Das Grab des Franzosen. Olaf Viehmann

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Название Das Grab des Franzosen
Автор произведения Olaf Viehmann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754130223



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das weiße Zelt der KTU und sie konnte aus der Ferne Stimmen hören. Um das ganze Arrangement herum war, an hölzernen Spießen befestigt, ein blau-weißes Kunststoffband mit dem Aufdruck „POLIZEI“ gespannt.

      Na, dann mal los! Voller Tatendrang schritt sie zum Zelt, steckte den Kopf kurz durch den Eingang und grüßte: „Morgen zusammen!“, um direkt ihr eigentliches Ziel, die Grube mit dem Fund anzusteuern. Hinter sich hörte noch das Echo ihrer Begrüßung von zwei jungen Stimmen „Moin“, „Morgen.“

      Am Rand der Grasnabe ging sie in die Hocke. Bei kurzer bis mittlerer Liegezeit verströmt der Körper ein typisches Aroma. Doch das, was Sophia an diesem Grab wahrnahm, war nicht der Geruch des Todes, sondern der des Frühlings. Es roch nach frischer Erde; saftiger, fruchtbarer Erde.

      Sie verweilte in der Stellung und verstand nun Erwins Einschätzung, doch sie hatte den Anspruch, dafür erst einwandfreie Beweise zu finden.

      Skelette haben etwas unendlich Friedvolles an sich, dachte sie, während sie in das frisch ausgehobene Erdloch auf das nur zum Teil freigelegte menschliche Skelett sah. Sie sah Elle und Speiche des rechten Arms sowie die teilweise sichtbare Handwurzel der rechten Hand, den Oberarmknochen, einen Teil der Schulter und die vordere Hälfte des Schädels. Sie blickte in leere Augenhöhlen, wobei „leer“ es nicht exakt beschrieb, denn dort, wo einst Augen dem Besitzer Licht und Farben beschert hatten, war nun braune fruchtbare Erde. Doch trotzdem hatte Sophia den Eindruck angeschaut zu werden. So friedvoll, keine Spur der Sorgen und des Leids, die jedes Leben in unterschiedlichen Ausprägungen erfüllen. Nachdem Milliarden von Kleinstlebewesen sich an den Weichteilen Toter bedient haben und somit den Kreislauf von Leben und Tod aufs neue starten, bleibt das Grundgerüst des Homo sapiens zurück. Es ruht bei günstigster Bodenbeschaffenheit ohne nennenswerte Veränderung Jahrhunderte oder gar Tausende von Jahren in der Erde. Und während die Erde sich weiter dreht und das Leben und Streben fortlaufend vermeintlich neues Glück und Leid erzeugt, liegt das Skelett friedlich in seiner dunklen Ruhestätte, ohne sich um den Lauf der Geschichte mit ihren nie enden wollenden Machtkämpfen der Menschen zu kümmern. Den Kriegen und der einhergehenden Zerstörung. Sophia blickte dem Skelett tief in die Augenhöhlen, während in ihrem Geist Armeen aus längst vergangen Tagen in chronologischer Reihenfolge aufeinander zustürmten: Napoleons Armee von West nach Ost, die russische Armee in die andere Richtung, die deutschen Armeen in beide Richtungen und so weiter. Leise, als sei es eine vertrauliche Unterredung, fragte sie den stummen Zeugen der Geschichte: „Na, was von all dem hast du miterlebt und einfach geschehen lassen?“

      Soweit das Licht in der schätzungsweise knapp über einen Meter tiefen Grube es erkennen ließ, waren der Schädel und die freigelegten Schlüsselbeinknochen dunkel verfärbt, was den Schluss zuließ, dass das Skelett schon längere Zeit hier lag. Aber Genaues konnte man erst nach der Analyse im Labor sagen. Der Boden war durchsetzt mit Steinen, wie es in dieser Gegend üblich war. Sophia seufzte zufrieden, bevor sie aus der Hocke aufstand und zu den beiden kriminaltechnischen Assistenten schritt, die vor ihrer Ankunft mit den Vorbereitungen der, vor ihnen liegenden, Exhumierung begonnen hatten, aber nun auf weitere Anweisung der Gerichtsmedizinerin warteten. Als sie das weiße Zelt erreichte, blickte sie die beiden jungen Mitarbeiter freundlich an. Paul Timmermann und Verena Müller hatten alles bestens arrangiert. Die Transportbehälter für die Knochenteile und etwaigen anderen Gegenstände standen geordnet in einer Reihe auf einem langen Klapptisch und daneben lagen die Instrumente und Werkzeuge wie Zinnsoldaten nebeneinander aufgereiht. Beide trugen ihre weißen Overalls, saßen jeder mit einem Pott Kaffee in der Hand auf einer Sitzbank an einem anderen Tisch und schauten entspannt und freundlich zu ihr auf.

      „Ihr wart ja schon fleißig. Habt Ihr noch irgendwas anderes gefunden?“

      Paul hatte ein Studium in Informatik absolviert, und war als Quereinsteiger zur Polizei gekommen. Mit seinen dunkelbraunen Haaren und seiner Brille mit dicken schwarzen Rändern sah er ein wenig wie ein Nerd aus. Doch ihn in diese Schublade zu stecken wäre zu simpel gewesen. Tatsächlich war er ein Genie in allen technischen Themen und bei dem, was er tat, äußerst sorgfältig. Darüber hinaus hatte er einige Qualitäten, die nicht unbedingt zu denen eines Nerds passen würden. Zum Beispiel verfügte er über eine ausgeprägte Höflichkeit. Er befüllte einen Pott Kaffee aus einer übermäßig großen Thermoskanne und reichte ihn zu Sophia herüber, „Zucker?, Milch?“

      „Nur Milch bitte, danke“, sagte Sophia knapp, während sie sich zu den beiden an den Tisch setzte.

      Verena antwortete ihr, „Nein nichts, noch nicht. Außer das hier,“ und hielt ihr einen durchsichtigen Kunststoffbeutel mit Zipp-Verschluss entgegen, darin ein messingfarbener Knopf. Verena schaute mit ihren großen dunklen Augen und lebhaften Blick aus ihrem Overall heraus. Am Rand der Kapuze war eine Strähne ihrer türkisgefärbten Haare zu sehen, und fügte keck hinzu:

      „Aber das war gar nicht unser Verdienst, sondern der des Baggerführers.“

      Sophia lächelte kurz. Irgendetwas an Verena gefiel ihr. Diese gutgelaunte und wache Art, mit der sie anderen begegnete, erinnerte sie an jemanden, den sie jeden Morgen im Spiegel betrachtete. Nur, dass Verena jünger und unerfahrener war. Verena hatte zuerst eine Beamtenlaufbahn bei der Polizei eingeschlagen. Ihr Interesse an Chemie und Biologie brachte sie schließlich dazu, eine polizeiinterne Ausbildung zum kriminaltechnischen Dienst zu absolvieren. Und jeder, der mit ihr zusammen arbeitete, konnte merken, dass diese Entscheidung die Richtige gewesen war. Verena war hellwach bei dem, was sie tat, wissbegierig und strahlte stets eine positive Grundstimmung aus, wie es wahrscheinlich nur Menschen tun, die in ihrem Beruf ihrer Berufung gefolgt sind.

      „Baggerführer? Gibt es jetzt Baggerführer bei der KTU?“

      Paul prustete vor Lachen seinen Schluck Kaffee zurück in den Pott, um gleich darauf mit der Erklärung anzuschließen, „Nein, nein. Soweit ich es mitbekommen habe, wollen die Eigentümer hier einen Schwimmteich anlegen. Heute Morgen hat ein beauftragtes Unternehmen mit den Arbeiten für den Aushub begonnen. Na, und der hat es auf seiner kleinen Baggerschaufel glänzen sehen. Und, weil er wohl dachte, einen Schatz zu entdecken, hat er mit den Händen weiter gegraben. Bis er das gefunden hat“, berichtete Paul und zeigte dabei mit dem Daumen in Richtung Grube. „Er war es auch, der die Polizei gerufen hat. Hat der Kommissar uns gesagt.“

      Sophia wog den Beutel mit dem ungefähr zehn bis elf mm großen Knopf in ihrer Hand. „Scheint aus Messing zu sein. Sicher kein Zufall, dass der Knopf in der gleichen Erdschicht lag. Habt Ihr den Metalldetektor dabei?“

      „Ja klar“, sagte Verena. „Ist im Auto! Sollen wir damit nach der Exhumierung nochmal den ganzen Bereich scannen?“ Verena war erst seit Anfang des Jahres bei ihnen, und schon jetzt hatte Sophia den Eindruck gewonnen, dass sie damit ihrer beruflichen Leidenschaft folgen würde. Das hatte ihr Paul, der seit der Gründung der Außenstelle dabei war, bestätigt. Sowieso hielt Paul wohl sehr viel von Verena, nicht nur in beruflicher Hinsicht.

      „Exakt, ja. Würde mich nicht wundern, wenn da noch mehr liegt!“

      Sie besprachen noch einige Details der fachgerechten Exhumierung. Für die beiden jungen Assistenten hatte es etwas von einer Vorlesung. Sophia war der Überzeugung, dass es ihre Pflicht war, ihre Erfahrungen und ihr Wissen weiterzugeben und dabei die Motivation der individuellen Vorgehensweise zu erklären. Eine Generation zuvor herrschte noch die Sitte vor, dass Vorgesetzte ihr Wissen oder Nichtwissen für sich behielten. Im gleichen Maß wie sie es damals bei Ihren Vorgesetzten verabscheut hatte, war es heute für sie eine bewusste Verhaltensweise, möglichst viel weiterzugeben. Auch ihr persönlicher Umgang entsprach sicher nicht so manch altem Muster, weil sie sich als Teil des Teams ansah. Trotzdem war Sophia sich ihrer Führungsrolle bewusst. Für sie war es kein Widerspruch und sie erntete dafür alltäglich die Bestätigung. Trotz des lockeren Umgangs, Scherzens und persönlichem Austauschs folgten ihr Verena und Paul, sobald es um fachliche Belange ging. Teamerfolg ist die Frucht des guten Vorbildes, niemals der falschen Autorität, war Sophias Überzeugung.

      „Für eine etwaige Rekonstruktion des Tathergangs ist die Kenntnis der Liegedauer der menschlichen Überreste extrem wichtig. Offensichtlich