Joseph. Johannes Wierz

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Название Joseph
Автор произведения Johannes Wierz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738004991



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Charlie noch grinsend zu dem zwölfjährigen David gesagt und ihm und seiner Mutter zwei Karten für ein olympisches Vorrundenspiel im Wasserball geschenkt. Keine sechsunddreißig Stunden später starb Charlie, das Knautschgesicht, durch eine Handgranate auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Mit ihm neun Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist. Seltsam war nur, dass Charlie bis heute in keiner Dokumentation aufgetaucht ist.

      Jedes Mal, wenn David auf das große Anwesen am See zurückkehrte, war das Arbeitszimmer des Vaters, das ansonsten unberührt geblieben war und zu dem niemand Zutritt hatte, wieder um ein Relikt reicher.

      David öffnete nur leicht die Augen. Das Taxi befand sich noch immer auf der Autobahn. Er schaute sich um. Die Rückbank bestand aus beigem Kunstleder, das nach kaltem Rauch und billigen Erfrischungstüchern roch. Die beiden Schonbezüge der Kopfstützen waren abgewetzt, an manchen Stellen konnte man schon den ausgeleierten Gummizug erkennen. Im Mittelteil der Rückwand des Beifahrersitzes glänzte ein kleiner Fleck. David tippte auf Limonade oder Kaffee mit viel Zucker. Die beiden Seitenfenster der hinteren Türen waren von außen mit klebrigem gelbem Blütenstaub überzogen.

      Der Wagen wird also längere Zeit nicht bewegt, kombinierte David. Wahrscheinlich fährt der Taxler nur am Tag und parkt sein Auto über Nacht draußen unter einem Lindenbaum. David überlegte kurz, wo es in der benachbarten Stadt Lindenbäume gab. In Gedanken ging er mehrere Straßenzüge durch, zweimal durchfuhr er die Conradistraße. Dort kam jeweils auf zwei Parknischen ein großer Lindenbaum.

      „Wohnen Sie in der Conradistrasse?“ fragte David Engel den Taxifahrer, der leise mit der Musik im Radio mitsummte.

      „Na, na, wir hab’n draußen baut und vorher, was a scho a Ewigkeit her is, in der Giselastraßen.“

      Drei, fast wie mit dem Lineal gezogene Falten tauchten auf seiner Stirn auf. Sollte er sich so geirrt haben?

      „Warten’s, warten’s, mein Schwager wohnt in der Conradi, aber zur Zeit is mei Schwester im Krankenhaus.“

      „Und wer fährt bei Ihnen nachts?“

      „Mei Frau, aber das läuft zurzeit nicht gut!“

      Kann ich mir denken, dachte David Engel, schmunzelte und lehnte sich zufrieden zurück.

      Den Blick für das Detail und die Freude, Dinge in Zusammenhänge zu bringen, hatte er von seinem Vater, dessen war er sich sicher. Die Mutter sah nur das, was sie auch sehen wollte. Sie hatte recht wenig Kontakt zu den Leuten im Dorf. Wenn die Bediensteten ihren freien Abend hatten, besuchten sie manchmal ein pensionierter Theologieprofessor und ein betagter Landarzt aus der Region, mit denen sie sich in den Salon zurückzog.

      Das Taxi hatte die Autobahn verlassen und schlängelte sich jetzt durch eine malerische Voralpenlandschaft.

      Nach dem Abendessen beim obligatorischen Gang ums Haus würde er der Mutter alles über die Trennung von Aline sagen und sie gleichzeitig wieder damit besänftigen, endlich das lang versprochene Buch über den Vater in Angriff zu nehmen.

      David schaute aus dem Fenster. Saftig blühende Sommerwiesen warteten auf den zweiten Schnitt.

      Er spürte, dass er dieses Jahr anfällig für solche Aussichten war.

      Die Fahrt wurde etwas holpriger und lauter. Das Taxi durchfuhr gerade eine Baustelle. Zwischen dem Rollsplitt, der unter den Reifen wegspritzte, gab es plötzlich ein anderes Geräusch. Ein heller Klang, der sich fast anhörte wie Mutters silbernes Weihnachtsglöckchen vor der Bescherung. Es kam nicht von außen, sondern aus dem Wageninneren.

      David schaute sich systematisch um, indem er sein Umfeld in kleine Planquadrate einteilte.

      „Straßen wie in Rumänien“, fluchte der Taxifahrer.

      David richtete sich hinten im Wagen auf und schaute interessiert auf den Rückspiegel in der Mitte. Das, was da an einer roten Samtkordel hin und her baumelte, hatte er schon irgendwo gesehen, sogar in doppelter Hinsicht. Ein an beiden Enden in Silber eingefasster kleiner Knochen hing an dem Rückspiegel und knallte bei jedem Schlagloch, das der Wagen durchfuhr, gegen die Windschutzscheibe.

      Geschäft ist Geschäft

      „Mmmmm“, murmelt der Landarzt Dr. Julius Holzer, seines Zeichen designierter Landtagsabgeordneter, und fügt so geheimnisvolle und unverständliche Worte wie „Gestational - Diabetes“ oder „Diabetes mellitus“ hinzu. Diese Diagnose hätte er eigentlich schon beim Anblick des Neugeborenen stellen können, aber er will Elisabeth nicht unnötig beunruhigen. So hat er das Kind also über eine Stunde lang untersucht. Er hat es gewogen, alle Gliedmaßen auf das Genauste abgemessen und die Reflexe des Neugeborenen mit einem Hämmerchen aus Edelstahl getestet.

      „...Embryofetopathia diabetica...“

      „Und, was is des?“ Die Elisabeth beäugt ihn misstrauisch und greift dem Kleinen dabei über den nackten Hinterkopf. Schützend, als wolle sie den bösen Blick von ihm abwenden.

      „So was wie Schwangerschaftsdiabetes beziehungsweise seine Folgen“, erklärt Dr. Holzer. „Deswegen auch die beiden vorigen Abgänge. Es grenzt schon an ein Wunder, dass das Kind gesund zur Welt gekommen ist!“

      Um seiner Diagnose mehr Respekt zu verleihen, zieht und zwirbelt er an den Spitzen seines gewaltigen grauen Oberlippenbartes, verdreht seine Augen, die hinter den dicken Brillengläser gewaltig wirken und hebt seine buschigen Augenbrauen.

      Aber eine Huftreter Elisabeth kann so leicht nichts erschüttern.

      „Also is doch gesund!“

      „Na ja, den Umständen entsprechend eben.“ Der Landarzt überlegt sich genau, was er sagt, schließlich steht jetzt alles auf dem Spiel, sein ganzes Leben. Und das nur, weil der Rotzbua von Sohn mit der gemeinen Dorfjugend mithalten musste, dieser gottverdammte Idiot.

      Noch in der Nacht zum 17. Februar hat ihn, als der Sturm und der Regen bereits über die Berge gezogen waren und er nach dem Genuss einer Flasche seines besten französischen Rotweins endlich Schlaf gefunden hatte, der Kirchenwirt aufgesucht und ihm zum wiederholten Mal die Bitte angetragen, seine Beziehungen spielen zu lassen und ihm doch die Lizenz der freien Poststation zu übertragen. Natürlich müsste er die beiden angrenzenden Grundstücke bekommen, hat er mit Unschuldsmiene hinzugefügt und sich geräuschvoll in sein kariertes Taschentuch geschnäuzt. Er benötige sie, um die Remise auf Landeskosten bauen zu lassen. Richtig böse ist da der Landarzt Dr. Julius Holzer, seines Zeichens designierter Landtagsabgeordneter, geworden, dass selbst sein Jagdhund gefährlich angefangen hat zu knurren und seine Lefzen gezeigt hat.

      „Es ist nur“, ist der Kirchenwirt in ruhigem Ton fortgefahren - und hat im Bemühen, ein korrektes Behördendeutsch zu sprechen, - hinzugefügt: „Ihr Junge hat da gestern Nacht einen ziemlichen Unsinn gemacht, man könnte auch sagen, er hat eine Straftat begangen. Gut, wir waren alle einmal jung, aber ist jetzt samstagabends Vergewaltigung in unserem Landkreis erlaubt?“

      Urplötzlich hat der Jagdhund einen Satz nach vorn gemacht, dass der Kirchenwirt vor Angst fast vom Treppenabsatz herunter auf den Kiesweg gefallen wäre.

      Der Landarzt Dr. Julius Holzer hat daraufhin den Lederziemer genommen und seinem einzigen Freund so eins über das braune glänzende Fell gezogen, dass dieser wie ein Höllenhund aufgeheult hat.

      „Nun, ich habe mir erlaubt ein paar Fotografien von ihrem Zögling zu machen. Und ich finde, trotz anhaltendem Regen und der Dunkelheit ist das Wesentliche recht gut zu erkennen.“ Das Grinsen des Kirchenwirts ist höhnisch gewesen.

      „Na, kommen sie schon rein!“

      Wie lächerlich und erbärmlich doch Männer mit heruntergelassenen Hosen aussehen, vor allem, wenn sie noch keine Männer sind, hat er beim Anblick der Bilder gedacht und seinen Spross auf den leicht unscharfen Schwarzweißfotografien lange betrachtet. Besonders abstoßend hat er jenes Bild gefunden, das seinen Jungen in völliger Verausgabung mit offenem Mund und hervorstechenden, fast herausquellenden Augen zeigte. So sehen die Basedow-Patienten in seinen medizinischen Nachschlagewerken aus. Diese