Gesammelte Werke. Robert Musil

Читать онлайн.
Название Gesammelte Werke
Автор произведения Robert Musil
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026800347



Скачать книгу

zu lenken, nimmt er die Brille ab und macht ein natürliches Gesicht.

      Stader: Wie doch diese überholten, altmodischen Mittel noch immer wirken! Eine Brille, ein wenig Meisterschaft im Ausdruck und es genügt schon für einfache Fälle! Sie erkannten mich also nicht.

      Regine: Ich weiß noch immer nicht …? Sie betrachtet ihn, er grinst allmählich über das ganze Gesicht. Was meinen Sie?

      Stader: Sie erinnern sich nicht?

      Regine: N…ein. Ach ja … Sie waren Diener bei uns?

      Stader: Hrr mja; nun ja gewiß; ich war Diener … Stader, Ferdinand Stader, … Ferdinand!? Aber schon damals in der freien Zeit etwas Besseres, Sänger und Dichter.

      Regine: Ich weiß. Sie sind nachts in Gastwirtschaften als Sänger aufgetreten, obgleich Sie das eigentlich nicht durften. Das gefiel mir.

      Stader: Und wie oft haben Sie mir einen Kuß ins Haar gehaucht und gesagt, du –

      Regine: Benehmen Sie sich doch nicht abgeschmackt!

      Stader: Abgeschmackt? Mit den Zähnen und allen zehn Fingern haben Sie in mein Haar gebissen und gesagt: Du in –, du in –; Herrgott, bis vor kurzem hab’ ich’s noch gewußt und jetzt hab’ ich’s vergessen! Es war etwas mit Genie.

      Regine: Du – ingénu. Mein Gott! Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Anspeien könnte ich mich heute!!

      Stader: Beruhigen Sie sich. Sie haben mir zwar schweres Unrecht zugefügt, als Sie mich so einfach … na ja, hinauswerfen wollte ich sagen. Ich wußte ja nicht, daß feine Damen so sein können. Aber ich trage Ihnen nichts nach. Denn Sie haben mich dadurch auf den Weg der Wahrheit gestoßen. Und der Wahrheit verdanke ich meinen Aufstieg! Sie hatten sich nämlich nicht in mir geirrt, und Ihr Wort, daß ich ein Genie bin, das hat mich begleitet und gestärkt; es nützt Ihnen nichts mehr, wenn Sie es heute zurückzunehmen versuchen. Ich war nie bloß nur Diener, ich habe das gleich danach aufgegeben. Ich war vielerlei. Präparator, Klavierspieler, Paukdiener, Photograph, sogar Hundefänger; ich war ein vielseitiger Mensch, schon bevor ich meinen Beruf entdeckte. Und ich muß sagen, man braucht für ihn auch außer der Strenge der Forschung etwas Künstlerblut: Heute bin ich Inhaber des größten neuzeitlichen Ausforschungsinstituts.

      Regine: Ausforschungs?

      Stader: Detektivinstituts.

      Regine: Sie wollen Geld?! Wieviel? Ich habe keins.

      Stader würdig: Betrachten Sie mich, bitte, als in ritterlichen Beziehungen Ihnen gegenübergestanden! Ich wollte Sie bloß um eine Gefälligkeit ersuchen. Mit herablassender Zärtlichkeit ihren Irrtum verbessernd. Keine solche; Sie haben sich doch noch immer nicht geändert. Mein Institut ist das größte und neuzeitlichste Ausforschungsinstitut der Gegenwart: Newton, Galilei & Stader. Früher hätte man so etwas Argus genannt; weil ich weiß, was ich der neuzeitlichen Wissenschaft schulde, habe ich ihre beiden Begründer in den Namen der Firma aufgenommen.

      Regine die sich nicht zurechtfindet: Ja also, dann sind Sie aber der Detektiv, von dem mein Vetter Thomas gesprochen hat?

      Stader: Ihr –? Wer ist Thomas?!

      Regine: Mein Vetter Doktor Thomas – nun, Sie befinden sich doch in seinem Haus! Er hat davon gesprochen, einen Detektiv kommen lassen zu wollen.

      Stader sehr beunruhigt: In der Angelegenheit Seiner Exzellenz Ihres Gatten und eines gewissen Doktor Anselm Mornas?

      Regine: Wahrscheinlich doch!

      Stader in äußerster Gemütsbewegung: Er hat einen Detektiv! Und nicht mich! Ich bin vernichtet!

      Regine: Aber ich weiß ja gar nicht sicher, ob er es wirklich getan hat.

      Stader: Es ist noch nicht sicher?! Sie müssen mir sofort eine Aussprache mit ihm vermitteln. Ich bin der Detektiv Seiner Exzellenz; aber ich will ihm alle meine Geheimnisse verkaufen, schenken will ich sie ihm, wenn er mir Gehör leiht! Sie müssen mich ihm sofort auf das herzlichste empfehlen!

      Regine: Aber das ist ja unmöglich.

      Stader: Unmöglich? Sie meinen wegen –? Vorbei ist gewesen. Ein Mann hat größere Interessen! Hören Sie mich an: Mein Institut arbeitet mit den neuzeitlichen Mitteln der Wissenschaft. Mit Graphologik, Pathographik, hereditärer Belastung, Wahrscheinlichkeitslehre, Statistik, Psychoanalyse, Experimentalpsychologik und so weiter. Wir suchen die wissenschaftlichen Elemente der Tat auf; denn alles, was in der Welt geschieht, geschieht nach Gesetzen. Nach ewigen Gesetzen! Auf ihnen ruht der Ruf meines Instituts. Ungezählte junge Gelehrte und Studenten arbeiten in meinen Diensten. Ich frage nicht nach läppischen Einzelheiten eines Falls; man liefert mir die gesetzlichen Bestimmungsstücke eines Menschen und ich weiß, was er unter gegebenen Umständen getan haben – muß! Verstehen Sie? Die moderne Wissenschaft und Detektivik engt den Bereich des Zufälligen, Ordnungslosen, angeblich Persönlichen immer mehr ein. Es gibt keinen Zufall! Es gibt keine Tatsachen! Jawohl! Es gibt nur – wissenschaftliche Zusammenhänge.

      Ja, das ist aus Ihrem »kleinen Neapolitaner«, aus Ihrem »Straßensänger« geworden!

      Seine Exzellenz, Ihr Herr Gemahl, hat uns nun, angezogen von dem außerordentlichen Ruf, den unser Institut in der gesamten Fachwelt genießt, die Ehre seines Auftrags erwiesen. Es lag mir viel daran, eine so hochgestellte wissenschaftliche Persönlichkeit zufriedenzustellen: hier ist das schriftliche Elaborat. Er weist stolz auf eine dicke Mappe, die er nicht aus der Hand läßt.

      Regine: Elaborat? Sie wollen doch nicht sagen? Über wen?!

      Stader: Wir verwenden neben den geschilderten neuzeitlichen Mitteln natürlich auch Rescherschöre, Bestechungen, Frauen, Alkohol, Dienstboten, Spoliierungen, kurz die sozusagen klassischen Mittel der Detektivwissenschaft. Wollen Sie sehen? Er öffnet seine Mappe. Hier diese Postkarte ist von Doktor Anselm Mornas an seinen Schneider und handelt von der Bestellung eines Winteranzugs. Wollen Sie beachten, daß die Karte im August geschrieben worden sein muß. Das läßt sich beweisen durch das Datum des Poststempels und den Umstand, daß es sich um eine reine und direkte sogenannte Zweckorientierung handelt, wobei eine Irreführung des Schneiders nicht dienlich wäre.

      Regine ganz benommen: Das verstehe ich nicht, aber was läßt sich denn daraus schließen!?

      Stader: Oh …! Bestellung eines Winteranzugs im August, das könnte bedeuten: Voraussicht; Sparsamkeit, denn im Sommer sind die Winterstoffe billiger; Mangel an Schick, denn man erhält noch nicht die kommenden Winterstoffe; viertens eine geheime Absicht. Pedantisch vorsorglich ist er nicht, sparsam ist er nicht, ohne Schick ist er nicht: was bleibt also? Ein Geheimnis. Da haben Sie schon den ganzen Menschen! – Mit der Analyse des Inhalts stimmt die der Schrift überein. Sehen Sie nur diesen aufwärts strebenden Haken: Abenteuerlust. Dieses geduckte «u»: geheime Leidenschaften. Oh, es ist ein Genuß, das verborgene Wesen eines Menschen so spielend vor sich auszubreiten! Hier! Sehen Sie diesen Schattenstrich: ein Selbstmordgedanke! Und nun die sich fast verkriechenden Mittelbuchstaben: Wandertrieb; es ist die Schrift eines Mannes, der zuweilen verschwindet und die Nachricht ausstreut, daß er in den Tod geht. Ich halte mich nicht dabei auf, daß er das Wort «Betrag» so schreibt, daß man es auch für «Betrug» lesen könnte, ich weiß auch ohne das, sein Lebensdrang ist wach: diese steil ansteigenden Haarstriche! Er hat in summa das Gefühl, daß er ohne die Person nicht leben kann, die er im Winter in diesem Anzug treffen wird.

      Regine: Ja kennt er denn die schon?

      Stader: Das waren Sie!

      Regine: Woher wollen Sie das denn wissen.

      Stader: Nun ich werde als Beauftragter Seiner Exzellenz doch wissen, wann Doktor Anselm zum erstenmal ins Haus kam. Er sieht auf seine Armbanduhr. Aber meine Zeit beginnt mir zu mangeln, sehen Sie nur noch dieses Dokument.

      Regine: Das ist ja meine Schrift!

      Stader: Jaha. Das habe ich seinerzeit als Andenken mitgenommen: es war Ihr Wirtschaftsbuch.

      Regine: