Joseph. Johannes Wierz

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Название Joseph
Автор произведения Johannes Wierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738004991



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Sie sind wein- und bierselig und erzählen sich, wie bei jedem anderen Dorffest auch, dieselben Geschichten. Erst als der kleine Martin mit blutender Nase beginnt, ohrenbetäubend zu schreien, unterbrechen sie ihr Ritual und registrieren mit großen dumpfen Augen, dass irgendetwas passiert sein muss. Die kleine Aushilfe aus dem Nachbardorf hat den Mund offen und mit ihm auch den Zapfhahn, aus dem das umgekommene schale Bier auf den bereits völlig verklebten Tresenboden plätschert, denn soeben ist ihr Chef zusammen mit Kinderwagen und Täufling im dunklen Kellerloch verschwunden.

      Schutzengel

      Zwei feine rote Rinnsale aus Mund und Nase laufen über das erstarrte Gesicht des Kirchenwirtes und treffen sich in einer beachtlichen Blutlache unterhalb des rechten Ohres.

      Er muss auf der Stelle tot gewesen sein, denkt der Landarzt und schließt mit zwei Fingern die Augen des Verstorbenen.

      „Ein Wunder, ein Wunder“, schluchzt Elisabeth vor Freude und hebt den kleinen Joseph aus dem völlig demolierten Kinderwagen neben der Leiche. Verwundert schaut das Baby seine Ziehmutter im spärlichen Kellerlicht an. Hinter den Holzkisten mit den verschimmelten Weinflaschen fiepen ein paar Ratten. Ansonsten ist es still in dem feuchten, muffigen Keller der Dorfwirtschaft. Selbst das alte Kühlaggregat neben den Bierfässern hat mit einem letzten lauten Seufzer aufgehört zu rattern.

      „Bring ihn nach oben, dort werde ich mir mein Patenkind mal genauer ansehen“, sagt der Landarzt zu Elisabeth und macht dem Dorfgendarmen Platz, der mit seiner kleinen Batterielampe den Tatort ableuchtet.

      „Dass hier nichts angerührt oder verändert wird bis die Kollegen da sind“, brüllt er nach oben und ärgert sich, dass er wegen so einer dummen Sache die ganze Nacht wird aufbleiben müssen. Bis die Beamten von der Bezirkskommandantur an einem Sonntag hier sein werden, wird es Montag sein, dessen ist er sich sicher. Und nüchtern muss ich auch bleiben, denkt er sich, und das ist das allerschlimmste. Zur Überprüfung seiner Alkoholfahne haucht er in die freie Hand. Aber hier unten riecht sowieso alles nach schalem Bier und Wein.

      Oben zwischen Gaststube und kleinem Saal steht der kleine Martin an der umgeschlagenen Holzklappe und schaut hinunter in das düstere Loch. Seine Hose weist einen kreisrunden dunklen Fleck auf, und aus dem einen Hosenbein tropft es stetig. Um ihn herum steht der Rest der Festgesellschaft, die mehr als angetrunken ist.

      „So schnell kann’s gehen“, sagt jemand, und die anderen nicken leicht fröstelnd dem zu. Die Aushilfsbedienung aus der Nachbargemeinde geht mit einem Tablett mit Stamperln herum, die bis zum Rand mit selbstgebranntem Obstler gefüllt sind. Gierig wird nach den Gläsern gegriffen. Nur der Bestatter sitzt am Tresen und brüllt unaufhörlich nach einer neuen Halben. In der Küche sitzt die Ehefrau des Kirchenwirtes und starrt auf den Schweineeimer, in dem zwei angefaulte Äpfel auf einer braun-grünlichen Oberfläche schwimmen, die mit Fettaugen durchsetzt ist. Ein Schluchzen kann sie nicht herausbringen, denn sie weiß so gar nicht, was jetzt werden wird. Nur die Gundi sitzt als einzige immer noch im kleinen Saal am oberen Ende des Hufeisens und umarmt fest die große Taufkerze, als gälte es, diese am sorgsamsten zu beschützen.

      Ein Raunen geht durch die Gästeschar, als Elisabeth mit dem putzmunteren Täufling aus den Tiefen des Kellers wieder an die Oberfläche tritt. Martins Gesicht erhellt sich, und er will schon seine Arme nach ihm ausstrecken, da packt ihn der Vater von hinten an seinen Ohren und zieht ihn mit aller Kraft vom düsteren Kellerloch weg. Ein hoher lang anhaltender Falsett-Ton ist die Reaktion auf den fürchterlichen Schmerz, den der kleine Martin jetzt in seinem Kopf verspürt. Er ist sich sicher, dass sein Vater ihm jeden Moment die Ohren von seinem Kopf abreißen wird. Er versucht sich möglichst leicht zu machen, stellt sich auf die Zehenspitzen, aber nichts nutzt. Im Gegenteil, neben dem fürchterlichen Schmerz gesellt sich nun auch noch ein Pfeifen dazu, das unerträglich ist. Die Tür ist erreicht. Ein eiskalter Wind schlägt dem kleinen Martin ins Gesicht, dass er glaubt, seine feuchten Augen würden zu Eis erstarren, um dann in tausend Einzelteile zu zerspringen. Zum Glück lässt ihn der Vater draußen in der klirrenden Abendluft endlich los und stößt ihn mit aller Kraft in den Schnee. Seine heißen Ohren brennen höllisch, vor allem da, wo sie angerissen sind und das Blut rinnt. Aber all das ist eine Erholung gegen das, was ihm sein Vater wutentbrannt an den Kopf wirft.

      „Mörder, Mörder“, schreit er und tritt ihn wie einen ungehorsamen Hofhund. Zum Glück geht der Pfarrer, den man wegen des Toten geholt hat, dazwischen. Er nimmt das blutende, misshandelte Kind in seine Arme und trägt es durch den Schnee hinüber ins Pfarrhaus, das er allein bewohnt. Dort legt er den Jungen erst einmal auf den Diwan in seinem Arbeitszimmer, deckt ihn mit dem wollenden Überwurf des Sofas zu und macht sich wieder auf ins Wirtshaus, um den Vater zur Rede zu stellen. Aber der Gemeindebedienstete Ganser ist mit dem Rest seiner Familie längst nach Hause gegangen.

      „Wir müssen eine Totenwache organisieren“, sagt der Landarzt Dr. Holzer zum Gendarmen, „hier unten wimmelt es nur so vor Ratten.“

      „Wird schwer sein, ein paar Freiwillige zu finden.“

      „Frag’ die von der Feuerwehr und sag ihnen, ich spendier’ ein Fass Bier.“

      „So könnt’s gehen“.

      Der Dorfgendarm ist erleichtert, muss er die Nacht nicht allein an diesem grauseligen Ort verbringen. Zwei Halbe auf die Stunde verteilt wird er sich schon genehmigen können. Wenn die Beamten aus der Bezirkskommandantur kommen, wird ein starker Kaffee ausreichen, um die Sache hier abzugeben und endlich nach Hause gehen zu können.

      Als die beiden aus dem düsteren Kellerloch wieder nach oben steigen, ist die Wirtschaft bis auf ein paar wenige Gäste leer. Der Pfarrer sitzt mit dem völlig angetrunkenen Schäfer Josef an einem Tisch.

      „Kann ich nach unten?“ fragt der Geistliche, „ich würd’ ihm gern den Segen unseres allmächtigen und gütigen Herrn geben.“

      „Den braucht er jetzt nimmer“, lallt der Schreiner und Bestatter des Dorfes pietätlos und verfällt daraufhin in einen jämmerlichen Hustenanfall, der seinen Höhepunkt in einem rosig-schleimigen Auswurf findet, den er treffsicher auf die Mitte des Tischtuchs platziert.

      Unterdessen packt Elisabeth den kleinen Joseph in das warme Bündel. Es ist spät geworden, und draußen wartet auf sie eine vollkommene Finsternis, die beim Aufstieg auf den Berg gefährlich werden kann.

      Zur selben Zeit macht sich der Wanderer auf, vom Kamm hinunter ins Dorf zu kommen. Sein Ziel ist der Kirchenwirt, der wird ihm Auskunft geben können, was der Maria Magdalena Schreckliches widerfahren ist. In Anbetracht der Dunkelheit und der schlechten Witterung wählt er die große Serpentine und nicht den steilen Abstieg direkt durch den Wald.

      Niemand verabschiedet sich von Elisabeth, der Gundi und dem kleinen Joseph, als sie das Gasthaus verlassen und den Pferdeschlitten besteigen. Die zugeschneite Dorfstraße ist menschenleer, aber dennoch spürt die Elisabeth die Blicke hinter den mit Eisrosen bedeckten dünnen Glasscheiben. Der tragische Tod des Kirchenwirts wird immer mit der Taufe ihres Josephs in Verbindung bleiben. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hat, überkommt Elisabeth eine Ahnung. Sie übergibt der Gundi die Zügel und nimmt das dicke wollende Bündel fest in ihre Arme.

      „So lang i leb, pass i auf di auf“, flüstert sie dem Kleinen zärtlich zu und drückt ihr Gesicht fest an das seine.

      Nachdem der Landarzt Dr. Holzer der Kirchenwirtin eine Beruhigungsspritze gegeben hat, packt er seine Instrumente in den großen Koffer und wäscht sich unten in der Küche, der einzigen Stelle, wo es warmes Wasser gibt, die Hände.

      „Könnten Sie nicht noch nach dem Jungen schauen?“ fragt besorgt der ehrwürdige Pfarrer von Tamm besorgt, der dem Landarzt in die Küche gefolgt ist.

      „Aber wo. Eine Tracht Prügel hat noch niemanden geschadet. Sie werden sehen, morgen hat er die ganze Sache vergessen.“

      „Vergessen, vergessen“, murmelt der Pfarrer und fuchtelt hilflos mit seinen Armen, „diese Schuld wird er ein Leben mit sich herumtragen.“

      „Das mit der Seele ist nun mal Ihr Geschäft! Nichts für ungut. Auf mich warten morgen in der Früh