Joseph. Johannes Wierz

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Название Joseph
Автор произведения Johannes Wierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738004991



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      Ein Auto rollt hinter dem Gasthof auf den mit Kieselsteinen aufgeschütteten Platz, wo im Sommer die Tische und Stühle stehen und die kleine Kirchweih abgehalten wird. Es ist der Wagen des Landarztes, dafür reicht dem Kirchenwirt, der gerade drei Halbe zapft, ein flüchtiger Blick aus dem kleinen Fenster.

      „Grüß Gott“, sagt Dr. Julius Holzer, als er die Gaststube betritt und seinen Mantel abklopft.

      „Ist jemand gestorben?“, will einer der Waldarbeiter wissen.

      „Na, ich war droben auf’m Huftreter Hof. Die Elisabeth hat a Kind entbunden!“

      Erschrocken lassen Dorflehrer, Förster und der Gemeindebedienstete ihr angelaufenes Besteck fallen. Aus ihren offenen Mündern tropft der Saft des eingelegten Wurzelgemüses.

      Der Landarzt geht schnurstracks auf die Doppeltür zu, betritt den leeren kleinen Saal und setzt sich nach hinten an den grünen Kachelofen.

      „Soll ich einheizen?“ fragt der Kirchenwirt und reicht ihm die vergilbte Speisekarte.

      „Wir müssen reden!“

      „Reden ist immer gut.“

      „Aber erst einmal wird gegessen.“

      Genüsslich lässt sich Dr. Holzer den Rostbraten, der nicht frisch, sondern aufgewärmt ist, schmecken. Kochen kann die Kirchenwirtin, das muss man ihr neidlos lassen. Ich werde dafür sorgen, dass sie das Gasthaus weiter betreiben kann. Sie ist jung, gut gebaut und wird bestimmt leicht einen neuen Mann finden.

      Er hört, wie der Kirchenwirt den großen Schlüssel im Schloss umdreht. Endlich allein. Der Landarzt legt das Besteck beiseite und zündet sich eine Zigarette an.

      „Wie ich sehe, hat es ihnen geschmeckt.“

      „Ihre Frau ist wirklich eine begnadete Köchin.“

      „Werd’s ihr ausrichten, wenn sie aus der Stadt zurück ist.“

      Wir sind also allein, denkt der Medizinalrat und überlegt, ob er die Gunst der Stunde nicht nutzen soll. Aber was, zu viele Menschen haben ihn gesehen, können vor Gericht bezeugen, dass er der letzte gewesen ist, der den Kirchenwirt lebendig gesehen hat.

      „Die Anträge für die Poststation müssen schon unterwegs sein.“

      „Nichts für ungut.“

      „Eine Frage tät mich schon interessieren, wie haben Sie die Bilder so schnell entwickeln können?“

      „Ja“, lacht der Kirchenwirt, „das ist wirklich kein Geheimnis. Ich hab’ drunten im Keller eine Dunkelkammer.“

      Dr. Julius Holzer versucht sein Erstaunen dadurch zu überspielen, indem er aufsteht und seine stattliche Erscheinung präsentiert. Dabei passiert ihm ein Missgeschick. Er bleibt mit seinem Gehrock aus englischem Tuch so an der Tischkante hängen, dass ein silberner Knopf abreißt und zu Boden fällt. Im Gegensatz zur Gaststube sind hier im Saal die Holzplanken lackiert. So kommt der Knopf augenblicklich ins Rollen und kullert in Richtung Kirchenwirt, der im Rahmen der Doppeltür steht. Interessiert folgt Dr. Holzers Blick dem kleinen silbernen Knopf.

      „Kommen Sie, kommen Sie, ich zeige ihnen das Labor!“

      In dem Moment rollt er durch die Beine des Kirchenwirtes und bleibt im Gastraum zwischen zwei Planken hängen. Ehe der Medizinalrat den Saal durchschritten hat, öffnet der Wirt die Klappe zum Keller. Stufe um Stufe springt der Knopf nach unten in das feuchte Loch.

      Moder- und Schimmelgeruch schießt den beiden in die Nase, als sie nach unten in den dunklen Keller steigen. Auf halber Höhe betätigt der Kirchenwirt den Drehschalter für das Licht.

      „Vor vier Jahren kam dieser Gast aus der Stadt, ein begnadeter Fotograf müssen Sie wissen, und fragte mich, ob er im Keller nicht ein Labor einrichten könnte. Er hat die Miete dafür auf zehn Jahre im Voraus bezahlt. Wirklich ein angenehmer ruhiger Gast.“

      Es geht über einen harten Lehmboden, aus dem ab und an eine Steinspitze herauslugt. Holzkästen mit leeren verstaubten Flaschen stehen an der Seite und eingerahmt zwischen zwei Fässern ist eine Tür, die der Kirchenwirt jetzt aufschließt, um das Fotolabor zu präsentieren.

      „Auf seinen Wunsch und seine Kosten habe ich zusätzlich Strom- und einen Wasseranschluss installieren lassen.“

      Und wirklich, das Labor ist mit allem ausgestattet, um Filme zu entwickeln und Fotografien zu vergrößern.

      „Ich bin ihm des Öfteren zur Hand gegangen. Wenn man weiß, wie es geht, ist es ein Kinderspiel.“

      Auf dem Rückweg findet der Landarzt auf dem Boden neben einer einzementierten Eisenstange, die die gestapelten Fässer vor dem Wegrollen hindert, den abgerissenen silbernen Knopf.

      „Muss ihn mir wohl oben im Saal beim Aufstehen abgerissen haben.“

      „Was glauben’s, was sich hier unten a Geld ansammelt, wenn oben im Saal Tanz ist.“

      Die beiden steigen die ausgetretene steile Holztreppe wieder nach oben.

      „Der Saal liegt fast einen halben Meter höher als der Schankraum, aber durch die lang gezogene Schräge merkt das kaum jemand.“

      Längst hat Dr. Julius Holzer seinen Plan ausgefeilt. Er wird heute noch in die Stadt fahren, um einen Kinderwagen zu kaufen.

      Als auf dem Huftreter-Anwesen Elisabeth nach oben geht und die Kammer betritt, hält Gundi den schreienden Kleinen fest an ihre Brust gedrückt und lacht glücklich. Der Säugling dreht seinen Kopf zur Seite und schaut die Tante, die vor ein paar Stunden auf dem Papier seine Mutter geworden ist, mit großen Augen an. Er hört abrupt auf zu schreien. Elisabeth glaubt, in seinem Blick ein stilles Einverständnis zu entdecken.

      Die Villa am See

      David Engel hörte, wie hinter ihm der Dieselmotor startete und der Wagen sich Richtung Hauptstraße entfernte. Gerade eben hatte er dem Taxifahrer zu einem weiteren lukrativen Geschäft verholfen. Geradeheraus hatte er den Fahrer gefragt, ob er ihm den Glücksbringer, der am Rückspiegel an einem Samtband hing, nicht verkaufen wollte. David konnte sich selbst nicht genau erklären, warum er diesen Knochen unbedingt besitzen musste. Er hatte direkt eine hohe Summe geboten, um ein lästiges Feilschen von vornherein auszuschließen. Der Taxler hielt seinen sonderbaren Fahrgast nicht für einen Idioten. Für einen dieser Neureichen oder deren Nachkommen, die sich seit den zwanziger Jahren von den mit allen Wassern gewaschenen Bauern der Umgebung das Geld aus der Tasche ziehen ließen. Arme Tröpfe. Jahrhundertealte, wertlose, feuchte Wiesen waren über Nacht plötzlich ein Vermögen wert gewesen. Selbst sein Schwager, der jetzt in der Stadt wohnte, hatte erheblich davon profitiert.

      Für heute würde er Schluss machen. Sein Auftrag war erfüllt. Er wäre froh, wenn er seinem Schwager den Wagen schon wieder heil zurückgebracht hätte.

      Die lederne Reisetasche geschultert, betrat David Engel das parkähnliche Gelände. Er folgte nicht dem breiten Kiesweg, der direkt an der Villa am See endete, sondern ging in entgegengesetzter Richtung über die Wiese auf die am Hang stehende Baumlichtung zu. Sein Ziel war eine alte Holzbank, von der aus man eine gute Sicht über das ganze Gelände, die Villa und den See hatte. Schon als Kind war diese Stelle sein Lieblingsplatz gewesen.

      Nach einer guten Viertelstunde setzte David sich auf den jahrelang der Witterung ausgesetzten halben Baumstamm und genoss für einen Moment die Aussicht. Ein schönes Gefühl überkam ihn, immer wieder feststellen zu dürfen, dass es Orte gab, die sich scheinbar nicht veränderten. Drei Wochen eintauchen in eine unbeschwerte Kindheit. Der Seele einen Ruck geben und sich weit hinaus auf den dunkelblauen Bergsee treiben lassen. Sich dem barocken Wolkenspiel hingebungsvoll überlassen. Das war genau das, was er jetzt brauchte.

      Voll neugieriger Erwartung holte er aus seinem abgenutzten weißen Jackett den Talisman und begann mit seinen Untersuchungen. Die beiden Einfassungen aus Silber waren mit Stahlstichen verziert. Auf dem oberen Ende waren einzelne Punkte eingraviert, auf dem unteren ein Adler. Wenn