Joseph. Johannes Wierz

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Название Joseph
Автор произведения Johannes Wierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738004991



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ist der Kirchenwirt im Lederohrensessel gelümmelt, dem Lieblingsplatz des Medizinalrates, was unter anderen Umständen seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Naturgemäß hat Dr. Holzer für einen kurzen Moment daran gedacht, den Waffenschrank zu öffnen und dieser schamlos aufdringlichen Person den Garaus zu machen. Der Jagdhund ist unschlüssig mitten im Raum gestanden und hat nur auf ein Zeichen gewartet, um sich um die Beute zu kümmern. Die Beweise sind aber leider eindeutig. Sein Sohn hat die Huftreterin vergewaltigt. Dr. Holzer ist sofort klar: Ohne die Negative würde er sich für immer in der Hand dieses kleinen, miesen Schankwirtes befinden.

      Ein unheimliches Schweigen ist über dem Raum gelegen. Die Tierpräparationen aller Größen und Klassen an den Wänden haben im spärlichen Licht der ovalen Schreibtischlampe plötzlich gespenstisch gewirkt. Der Kirchenwirt hat sich umgeschaut und beim Blick in große funkelnde Augen und aufgerissene Schnauzen mit messerscharfen Zähnen plötzlich die Courage verloren. Schweißperlen haben sich auf seiner Stirn gebildet, und er hat gespürt, wie ein kleines warmes Rinnsal seinen Rücken herunter zu laufen begann.

      „Ich werde die Tage mit dem Landratsamt sprechen“, hat Dr. Holzer sich sagen gehört, wobei ihm seine eigene Stimme plötzlich ungemein leise, fast heiser, vorgekommen ist. Trotzdem stellt er die Bedingungen.

      „Aber ins Geschäft kommen wir nur mit den Negativen.“

      „Ehrensache, Herr Landtagsabgeordneter“, hat der Kirchenwirt gesäuselt. Devot wie immer. Angesichts seines vermeintlichen Sieges über Dr. Holzer ist er dann vertraulich geworden und näher an ihn herangerückt. „Oder darf man noch nicht gratulieren?“

      Du nicht, du Hund, hat Dr. Julius Holzer gedacht, der schlagartig wieder der Alte wurde. Ohne es zu wissen, hat der Kirchenwirt mit seiner Geschwätzigkeit sein eigenes Schicksal besiegelt.

      Selbstzufrieden ist der Erpresser den Heimweg angetreten, wobei er in Trippelschritten einen großen Bogen um den Jagdhund gemacht hat. Keine hundert Meter vom Anwesen entfernt, hat er den Landarzt dann durch die doppelt verglasten Fenster des Hauses brüllen gehört:

      „Barnabas! Barnabas, mit Schlauch in den Keller, wenn ich bitten darf!“

      Der Kirchenwirt hat sich in seinen fehlenden Bart gegrinst und sich gegen die Kälte einen krummen Hund angezündet. Eines hat ihm sicher wie das Amen in der Kirche geschienen: Mit seinem Laden würde es bald aufwärts gehen. Zudem er ja auch noch Bilder von den Söhnen, des Fleischers, des Bäckers und des Schreiners gehabt hat.

      Naturgemäß hat sich der Landarzt, nachdem er seinen missratenen Sohn im Keller zwischen den Einmachgläsern und Krötenpfützen mit einem Stück Gartenschlauch grün und blau geschlagen hatte, überlegt, wie er aus der Sache anders, als der Kirchenwirt wohl dachte, herauskommen könnte. Jeder hat doch eine Leiche im Keller, hat er sich Mut zugesprochen, und gerade er, der Landarzt Dr. Julius Holzer, seines Zeichen designierter Landtagsabgeordneter, kann davon mehr als ein Liederbuch schreiben.

      Er könnte ihn verhaften lassen, ist sein erster Gedanke gewesen. So schwer würde das sicher nicht werden...kein Wirt der Welt, der nur halbwegs alle beisammen hat und mit fünfzig nicht im Armenhaus landen will, hält die Gesetze ein. Aber reicht die Missachtung des Eichstriches, die Entjungferung der minderjährigen Dienstmagd, die Übervorteilung bei der Abrechnung der Zeche, das Wildbret von Wilderen, die Hinterziehung von Steuern wirklich aus, um ihn längerfristig - am besten bei Wasser und Brot - ins Zuchthaus bringen zu lassen? Nein, nein, dafür ist er lange genug in der Politik. Dieser Plan würde nicht aufgehen. So nicht. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, er würde das selber regeln müssen. Und zwar endgültig. Soweit ist es schon gekommen.

      Und ohne mit der Wimper zu zucken, schreibt der Landarzt Dr. Julius Holzer, seines Zeichen designierter Landtagsabgeordneter, jetzt in der Küche des hoch gelegenen Huftreter-Anwesens den Totenschein für die Landfrau Maria Magdalena Huftreter aus. Er möchte gar nicht so genau wissen, woran die Bäuerin tatsächlich gestorben ist und schon gar nicht, wo die beiden anderen Frauen die Überreste der Bäuerin beerdigt haben. Naturgemäß ist ihm bewusst, dass die Elisabeth seinen missratenen Sohn erkannt hat, und ehe er beim Ausfüllen der Formulare darüber nachdenken kann, spricht die Elisabeth ihn auch schon an.

      „Ich möchte, dass ihr den Jungen als den meinen eintragt.“

      Ohne aufzublicken, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, trägt der Landarzt den Namen Elisabeth Huftreter als Mutter des Neugeborenen ein. Bei der Rubrik Erzeuger zieht er mit dem Füllfederhalter einen dicken diagonalen Strich.

      „Alle anderen Formalitäten werde ich für dich auf dem Gemeindeamt erledigen, ist ja Ehrensache!“

      Du und eine Ehrensach’, denkt die Elisabeth und spuckt innerlich vor dem Holzer aus. Es wird nicht gut ausgehen mit dir und deiner missratenen Bagage, das verspreche ich, bei allem was mir heilig ist.

      Als der Landarzt seine Brille abnimmt und in alter Gewohnheit die Gläser weit von sich streckt, bevor er die Bügel zusammenklappt, um sie dann in sein krokodilledernes Etui zu stecken, sieht er an der Decke den dunklen Blutfleck.

      „Ich würd’ gern den Paten geben. Tu mir einen Gefallen und schlag mir die Bitte nicht ab. Dem Jungen soll es an nichts fehlen.“

      „In Gottesnamen, dann soll es so sein“, antwortet ihm die Elisabeth und reicht ihm ihre raue Hand. Zu verschenken habe ich nichts, denkt sie, und wer weiß, wozu solch eine Patenschaft noch von Nutzen sein kann.

      „Nichts für ungut, aber ich muss dann wieder“, verabschiedet sich der Landarzt Dr. Julius Holzer, seines Zeichen designierter Landtagsabgeordneter, zieht seinen Kopf im Türsturz ein und verlässt den Hof.

      Als er in seinen Wagen steigt, hört er oben das Kind schreien.

      Brüll dir ruhig die Lunge aus dem Leib, es wird dir nichts nutzen, denkt der Landarzt. Er gibt dem Jungen drei bis vier Monate, alles andere wäre ein medizinisches Wunder. Aber das hat es in seinem Wirkungskreis noch nie gegeben.

      Gut gelaunt schaltet er das Radio ein. Er ist jetzt in der richtigen Stimmung, den Kirchenwirt aufzusuchen.

      Vorsichtig lenkt Holzer seinen Wagen über den steilen Schotterweg nach unten ins Tal. Als er durch eine Baumlichtung die ersten Dächer des Dorfes sieht, bremst er abrupt seinen Wagen ab und lässt ihn auf einem kleinen Stück Wiese auslaufen. Er öffnet seine Tür und atmet langsam die kalte Winterluft ein. Dr. Holzer ärgert sich über sich selber. Darauf hätte er direkt kommen müssen. Die Frage und vor allem die Antwort ist von besonderer Wichtigkeit. Wie hatte der Kirchenwirt die Bilder so schnell entwickeln können? Steckte etwa der Drogist aus der Nachbargemeinde mit ihm unter einer Decke? Oder hatte dieser unflätige Mensch gar noch einen anderen Komplizen?

      Barnabas kommt in ein Internat und dann zum Militär. Wenn es sein muss für immer. Weit weg muss es nur sein. Er muss mir aus den Augen, sonst passiert noch ein Unglück. Mit zitternder Hand öffnet er das silberne Etui mit seinen eingravierten Initialen und fischt sich eine Zigarette heraus.

      Genüsslich inhaliert er den warmen Rauch und schaut auf den kleinen Plastikrahmen neben dem Handschuhfach, in dem eine verblasste Farbfotografie seines treuen Freundes steckt. Wenn es ihm gelingen würde, den Jagdhund in seinen Plan einzubauen, wäre das mehr als von Nutzen.

      Die Gaststube des Kirchenwirtes ist für einen Wochentag um die Mittagszeit recht gut besucht. Drei Forstarbeiter haben die großen leeren Teller, die mit dampfender Nudelsuppe gefüllt waren, hastig gegessen, um noch ein paar Runden Bier mit dem abgegriffenen klebrigen Deutschen Blatt auszuspielen. An einem Ecktisch unter dem Herrgottswinkel sitzt der Dorfschullehrer zusammen mit dem Förster und dem Gemeindebediensteten. Schweigend essen sie ihr Suppenfleisch mit eingelegtem Wurzelgemüse und Röstkartoffeln, die als gelbbraune Halbkugeln serviert worden sind. Die drei haben, ohne es zu ahnen, viele Gemeinsamkeiten. Zum einen haben alle drei nur einen mäßigen Appetit - denn am Morgen haben sie alle Post erhalten. Einen kleinen Brief, geschrieben auf einer alten Schreibmaschine mit blassen, unsauberen und hüpfenden Buchstaben. Als Anlage beigelegt war eine Schwarzweißfotografie von der Nacht des 17. Februars. Im Mittelpunkt der eigene Nachwuchs.

      Nur dem Dorfgendarmen scheint es heute köstlich