Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Robert Musil |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026800347 |
Maria: Noch immer? Weint und schreit? Läßt niemand ein?
Anselm: Vermutlich.
Maria: Horchen Sie! …? Ich glaube, ich habe schon vorhin schreien gehört. Verstört vom Fenster fort. Ich halte das nicht aus; noch immer rauschen die Bäume so sinnlos.
Anselm: Wie Wasser!
Maria: Nein, der Wind läuft durch die Bäume; wie mit Füßen; läuft, läuft. Es ist so sinnlos.
Anselm: Und geschieht? So viele Dinge in der Welt geschehen. Als ob lauter Uhren im Raum hingen und gingen und jede andere Zeit zeigte.
Maria: Läuft, läuft ohne Atem zu holen, hören Sie! Es ist zum Fürchten.
Anselm: Es ist auch zum Fürchten! Warum fiel dieses Blatt jetzt am Fenster vorbei? Bilden Sie sich nicht ein, daß irgend jemand es weiß. Überall zwei, drei Schritte weit Antwort, dann Nebel. In jeder Sekunde gleiten Forderungen an Sie heran, Tatsachen mit roten, grünen, gelben Augen und Nebelhornrufen. Drohen Entscheidungen und entgleiten im Nebel. Er hat seinen Kopf mit beiden Händen gefaßt. Mein Leben, Gott, wenn ich über mein Leben nachdenken wollte, es ist voll solcher Lichter!
Maria: Was für ein Anfall ist das bei Regine?
Anselm: Kleinmut. Nerven … Wilde Ohnmacht!
Maria: Aber das wäre doch geradezu Hysterie!
Anselm: Oder Zügellosigkeit. Ich mag nicht daran denken!
Maria: Und Sie wissen bestimmt: Nur diese Aufzeichnungen sind schuld daran?
Anselm: Sie müssen ihr entwendet worden sein; sie stellen sie bloß.
Maria: Und was steht darin?
Anselm: Ich habe sie ja nicht gelesen.
Maria: Und über Sie? Über Sie – steht gar nichts darin?
Anselm: Nur Belangloses könnte. Oder Lügen, die ich nicht kenne.
Maria: Und in dieser Lade sollen sie sein?
Anselm: Ich habe Ihnen ja schon alles gesagt.
Maria versucht mit einem Schlüsselbund die Lade zu öffnen. Es ist dunkel geworden und Anselm dreht, damit sie sieht, die volle Zimmerbeleuchtung auf.
Maria hält ein: Lassen Sie mich mit ihm sprechen.
Anselm heftig: Nein! … Sie müssen etwas Heimliches tun. Fortkommen. Einen Entschluß müssen Sie fassen. Das ist kein Gedanke, Maria. Fassen: wie wenn Sie im wesenlosesten Dunkel Ihre herrliche Hand schließen würden und plötzlich darin etwas eines unerwarteten, wundervollen Körpers fühlten!
Maria: Das ist alles so unnatürlich. Sie unterbricht sich wieder. Selbst wenn Sie sagen würden, wir werden zusammenleben wie Mann und Frau: ich könnte mit Thomas sprechen. Aber so ist es nichts und doch etwas Fürchterliches … Können wir denn nicht bloß Freunde sein?
Anselm: Ich will ja nichts für mich! Als Knabe, verstehen Sie, als ahnungsloses Kind, empfing ich, sobald ich Sie sah, ein überall im ganzen Körper ausgebreitetes Glücksempfinden, vor dem ich mich durch nichts zu retten wußte. Um wieviel stärker ist das als bei einem Mann, wo es sich wie ein Abszeß lokalisiert und aufbricht!
Maria bewegt: Ich werde die Ahnung nicht los: all das soll bloß geschehn, weil Sie für irgend etwas Rache an ihm nehmen wollen …!
Anselm: Glauben Sie mir: ich bin nicht deshalb in sein Haus gekommen. Wenn jemals mich ein Mensch, noch so weit draußen, wie ein Leuchtfeuer Heimat träumen ließ, war er es. Wenn jemals ein Menschenantlitz aller Menschenantlitze Kraft in sich schloß … Aber Haß? Ja; vielleicht trotzdem Haß! Vielleicht deshalb Haß? Ich glaube manchmal, man darf Böses nur einem antun, den man liebt; sonst ist das Böse so schmutzig wie die Liebe, die ein Mann ins Bordell trägt!
Maria: Sie sollten nicht Liebe sagen, solange Sie Zorn, Schmutz und Böses mitfühlen müssen!
Anselm verzweifelt: Aber wie denn?? Wie soll ich es nennen?! Menschen brauchen! Wer ein Mensch ist, kann doch nicht nur so in seinem eignen Gedankennetz hängen wie Thomas! Muß gewinnen, geliebt werden, ermuntert! Aufschwingen gemeinsam! Das ist doch quälendes Bedürfnis?! Nicht allein sein, Maria!! Allein sein heißt: nicht wissen, wohin. In dem unerträglichen Wirrsal von Wahrheiten, Wünschen, Gefühlen! Haben Sie Mitleid mit jeder Täuschung, Bösem, Lüge, die dazu gedient haben, eine unbeschreibliche Angst zu beschwichtigen, die Sie nicht kennen.
Maria: Still! Oh, horchen Sie lieber; hat sie nicht wieder geschrien?
Anselm: Sie schreit ohne Unterlaß, aber man hört es bloß manchmal.
Maria: Aber man muß ihr helfen; warum helfen Sie ihr nicht?!
Anselm: Warum helfen Sie nicht? …
Maria: Wozu verleiten Sie mich? Sie sind ganz verändert! Sie ziehen mich auch schon hinein; ich habe ihm gesagt, daß Sie sein Freund sind.
Anselm: Ich erscheine mir manchmal wie ein Entsprungener, ohne Halt abwärts Gehetzter. Aber bedenken Sie nur, wieviel Leid es in jedem Augenblick in der Welt gibt; welchen Ozean von Leid und Ungewißheit, in dem wir alle mit dem Ertrinken kämpfen: sollte es darauf ankommen, ob man diese eine Sache roh oder sanft beendet? Es kommt nur darauf an, wie man sie ins Ganze stellt.
Maria: Und Sie meinen, daß Reginens Zustand nicht schlechter wird, wenn wir zu dritt reisen?
Anselm: Nein; die Mappe muß aus der Welt geschafft werden. Dann werden diese Übertriebenheiten einschlafen. Die Loslösung wird sich allmählich vollziehen; wie eine Aufrichtung, ich verspreche es Ihnen!
Maria: Horchen Sie! Schon wieder!
Anselm faßt wild ihre Hand: Sie fühlen ja auch, wie sie leidet! Wie sie sich festklammert; wie eine kleine Katze, die ertränkt werden soll! Sie gehen gemeinsam zum Fenster.
Maria: Regine wird sich noch etwas antun.
Anselm preßt ihre Hand: Glauben Sie?! Ah, ich verlasse sie! Und fühle ihr eingebildetes Recht auf mich, als flatterte ihr Herz nach einem Ausweg suchend in meinem. Sie horchen.
Maria: Was schreit sie?
Anselm: Johannes.
Maria: Diese Wahnidee.
Anselm: Es ist keine Wahnidee. Sie ruft mich. Alle rief sie Johannes. Es war ihre Ausrede. Oh, ihre von der Wahrheit gehetzte Aus-Flucht! Man scheint jetzt nichts mehr zu hören. Maria hat sich losgemacht und ist wieder zum Schreibtisch zurück gegangen. Sie hat ihn zum Selbstmord getrieben, das wissen Sie ja; weil er an sich verzweifelte: sie wollte ihn nur wie eine Schwester gern haben.
Maria wieder das Schloß versuchend: Regine wie eine Schwester lieben?! Glauben Sie das wirklich?
Anselm: Ja; damals war sie so. Und er war überaus empfindlich, er war viel zarter als Regine.
Maria: Ich denke, Regine war überhaupt nie zart; wie hätte sie sonst dieses Leben ertragen können, von dem Sie mir erzählt haben. Unwillig. Es paßt kein Schlüssel.
Anselm: Versuchen Sie diesen. Er reicht ihr einen von sich.
Maria: Nein, nein. Ich will nicht mehr.
Anselm nachdem er den Schlüssel vergeblich selbst angesetzt hat: Ich werde es mit dem Messer versuchen. Er öffnet sein Taschenmesser.
Maria: Lassen wir es lieber.
Anselm sie zur Seite schiebend: Nein; ich will! Er versucht das Schloß aufzusprengen.
Maria sucht ihn zu hindern: Lassen Sie es, ich will nicht mehr! Sie zuckt wie vor einem wilden Schrei zusammen. Schon wieder! … Sie horchen … Nein, das war eine Tür. Thomas? Schrecklich. Gehn Sie! Hören Sie: Schritte.
Anselm