Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3. Karl Michael Görlitz

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Название Sandburgen & Luftschlösser - Teil 3
Автор произведения Karl Michael Görlitz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783844231502



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Bloß nicht - es ist Weihnachten - zähl erst einmal bis zehn.

      Wir setzten uns wieder, um den Fischgang zu verzehren. Räucherware, Aal, Lachs, Stör und verstörte Forelle. Geräuchertes hält länger! Guter Witz und einfach weiterzählen. Schweigen und zählen. Ach nein, bei Elektra hieß das jetzt: schweigen und tanzen.

      Tätärätä - Tätärätä! Schweigen und tanzen, und so zähl ich vor euch hin. Täätää - Dreie und Viere - Rätärärä, Rätärätä und Fünfe und Sechse. Bei Sieben schrillte das Telefon im Flur und Rudi sprang förmlich erleichtert auf und eilte zum Hörer. Wahrscheinlich Herby zu später Stunde. Die Familie war längst durch, die Bekannten ebenfalls. Herby hatte darauf gedrungen, nach der Feier, zu welcher er geladen war, noch unbedingt ein alternatives Bier im Kreise Gleichgesinnter zur Brust nehmen zu wollen. Schließlich war man in Berlin, wo selbst Heiligabend schwer was los war und die Puppen tanzten.

      Ja, die Puppen tanzten bis in die Puppen. Ich hatte abgewehrt und dabei an mein stilles Glück daheim gedacht, aber trotzdem wollte Herby noch einmal durchbimmeln, bevor er loszog. Still war es ja, das Glück - nein eher murmelte es mehr im Flur. Ich nahm noch einen tiefen Schluck von dem sauren Champagner. Bääh. Offenbar war es der alte Hausfreund. Vertrautes Gelächter, das übliche Geplänkel, das sie miteinander pflegten. Satzfetzen drangen an mein Ohr. Anscheinend hatte Herby gerade angefragt, wie bei uns der festliche Abend verlaufen war, und Rudis Antwort lautete:

      »Wir versuchen gerade glücklich zu sein!«

      Wir versuchen gerade glücklich zu sein? Das ließ sich ändern und zack - hatte er die silberne Fischplatte auf dem Kopf, von welchem sie polternd zu Boden fiel. Nur der rosa Lachs war nicht mitgefallen, sondern krönte delikat seine Föhnfrisur. Rudi sah plötzlich sehr appetitanregend aus, mit der Petersilie hinterm Ohr.

      Ich schnappte mir den Hörer und verabredete mich mit dem Freund in Andreas Kneipe, während Rudi im Bad verschwand, um sich abzuschmücken. Würgegeräusche hinter der verschlossenen Tür zeigten an, dass er sich des Fisches auf zweierlei Weise entledigte. Dabei hatte ich doch lediglich nur seinen Kopf getroffen. Ach ja, bei sich reagierte der Bursche immer so äußerst sensibel, nur bei anderen haute er oftmals Sachen heraus, die an Peinlichkeit kaum zu übertreffen waren. Wie viele hatten sich anschließend schon bei mir beschwert, wenn mein Herzblatt sich im Ton vergriff. Wer so austeilt, muss auch einstecken können. Das war eine wichtige Lektion, an welcher auch meine Rosa zu knabbern hatte. Ich war es leid, immer nur Öl auf die erregte Menge zu gießen, damit die Wogen des Ärgers sich wieder glätteten.

      Wir versuchen gerade glücklich zu sein! Nun gut - Experiment gescheitert. Forellenquintett im Ohr, nur musikalisch ein Genuss.

      Im Taxi hatte ich schon den ersten Reueanfall. Verfluchter Jähzorn. Das hätte ich auch eleganter lösen können, nicht ganz so spontan, aber dafür nachhaltiger.

      Nun, es war passiert. Und ich war keine Jahresendflügelfigur, wie es neuerdings jenseits der Mauer hieß. Vielleicht war es wirklich besser, sich einen neuen Partner zu suchen, tatsächlich war ich schon auf dem Weg dahin. Nach Schöneberg, wo sich schöne Knaben laben. Leicht zu haben, doch schwer zu binden, ließ sich gerade heut was finden. Dichten beruhigt enorm, und der Poesie wohnt ein Zauber inne, die den Leu zum Kätzchen macht. Am Wittenberg stieg das Schmusekätzchen aus, warf einen flüchtigen Blick hinauf zur Arbeitsstätte, auf dem ein veritabler Tannenwald im Licht der Elektrokerzen schimmerte. Heiliges Blechle, was hatten die Menschen nur aus dem besinnlichen Fest gemacht. Weihnachten schrie es von allen Dächern, und über die breite Tauentzienstraße schwangen sich Spangen aus Licht mit barocken Motiven.

      An dem Wald über den Schaufenstern war ich nicht ganz unschuldig, da mir die bloße Reihung von Bäumen zu statisch erschienen war. An dem Großplakat über dem Haupteingang auch nicht, auch wenn es von unserem Dekomaler, der noch die aussterbende Kunst der Kinogroßplakate beherrschte, ausgeführt worden war. Ein nostalgischer Weihnachtsmann war darauf zu sehen, der von einer Oblate fürs Poesiealbum abgekupfert war und über drei Etagen in den Nachthimmel ragte, umrahmt von hunderten leuchtenden Glühbirnen.

      Eigentlich hatte ich vorgeschlagen, das gesamte Haus als Weihnachtspaket mit einem riesigen Geschenkband zu umwickeln und mit einer gigantischen Schleife über dem Portal zu krönen. Aber leider war das von meinem Boss abgeschmettert worden, mit den freundlichen Worten: »Nee, Görlitz, du bist bekloppt!«

      Als im nächsten Jahr ein Pariser Kaufhaus mit derselben Idee Furore machte, grinste er nur und erklärte mir: »Aber bekloppt bist du trotzdem!«

      So war mir nur der klassische Weihnachtsmann verblieben, der fortan in allerlei Variationen von gestern durch die Werbung geisterte.

      Der Hauptgeschäftsführer, ein gewisser Herr Seemann, hatte die Dekorateure angewiesen, die Schaufenster zu schmücken als hätte Fortuna ihr Füllhorn hinter die Scheiben gegossen. Zum großen Ärger von Butterbeck, der stets die Ansicht vertrat, dass weniger mehr sei. Der Erguss war nun zu besichtigen, neuerdings auch noch mit nostalgischer Komponente. Museales Spielzeug, Tröten und alte Knacker, Prunkschlitten von Gestern und Püppis in Gründerzeitstuben. Ein halbes Museum war zu bewundern. Selbst wer Fortuna nur als Sportverein kannte, blieb stehen, um den schön arrangierten Kram aus Alt und Neu anzuschauen. Nur heute nicht, die Straßen waren wie leergefegt um die heilige Mitternacht, die gerade geschlagen hatte. Ein eisiger Wind pfiff um die Ecke und drehte sich in Spiralen um die dürftige Bedürfnisanstalt am Wittenbergplatz. Eine leere Einkaufstüte kreiste träge, bevor sie niedersank. aDeWe - einkostabteilung war darauf zu lesen.

      Wider Willen musste ich grinsen. Einkostabteilung – das klang ein bisschen nach dem Eintänzer aus der Fischbratküche, und tatsächlich war das neue Design unter meinen Augen entstanden.

      Auch der Platz lag völlig verwaist. Selbst am Lokushäuschen, in welchem so gern spezielle Bedürfnisse gestillt wurden, lauerte niemand. Tote Hose allüberall. Ganz tot? Nein, im Hintergrund schimmerten die Lichter der kleinen (gallischen?) Kneipe, die tapfer gegen die vorgeschriebene Besinnlichkeit ansang, wie eine rettende Insel im leeren Lichtermeer. Nichts wie hin!

      Schon beim Näherkommen sah ich, dass es nicht allzu voll sein konnte, im winterfesten Vorbau saß eine einsame Gestalt, die Feier fand wohl eher am Tresen statt, wo Herby auf mich wartete. Wie verabredet. Leider war er noch nicht gekommen, wie unschwer festzustellen war, nachdem die Tür hinter mir zugefallen und der schwere Filzvorhang gegen Zugluft überwunden war. Eigentlich war so gut wie niemand gekommen, die Kneipe war fast leer. Ach du Schreck! Sollten das etwa die feiernden Massen sein, von denen der Freund geschwärmt hatte? Seine Worte klingelten noch im Öhrchen: »Mike, wie in Paris! Überschäumende Lebensfreude garantiert! Sekt in Strömen!«

      Zwei Hocker weiter saß eine alte Schabracke im abgetragenen Nerzmantel und quirlte gelangweilt die Kohlensäure aus der Hausmarke. Je mehr Blubberbläschen dem schlanken Sektkelch entwischen, desto trübsinniger wurde ihre Miene. An ihrer Linken baumelte die unvermeidliche Herrenhandtasche für gediegene Semester.

      Ich schaute genauer hin. Ach so, das war gar keine Frau. Ach ja, das konnte man heutzutage manchmal nicht so direkt sehen. Mir fiel ein, wie Mutter und ich mit schulterlangem Blondhaar im Zigarettenladen von einem galanten älteren Herren vorgelassen wurden.

      »Bedienen Sie doch erst die beiden Damen, ich hab es nicht so eilig.«

      Mutter hatte gekräht vor Lachen, und der hochverlegene Herr hatte sich entschuldigt. Was sie wohl heute am Festtag machte, allein mit ihrem Liebsten? Bruder Peter, so war zu hören gewesen, war ebenfalls nicht zu den Feiertagen erschienen, denn in seiner Ehe kriselte es bereits. Anscheinend wurde es seiner Gattin lästig, zusätzlich zum anstrengenden Dienst im Kreiskrankenhaus, noch die gesamte Menagerie, einschließlich Bruder zu versorgen. Na, das passte ja mal wieder. Flotte Sprüche von alternativer Lebensweise und zu Hause keinen Finger krumm machen. Schwierig, einen Junggesellen über Dreißig, bei welchem die Gewohnheiten schon stark eingeleiert sind, noch umzuerziehen.

      Ach ja, hoffentlich erscheint Herby bald, der Trübsinn hier ist förmlich greifbar. Der Nerz neben mir starrte mit verhangenem Blick auf die fünf weiteren Gäste am anderen Ende der Bar, die ebenfalls das Verfallsdatum weit überschritten haben mussten. Mich nahm er nicht einmal zur Kenntnis, und ich verspürte