Das Grab des Franzosen. Olaf Viehmann

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Название Das Grab des Franzosen
Автор произведения Olaf Viehmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754130223



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Recksiepe begann damit, dass man sich als alteingesessener Hagener Unternehmer in der fünften Generation durchaus und gerne der Verantwortung stelle. Im Besonderen, weil dieser Fund auf einem mittlerweile zum Familieneigentum gehörenden Grundstück lag. Man werde daher mit Freude die weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen auch finanziell unterstützen. Mit diesem kurzen Statement gab er das Wort direkt wieder zurück.

      Welche wissenschaftliche Untersuchungen? Sophia hatte nicht das Gefühl, dass der Industrielle damit ihre Arbeit im Sinn hatte.

      Thomas Reiter bedankte sich für die Ankündigung einer finanziellen Unterstützung und bei allen Anwesenden für ihre Aufmerksamkeit und erklärte die Pressekonferenz damit für beendet.

      Sophia hatte das diffuse Gefühl, unfreiwillig Teil einer Inszenierung geworden zu sein. Wovon soll hier abgelenkt werden?

      Kommissar Walther und sie verließen schweigend das Gebäude. Draußen, abseits von potenziellen Zuhörern platzte es aus ihr heraus:

      „Nur damit ich nicht im falschen Film bin, bis jetzt ist das doch immer noch eine kriminaltechnische Untersuchung, oder habe ich irgendwas verpasst?“ Sie sah ihn mit großen Augen und fragendem Blick an.

      „Formell ja, aber ich denke, das wird es nicht lange bleiben. Schau, wir haben keinen Vermissten. Meine Befragung der Familie hat nichts ergeben und es war ja heute Morgen offensichtlich, dass das Skelett schon verdammt lange dort liegt. Ich meine, du hast es ja selbst gesagt, dass die Liegezeit schon gut 200 Jahre sein kann!“

      „Verdammt, das habe ich so nicht gesagt!“

      „Nein??“

      Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber, schließlich sagte Erwin: „Wie auch immer, passt es morgen um 13:00 Uhr im Präsidium zur Fallbesprechung?“

      „Ja sicher, bis dann. Ciao“

      Was sie jetzt brauchte, war Luft, Luft zum Atmen, ohne diesen ganzen künstlichen Druck, der ihr aufgezwungen worden war. Sophia wohnte in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, des allgemeinen Krankenhauses, den sie so bequem zu Fuß erreichen konnte. Sie hatte Glück gehabt, direkt hier ein kleines Haus mit Garten mieten zu können, denn dieser Teil des Stadtteils in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wald war eine bevorzugte Wohngegend. Sie genoss es immer wieder, ohne große Anfahrt durch den Wald zu joggen. So auch heute.

      Doch ihr Genuss wurde getrübt durch die Ereignisse des Tages, die sie nicht losließen. Es war offensichtlich, dass einige eine kriminaltechnische Untersuchung am liebsten verhindern oder möglichst schnell beenden würden. Aber warum? Was sollte nicht ans Tageslicht kommen?

      Da war zunächst Herr Recksiepe mit seinem geplanten Joint-Venture. Klar, dass eine Leiche im Garten sensible Geschäftspartner abschrecken würde, aber ihrer Meinung nach konnten sich mit einer kriminaltechnischen Untersuchung doch schnell alle Bedenken zerstreuen lassen, sofern dadurch kein Bezug zur Familie Recksiepe herstellen ließe. Vielleicht dachten Manager aber auch anders, es blieb ein Fragezeichen.

      Dann war da Herr Volkerts. Hierzu war ihr bereits während der Pressekonferenz eingefallen, dass sie den Namen schon einmal von ihrem Freund Kai Sommer gehört hatte. Kai hatte einen Bachelor in archäologischer Geschichte und aktuell einen befristeten Arbeitsvertrag im Heimatmuseum. Herr Volkerts war sein Chef. Den Erzählungen Kais und den heutigen Ausführungen von Uwe Volkerts selbst zufolge lag es auf der Hand, dass er nach jedem potentiellen Exponat lechzte, um an Geld zu kommen.

      Nach ihrer ersten Runde durch den Wald konnte sie die Gedanken abschütteln, indem sie sich vornahm, sich auf ihre Untersuchungen zu konzentrieren. Nun nahm sie auch die Herrlichkeit des Waldes wahr, die frische Luft, die durch ihre Bronchien strömte, und das besondere Grün der Blätter, wie es jedes Jahr nur in einem kleinen Zeitfenster von zwei Wochen zu sehen war. Denn nachdem die Bäume aus ihrem Winterschlaf kommend neue Blätter produzieren, enthalten diese zu Anfang nur wenig Chlorophyll, das die Blätter grün erscheinen lässt. Die Blätter sind dann zart und lichtdurchlässig, sodass die Sonnenstrahlen zum Teil durch sie hindurch scheinen, und somit im Auge des Betrachters ein leuchtendes helles Grün erzeugen.

      Erst als sie abends im Bett lag, holten ihre Gedanken sie wieder ein. Was sollte nicht ans Tageslicht kommen? Warum schien sie die Einzige zu sein, die den Fund als das betrachtete, was es war? Ein kriminaltechnisch zu untersuchender Fund!

      

      Das Verhalten ihres Kollegen Walther war schwerer einzuordnen. Agierte er nur als der Profi, der wusste, was in dem großen Spiel hinter der Bühne ablief? Der sich nicht opferte, weil er sich im Klaren darüber war, dass er nicht gewinnen konnte? Sophia war sich sicher, dass sie in ihrem Fachbereich, der Rechtsmedizin, gut war. Und sie war sich dessen bewusst, dass sie mit ihrer Frage nach den Fakten fachlich gesehen richtig lag. Doch wenn es um politische Ränke- und Machtspiele ging, war ihr Erwin aufgrund seiner Erfahrung um einiges voraus? Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass Erwin aktuell, aus seiner Perspektive betrachtet, einfach nur klug agierte. Nicht umsonst hatte er es bis zum Leiter der Mordkommission gebracht. Aber Erwin war nicht der Schlüssel zur Lösung des Falles, jedenfalls nicht im Moment, das wurde Sophia klar. Und sie würde gut beraten sein, sich nicht an Erwin aufzureiben.

      Ihre Selbstdisziplin, sich unbeirrt auf die weiteren Untersuchungen zu konzentrieren, ließ sie schließlich einschlafen.

      Kapitel 4

      Ausgeruht und voller Tatendrang erschien Sophia am nächsten Morgen im Labor der Rechtsmedizin. Verena und Paul waren äußerst produktiv gewesen, denn zu ihrer Überraschung lag das exhumierte Skelett, einschließlich der gefundenen Gegenstände, bereits in anatomisch korrekter Anordnung auf einem der Obduktionstische.

      In ihrem Büro fand sie auf der Computer-Tastatur das Protokoll der Exhumierung, versehen mit einem kleinen Post-it auf dem stand „Wurde spät, kommen morgen etwas später. Viele Grüße Paul ☺.“ Sophia überflog kurz das Protokoll. Demnach wurden außer den ihr bereits bekannten Gegenständen keine weiteren Objekte gefunden. Haare oder Weichteile der verstorbenen Person gab es anscheinend nicht.

      Sophia wollte vor der Fallbesprechung die Obduktion erledigt haben und zog sich dafür um. Eine Obduktion dient der Feststellung der Todesursache und der Rekonstruktion des Sterbevorgangs sowie der Geschlechts- und Identitätsbestimmung. Da der Sterbevorgang kausal mit dem Tathergang verbunden ist, ist außerdem der Todeszeitpunkt von Interesse. Üblicherweise werden bei Leichenfunden bereits am Fundort wichtige Erkenntnisse zum Todeszeitpunkt gewonnen, wie zum Beispiel die Körpertemperatur, Madenbefall, Verfärbung der Leiche und eine Vielzahl anderer Merkmale. Da keinerlei Weichteile vorhanden waren, war die Liegezeit des Skeletts eine wichtige Information zur Festlegung der weiteren Vorgehensweise. Wie Sophia es am Vortag bereits ihren beiden Assistenten im Ansatz erklärt hatte, war allerdings die Klärung der Liegezeit bei Skelettfunden sehr schwierig.

      Mit der C14-Datierung hatte die Wissenschaft der Archäologie zwar ein starkes Werkzeug an die Hand gegeben, doch für eine Datierung in rechtlich relevanten Fällen hatte diese Methode eine zu geringe Aussagekraft. C14 zerfällt mit einer Halbwertszeit von ungefähr 5.730 Jahren. Bei großen Zeitabständen kommen damit wertvolle Ergebnisse zustande. Selbst die natürliche Ungenauigkeit von mindestens plus/minus 40 Jahren fällt bei Betrachtungen solcher Zeiträume nicht ins Gewicht. Jedoch sind bei Annahme eines kürzeren Zeitraumes 40 Jahre mehr oder weniger schon beachtlich. Sophia kam zu dem Schluss, dass in dem vorliegenden Fall andere Hinweise zu beachten seien. Den zusammen mit dem Skelett gefundenen Gegenständen und deren Datierung würde man eine besondere Aufmerksamkeit schenken müssen.

      Sophia begann damit, das Skelett auf Vollständigkeit zu untersuchen, und betrachtete, die lateinischen Namen der einzelnen Knochen dabei aufzusagen, als schöne Übung. Das Skelett war vollständig, bis auf die fehlenden Finger der rechten Hand. Sie sprach in ihr Diktiergerät: „Fehlende Phalanx media und Phalanx distalis an III, IV und V. Keine