Das Grab des Franzosen. Olaf Viehmann

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Название Das Grab des Franzosen
Автор произведения Olaf Viehmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754130223



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nicht, dass wir keine mehr finden. Bitte geht also besonders sorgsam vor. Das kleinste Gewebeteil, das kleinste Haar kann entscheidend für die Bestimmung der Liegedauer sein.“

      „Und was, wenn wir keine Weichteile finden?“, wollte Verena wissen.

      „Dann geht's an die Knochen!“, erwiderte Sophia lächelnd. „Mit einem vollständigen Verschwinden der Weichteile im Erdreich kann frühestens nach drei bis vier Jahren gerechnet werden. Je nach Masse des Körpers und den chemischen und physikalischen Umgebungsbedingungen auch länger. Wenn keine Weichteile mehr da sind, sprechen wir über eine Liegezeit größer vier Jahre, eher mehr. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass niemand chemisch oder physikalisch nachgeholfen hat. Nach weiteren fünf bis sechs Jahren, wenn auch das Fett und Gewebe aus dem Inneren der Knochenstruktur aufgelöst sind, ist eine Bestimmung der Liegezeit äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. - Aber lasst uns erst mal schauen, was uns erwartet, bevor wir alle möglichen Fälle durchspielen. Auf jeden Fall sollten wir auch Bodenproben von verschiedenen Stellen zur chemischen Analyse und zur pH-Wert-Bestimmung nehmen. Aber lasst uns klassisch vorgehen, bevor wir die einzelnen Knochen entnehmen, sollten wir eine partielle Freilegung durchführen, sodass wir die Lage des Skeletts erkennen können. Alles klar soweit?“

      Paul und Verena nickten zustimmend und Paul ergänzte: „Und ich mach wieder den Fotografen, ja?“

      Sophia stimmte ihm zu, während sie aufstand und einen der weißen Overalls anzog. Paul war der Techniker im Team, und er konnte geschickt mit der Kamera umgehen. Auch unter widrigen Lichtverhältnissen schuf er scharfe Detailbilder und verlor dabei nicht den Sinn für den Gesamtzusammenhang. Denn ohne jeden Kontext sind Details oft wertlos. Daher gehörte es zu seinen Aufgaben, an signifikanten Stellen kleine Schilder mit Nummern zu platzieren, um in späteren Texten Bezug auf wichtige Gegenstände und deren Anordnung nehmen zu können. Außerdem erledigte er die Standardaufgaben, notierte Temperatur und Luftfeuchtigkeit und protokollierte die Arbeitsschritte.

      Nach dieser ausführlichen Besprechung stiegen Sophia und Verena in die Grube, ausgerüstet mit kleinen Eimern, Bürsten, Pinseln und Schabern. Wenngleich die eigenhändige Durchführung von Exhumierungen nicht in ihrer Stellenbeschreibung als Leiterin der Forensik stand, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um Verena wertvolle Hinweise in der praktischen Umsetzung zu geben.

      Sie kamen gut voran und nach einiger Zeit war das Skelett in voller Größe freigelegt, aber wunschgemäß so, dass jeder Knochen noch durch das Erdreich in seiner Position gehalten wurde. Das Skelett lag in kerzengerader Haltung auf dem Rücken, Arme und Beine alle hübsch parallel zueinander ausgerichtet. Links und rechts des Sternums hatten sie in regelmäßigen Abständen jeweils sieben Knöpfe aus Messing, mit einem Durchmesser von ungefähr 15 mm, gefunden. Neben den Handwurzelknochen fanden sie insgesamt drei weitere Knöpfe, in der gleichen Größe wie der, den der Baggerführer gefunden hatte. Das deutete auf eine Bekleidung des Toten hin. Vom Stoff des Kleidungsstückes selbst war nichts übriggeblieben. Wenn man davon ausging, dass es sich um natürliche organische Materialien handelte, war dies nach wenigen Jahren keine Besonderheit, Naturtextilien waren eine Leibspeise von Kleinstlebewesen. An der linken Seite in Höhe des Beckens fanden sie etwas, das aussah wie ein ungefähr 80 cm langes Schwert. Als sie diesen Zustand erreicht hatten, betrachteten sie zunächst das Arrangement, und Paul machte unzählige Aufnahmen.

      Sophia wollte gerade eine erste Beurteilung abgeben und zum Fehlen der drei äußeren Fingerknochen der rechten Hand etwas sagen, da klingelte ihr Handy. Sofort nahm sie den Anruf an. Offensichtlich war der Anrufer ohne jede Floskel direkt zum Thema gekommen, denn Sophia hörte nur zu, um schließlich das Gespräch mit einer kurzen Bestätigung zu beenden: „Gut, ich kann in 90 Minuten dort sein.“

      Dann drehte sie sich kurz zu Verena und Paul um. „So, jetzt müsst ihr ohne mich auskommen, man verlangt nach mir! – Ihr macht weiter wie besprochen und schafft dann alles zusammen in die Obduktion. Ok?“ Beide stimmten im Chor zu. Daraufhin zog sie den Overall aus, warf ihn in eine dafür bereitstehende Box und machte sich auf den Weg.

      Auf halber Strecke des Rasenstücks, das zum Haus führte, kam ihr eine Frau entgegen, wahrscheinlich die Hausherrin, die einen großen Teller, vollgepackt mit Apfelkuchen, vor sich her trug. Die Dame begrüßte Sophia mit den Worten:

      „Ihr Kollege ist schon vor einiger Zeit gefahren, da wollte ich Ihnen doch eine Stärkung bringen.“

      „Ah, das wäre aber nicht nötig gewesen, Frau …?“

      „Ach, entschuldigen Sie, Recksiepe, Brigitte Recksiepe.“

      „Sehr angenehm, Sophia Jäger, ich bin die leitende Rechtsmedizinerin. Ich bin leider etwas in Eile, aber meine Mitarbeiter freuen sich sicher über eine Stärkung. Auf Wiedersehen!“

      „Ja, auf Wiedersehen!“, erwiderte Frau Recksiepe freundlich und ging weiter Richtung Zelt. Sophia in die andere Richtung.

      Die Evolution hat dem Menschen eine visuelle Sinneswahrnehmung geschenkt, die unseren Vorfahren sicher unzählige Male das Leben gerettet und damit überhaupt die Perfektionierung und Weitergabe dieser Eigenschaft ermöglicht hat. In jeder Sekunde empfängt das Auge mehr als zehn Millionen Lichtreize, Informationseinheiten, die im komplexen Zusammenwirken von Filter- und Bewertungsalgorithmen in unserem Gehirn unterscheiden zwischen unwichtig und wichtig. Eine dieser bewundernswerten Fähigkeiten ist es, dass wir bewegte Objekte im unscharfen Seitenbereich des Sichtfeldes wahrnehmen und als mögliche Gefahr einstufen. Automatisch wird das Objekt durch eine schnelle Pupillendrehung angepeilt, durch die Linse fokussiert und somit dem Gehirn innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde ein verwertbares Bild geliefert. Oft stellt sich heraus, dass es eben nicht der gefürchtete Tiger ist, aber einmal nicht hingeschaut kann sofort tot bedeuten. So funktioniert Evolution.

      Genau dieser Mechanismus wirkte bei Sophia, als sie weiter über den Rasen lief. In einem winzigen Moment nahm sie wahr, dass sich die Gardine an einem der Fenster im obersten Stockwerk des herrschaftlichen Hauses bewegte.

      Kapitel 2

       15. April 1865, preußische Provinz Westfalen, Eilpe bei Hagen

      

       „Es ist ein Junge!“, rief das Mädchen freudig dem Vater entgegen, als sie den düsteren Raum des Fachwerkhauses betrat, der den, durch Wasserkraft angetrieben, Hammer beherbergte. Es war nicht nur schummerig, sondern auch laut. Friedrich Recksiepe verstand kein Wort, was einerseits an der Lautstärke, andererseits an der trotz seines jungen Alters von 24 Jahren bestehenden Schwerhörigkeit des Juniorchefs der Klingenschmiede, lag. Die Schmiedewerkstatt lag am Selbecker Bach, dessen Kraft zwei mehrere hundert Kilogramm schwere Hammer unablässig über ein hölzernes Räderwerk hochhob, die dann am oberen Punkt freigegeben und vom eigenen Gewicht angetrieben mit dem Schmiedekopf auf einen Amboss fielen. Neben jeder Schmiedestelle befand sich ein Kohlefeuer, in dem die Werkstücke auf die erforderliche Schmiedetemperatur gebracht wurden.

      

       Der Betrieb wurde von Friedrichs Großvater, Friedrich sen., zu einer denkbar ungünstigen Zeit, im Jahr 1813 gegründet. Wobei es keine Neugründung war, sondern vielmehr die Übernahme eines verwaisten Betriebes. Friedrich Recksiepe war der Sohn eines Bauern aus dem oberbergischen Kreis. Als Zweitgeborener hatte er kein Anrecht auf einen Anteil des Hofes. Ihm wurde ein Unterhalt für die Zeit seiner Ausbildung gewährt und eine Abfindung, die weit unterhalb der Hälfte des Wertes der eigentlichen Erbmasse lag. Obwohl diese gängige Art der Erbfolge heutzutage manchem als ungerecht oder moralisch verwerflich erscheinen mag, hatte sie einen praktischen und nachhaltigen Nutzen. Durch diese Praktik wurde eine fortwährende Verkleinerung der Höfe durch Teilung in jeder Generation vermieden, die zwangsläufig dazu führen würde, dass die Höfe irgendwann zu klein wären, um davon leben zu können.

      

       Friedrich erlernte das Schmiedehandwerk und legte seine Meisterprüfung ab. Das Glück wollte