Название | Joseph |
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Автор произведения | Johannes Wierz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738004991 |
„Ich habe schwere Sünde getan“, antwortet ihm der Junge und neigt seinen Kopf verschämt zu Boden, „mein Vater hat meinen Bruder, den Johann, fast zu Tode geprügelt, und ich habe dabei große Freude empfunden.“
Der Johann ist dem Pfarrer ohnehin ein Dorn im Auge. Ein Halbstarker ohne Manieren, Anstand und Moral. Sicher, auch er ist einmal Messdiener gewesen und dem Martin nicht unähnlich. Aber jetzt raucht und trinkt er in aller Öffentlichkeit, zieht alles in den Schmutz und verbreitet mit seinem alten Wehrmachtmotorrad im Ort nur einen Lärm, der unerträglich ist.
„Ist schon gut“, murmelt der Pfarrer und zieht den Kopf des Jungen an seinen Schoß. So verharren beide, der eine in heiliger Andacht, der andere in sündiger Wollust.
Elisabeth kann vom Bock des Schlittens schon die ersten Dächer des Dorfes erblicken. Der gefährlichste Teil des Weges liegt hinter ihnen. Gundi hat das Bündel mit dem Kleinkind auf ihren Schoß genommen. Und so schaut der Junge zum ersten Mal auf das karge Bergdorf, das eingebettet zwischen den Bergen liegt. Es scheint ihm zu gefallen, denn ein vergnügtes Lächeln überzieht sein unförmiges kleines Gesicht.
Dem kleinen Martin hingegen steht Schweiß auf der Stirn. Sein Kopf ist purpurrot und glüht, so müht er sich ab mit dem rauen Hanfseil, an dem er sich mit beiden Händen festklammert, um die große Glocke, die zwanzig Meter über ihm hängt, in Schwingung zu bringen. Der Pfarrer steht unterdessen am Sakristeibecken und wäscht sich zum wiederholten Mal die Hände. So voller Sünde, wie er ist, ist an ein Gebet nicht zu denken.
Im Gemeindeamt, wo die Familie Ganser das obere Stockwerk bewohnt, machen sich alle, bis auf die Großmutter, die seit Jahren ans Bett gefesselt ist, für die Heilige Messe fertig. Zu siebt bewohnen sie drei Zimmer und demgemäß herrscht ein unruhiges Treiben auf dem Flur. Immer wieder wird nach der Mutter gerufen, deren Aufgabe es ist, die Familie im guten Glanz erscheinen zu lassen. Allen Familien im Dorf geht es so, denn fast jede fühlt sich wegen der Nacht des 17. Februars verpflichtet, der Taufe beizuwohnen. Auch die Väter haben neben Dr. Holzer einen kleinen Brief bekommen. Geschrieben auf einer alten Schreibmaschine mit blassen unsauberen und hüpfenden Buchstaben. Auch in ihren Exemplaren war eine Schwarzweißfotografie des ältesten Zöglings beigelegt, wie er sich an der Huftreterin vergeht. Naturgemäß haben sie die unschöne Sache für sich behalten. Die Bestrafung des ältesten Nichtsnutzes erfolgte meist ohne Worte und wurde von den Delinquenten ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem inneren Grinsen entgegengenommen.
Als hätten sie sich verabredet, verlassen die Familien des Ortes gleichzeitig ihre Häuser und betreten die Straße. Die Männer heben ihre Hüte, die Frauen nicken einander zu, und die Kinder ziehen hinter den Rücken der Erwachsenen Grimassen. So strömen die Menschen aus allen Richtungen zusammen und begeben sich zur alten Wehrkirche, die seit ewigen Zeiten über sie wacht.
Drei weitere Kinder sind mittlerweile in der Sakristei eingetroffen und helfen dem Pfarrer unter Anleitung des kleinen Martin in sein Messgewand. Aus der Kirche dringt Orgelmusik zu ihnen herein. Der Dorfschullehrer versucht, sich warm zu spielen, was äußerst schwierig ist. Obwohl seine Hände bis zu den Fingerkuppen in dicken Handschuhen stecken, sind sie steif vor Kälte. Er versucht an etwas Schönes zu denken, aber immer wieder taucht vor seinen stark bebrillten trüben Augen diese unsägliche Schwarzweißfotografie des einzigen Sohnes auf. Hat er dafür am Salzburger Konservatorium Musik studiert, um dann hier zu enden? Sein ganzes Leben stößt ihm auf, als hätte er einen ganzen Korb gegorenes Obst gegessen. Fugenlos müsste man sein, denkt er und spielt seinen hassgeliebten Bach. Zumindest versucht er es auf der rostigen verstimmten Orgel.
Im Schritttempo fährt Dr. Holzer mit seinem Wagen an den Dorfbewohnern vorbei. Seinen unsäglichen Sohn Barnabas hat er schon einen Tag zuvor zu seinem Bruder in die Stadt gefahren. Hinten auf der Rückbank liegen drei weiße Lilien, die ihn um diese Jahreszeit ein kleines Vermögen gekostet haben. Sie sind für seine Frau bestimmt, die vor mehr als fünf Jahren unterhalb der alten Wehrkirche auf dem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden hat. Vor einem großen Schneehaufen bringt er den Wagen zum Stehen. Er zündet sich eine Zigarette an und geht noch einmal, wie in den letzten schlaflosen Nächten auch, den Tag durch. Sein Plan scheint nicht nur perfekt, er ist es auch. So steigt er zufrieden aus dem Auto, öffnet den Kofferraum und schaut auf sein Taufgeschenk, einen Kinderwagen, der in dieser Luxusausführung nur in der Stadt zu bekommen ist. Letzte Nacht hat er die Kugellager der Räder mit Waffenöl geschmiert und die Gummireifen angeraut. Er schließt den Wagendeckel und geht mit den weißen, in Zeitung eingeschlagenen Lilien zum Grab seiner Frau. Ohne den Schnee wegzuwischen, entfernt er das Papier und legt die Blumen ab. Da hört er ein Klirren und Knarren, gemischt mit dem Geschnaufe eines alten Kleppers, das sich langsam aber stetig dem Friedhof nähert.
Elisabeth springt vom Bock und ist erleichtert, dass außer dem Wagen des Landarztes noch niemand aus der Dorfgemeinschaft die alte Wehrkirche erreicht hat. Vorsichtig nimmt die Gundi das Bündel mit dem Säugling vom Schlitten. Immerhin ist sie die Taufpatin, auch wenn sie nicht genau weiß, was das ist.
Eine steile holzüberdachte Stiege führt hinauf zur Kirche. Die erste Stufe ist noch nicht genommen, da fängt das Baby aus voller Brust an zu schreien. Purpurrot läuft es an, als ob es irgendetwas verschluckt hätte. Mit großen Augen und offenem Mund ringt es nach Luft. Entsetzen steht in dem eben noch so ruhigen Gesicht geschrieben. Vor Schreck hätte die Gundi das Bündel fast fallengelassen, aber die starken Hände des Landarztes übernehmen den Täufling sicher.
Keine fünf Monate gibt Dr. Holzer dem Kleinen. Neben den Schädeldeformierungen und der Diabetes ist mittlerweile wohl auch ein Asthmaleiden hinzugekommen. Ganz abgesehen vom angeborenen Herzfehler des Kleinen. Obwohl das Kind wie der Teufel schreit, ist sein Puls so schwach, dass er ihn kaum fühlen kann. Elisabeth übernimmt den angenommenen Sohn als drittes, aber auch das bringt keine Veränderung. Im Gegenteil, das Baby mobilisiert alle seine Reserven, um noch lauter schreien zu können. Es scheint, als hätte es vor irgendetwas unerklärliche Angst.
Während zwei der Ministranten die Silberschiffchen mit Weihrauch füllen, legt Martin mit dem dritten Jungen glühende Holzkohle in die beiden Weihrauchkessel. Er muss sich beeilen, denn im Tabernakel des barocken kleinen Hochaltars müssen die Hostien noch aufgefüllt werden. Ein kräftiges Kindergeschrei versucht im Kircheninneren, mit der Orgel in Konkurrenz zu treten. Was letztendlich auch gelingt. Entnervt nimmt der Dorfschullehrer seine schwere Brille von der Nase und reibt sich seine triefenden Augen. Jetzt gehört die Akustik ganz allein dem Kleinkind. Und so brüllt es weiter, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihm her.
Martin hebt den Ministrantenrock und huscht aus der Sakristei. Im Seitenschiff, direkt am Taufbecken, sitzt Elisabeth Huftreter mit der Gundi, die ein Bündel auf dem Schoß hält. Neben ihnen Dr. Holzer, der Landarzt. Mit so einem schreienden Kleinkind kann der Pfarrer unmöglich die Heilige Messe eröffnen, denkt Martin und stellt seinen Auftrag hinten an. Schnellen Schrittes begibt er sich in Richtung Taufbecken. Und so steht der kleine Martin, in seinen Händen die goldene Schatulle mit den Hostien, das erste Mal vor dem Neugeborenen. Ein Sonnenstrahl bricht durch eines der bleiverglasten Kirchenfenster, erleuchtet den Evangelisten Johannes, trifft das runde goldene Etui und lenkt das kegelförmige Licht auf das gespenstische Antlitz des Täuflings. Vollkommen entrückt schaut der kleine Martin in das Gesicht des Babies. So nah ist er noch nie jemanden gewesen. Obwohl es bitter kalt ist in der alten Wehrkirche, durchflutet den Ministranten eine ungeheure Wärme. Mit einem Mal ist er nicht mehr zehn Jahre alt, sondern glaubt, das Universum zu begreifen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat ihn so jemand wie der in Decken eingewickelte Kleine, angelächelt. Das Baby hat beim ersten Sonnenstrahl, der auf seine Nase zielt, aufgehört zu schreien. Es hat einen Verbündeten auf dieser ihm noch fremden Welt, das spürt es, während es den Messdiener studiert.
Nach dieser Begegnung betritt Martin als anderer Mensch die Sakristei und fängt von dem ehrwürdigen Pfarrer von Tamm eine Backpfeife, die sich gewaschen hat. Er selbst wird sich diese Reaktion bis zu seinem Tod nicht erklären können. Aber das Gefühl, den so sehr geliebten Jungen in diesem Moment für immer verloren zu haben, hat ihn bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.
„Und so taufe ich Dich im Namen des Herrn auf die Namen Joseph Nepomuk Baptist Huftreter“,