besonders auf Thone Junior School für die Drei- bis Neunjährigen, angewiesen. Es war oft ergreifend, zu beobachten, wie diese Kinder, drei Jahre und darüber, Sonntag für Sonntag hinter den größeren Jungen zur Kirche marschierten. Meist wurden sie in kleinen Gruppen von fünf bis zehn Jungen von einer älteren Lehrerin an der Hand geführt. Noch ergreifender waren die Szenen, die sich so oft wiederholten, wenn die Eltern drei bis fünf Jahre lang wegfahren mussten. Man konnte damals nicht in ein paar Stunden nach Indien fliegen und dann zum freien Wochenende – mitten in jedem Trimester gab es ein solches freies Wochenende – die Kinder besuchen. Während dieses Wochenendes durften die Eltern, die in der Nähe wohnten, ihre Kinder besuchen oder sie nach Hause nehmen. Die ganz kleinen Kinder kannten ihre Eltern gar nicht mehr, wenn diese sie nach drei bis fünf Jahren besuchen kamen …

      Mütter standen dann vor ihren eigenen Kindern, die keine Ahnung hatten, wer oder was Eltern waren. Dort haben mein Bruder und ich gelernt, was es bedeutet, eine Familie und Vater und Mutter hinter sich zu wissen. Die „Thone-Kinder“ konnte man immer erkennen, wenn sie später durch die „Middle-“ und „Senior-School“ gingen. Es war irgendwie auf ihren Gesichtern geschrieben: „Ich bin ein unterprivilegiertes Kind; ich kenne keine Familie.“ Als unsere eigenen Kinder in die Pubertät kamen, standen wir vor ähnlichen Problemen. In der Schweiz durften sie nicht Medizin studieren; als Ausländer konnten sie kein schweizerisches medizinisches Diplom erwerben, nur ein Fakultätsdiplom, das sie weder in der Schweiz noch im Ausland zu irgendeiner medizinischen Praxis berechtigt hätte. Deshalb entschieden wir uns, sie alle, auch unsere Tochter, mit 13 oder 14 Jahren nach England in ein Internat zu senden. Wenn sie bis zum Pubertätsalter in ihrer eigenen Familie erzogen worden sind, lernen sie im Internat Vater und Mutter und die Familie mehr schätzen, als wenn sie nie von der Familie fort waren. Die meisten europäischen Kinder können es mit 16 oder 17 Jahren kaum erwarten, bis sie von zu Hause wegziehen und ein eigenes Zimmer bekommen. Unsere Kinder hängen viel mehr an ihrem Zuhause. Sie kommen gern wieder nach Hause, um wieder „Kind“ sein zu dürfen, obwohl sie alle längst Herr Doktor bzw. Frau Doktor sind.

      Im heutigen Internat, so wie unsere Kinder ihre Internate kennen lernten, ist die Situation ähnlich wie damals vor 50 Jahren, als ich im Internat war – aber aus ganz anderen Gründen. In jedem Internat findet man heute noch Kinder, die „unterprivilegiert“ sind, weil sie keine Familie mit Vater und Mutter kennen. Nicht aber, weil England ein Kolonialreich ist, sondern weil England ein Land für Ehescheidungen geworden ist. Im Internat findet man die Kinder aus geschiedenen Ehen. Vater und Mutter können sich nicht mehr vertragen, haben zwei oder mehr Kinder. Was soll mit ihnen geschehen, die jetzt nicht mehr erwünscht sind? Das Zuhause wurde vor der Nase der armen Kinder aufgelöst. Kein Zuhause ist mehr vorhanden, von wo aus die Kinder zur Schule gehen können. Man stopft sie deshalb in irgendein Internat zur „Lösung“ des Problems. Das Resultat ist aber gleich, ob die Scheidung oder das Kolonialreich die Ursache ist. Es steht auf den Gesichtern dieser „unterprivilegierten“ Kinder buchstäblich geschrieben: „Ich kenne die Wärme einer Familie, eines Vaters oder einer Mutter, die mich wollen, nicht.“