Название | Die schiere Wahrheit |
---|---|
Автор произведения | Ursula Hasler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552307 |
Gekränkt nahm sie das «Journal de Challans» zur Hand, das auf dem Tisch lag, schließlich hatte sie ihn holen lassen. Sie verschwand hinter der Zeitung und spitzte die Ohren.
– Vermissen? Weshalb sollte ich Monsieur Miller vermissen?
Amélie blickte überrascht über den Rand der Zeitung. Die weiße Dame war die Ehefrau des Toten! Sie schaute sich die Dame jetzt unverhohlen an. Ein nettes Gesicht mit regelmäßigen Gesichtszügen, das man gleich wieder vergisst. Sie mochte dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig sein. Eine rebellische Haarsträhne stand über ihrem linken Ohr ab, sie hatte sich aus dem strengen Knoten im Nacken befreit, in den Madame Miller ihr dünnes Haar gezwungen hatte.
Die Dame wirkte erleichtert, als sie neben dem unbekannten Herrn, der sie angesprochen hatte, den Portier erkannte. Monsieur Bertrand wand sich nervös.
– Weshalb fragen Sie mich das, Monsieur? Mein Gatte ist heute sehr früh nach Paris gefahren, er muss dort verschiedene Geschäftsleute treffen, die Weltausstellung, Sie wissen schon. Er kommt in einer Woche zurück.
Madame Miller sprach gut Französisch, distinguiert, mein Gatte sagte sie, nicht mein Mann, aber mit einem merkwürdigen Akzent, den Amélie Morel, die keine fremde Sprache beherrschte, als amerikanisch einordnete.
Mit einer Handbewegung bedeutete der Inspektor dem Portier, sich zu entfernen. Er wollte mit Madame Miller unter vier Augen sprechen. Dann warf er einen strengen Blick in ihre Richtung – Amélie verschwand hurtig hinter der Zeitung und horchte mit größter Anstrengung, denn Laurent sprach leise.
– Madame, Sie haben ihren Gatten also heute früh noch gesehen? Unwillkürlich passte der Inspektor seine Wortwahl an.
– Nein … ich … ich bin leidend und liege nachts oft wach … wir haben eine Suite mit zwei Schlafzimmern … er hat um halb sechs ein Taxi nach Nantes genommen, von dort die Eisenbahn, er musste um ein Uhr in Paris sein … eine Verabredung zum Mittagessen … Aber weshalb fragen Sie mich das alles? Ist etwas passiert?
Amélie äugte über den Blattrand. Die Wangen der Madame Miller überzogen sich plötzlich mit roten Flecken, ihre Augen bekamen einen fiebrigen Glanz.
– Was ist passiert, Monsieur? … Ein Unfall mit dem Taxi?
Der junge, unerfahrene Inspektor verabscheute solche Situationen. Gerade als er sich Madame Miller gegenübergesetzt hatte und nach den passenden Worten für seine schlechte Nachricht suchte, stürmte eine junge Dame in den Raum, an Amélie vorbei und blieb dann beschützend neben Madame Miller und mit blitzenden Augen vor dem Inspektor stehen.
– Mit wem haben wir die Ehre?
Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar. Fürsorglich legte sie ihre Hand auf die Schulter von Madame Miller.
Laurent erhob sich und stellte sich vor:
– Inspektor Picot … und mit wem habe ich die Ehre?
– Adrienne, die Schwester von Madeleine, Madame Miller.
Da Laurent ihr den Rücken zudrehte, guckte Amélie nun ungeniert über die Zeitung.
Adrienne hatte die gleichen ebenmäßigen Züge wie ihre Schwester, aber sie war wie die lebendige Version von Madame Miller, die einer Wachsfigur ähnelte. Selbst ihr Haar glänzte lockig und lebenslustig in einem goldenen Blond, während dasjenige ihrer Schwester fahlblond zu einem braven Chignon gebunden waren. Adrienne dürfte zahlreiche Verehrer unter den jungen Malern hier im Hotel haben! Amélie lächelte.
Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr so forsch.
– Was wollen Sie von uns, Herr Inspektor?
Ihr Neffe druckste herum. Aber warum schonungsvoll um den ungenießbaren Brei herumreden, es muss ja gesagt werden.
– Monsieur Miller ist heute Morgen tot am Strand aufgefunden worden. Wir haben ihn ins Hotel gebracht, er liegt in einem Raum im Erdgeschoß. Wenn Madame bitte mit mir kommen würde, um ihn zu identifizieren …
Der junge Inspektor war völlig unvorbereitet, als er den spitzen Schrei hörte und sah, wie Madeleine Miller langsam zu Boden glitt, wo sie reglos liegenblieb. Flehend sah Laurent Picot jetzt zu seiner Tante hinüber. Amélie war bereits aufgesprungen und drückte sich zwischen den Tischen hindurch. Jetzt brauchte er sie!
– Hol einen Calvados an der Bar!
Mit Hilfe von Adrienne bettete sie die ohnmächtige Madame Miller auf das Sofa und hielt ihr dann den Schnaps unter die Nase. Die zartbesaitete Dame kam schnell wieder zu sich.
Auf keinen Fall will sie ihren toten Mann sehen, das würde sie nicht verkraften!
Auf ihrer weißen Stirn glänzten winzige Schweißperlen, die geschlossenen Augenlider, durchscheinend wie Pergament, zuckten, sie atmete hektisch, die zarten Nasenflügel flatterten. Es war nichts zu machen, Madame Miller weigerte sich standhaft.
Amélie schaute ihren Neffen mit strengem Blick an und schüttelte den Kopf. Sie befürchtete einen weiteren Schwächeanfall. Die Dame, die zur Witwe geworden war, tat ihr leid. Die Schwester soll sie auf ihr Zimmer bringen und Laurent soll den Doktor nachher zu Madame Miller schicken. Wenn er mit der Untersuchung des Toten fertig sei.
Adrienne sah mit offenem Mund von einem zum andern.
– Sie kennen sich?
Das brachte Laurent Picot auf die Idee.
– Mademoiselle, Sie kennen den Toten ja auch. Würden Sie so freundlich sein und mit mir kommen, um ihn zu identifizieren?
– Und? Er war es, nicht wahr? Erzähl schon!
Amélie Morel sprach mit unterdrückter Stimme, denn sie saßen auf der Terrasse des Hôtel de la Plage und rundum waren alle Tische besetzt. Man kümmerte sich jedoch gegenseitig nicht um die Gespräche an den Nachbartischen, wie immer vor dem Mittagessen herrschte eine heitere, appetitanregende Stimmung unter den plaudernden Hotelgästen. Sie beugte sich ungeduldig über den Tisch und hätte beinahe ihr Glas Troussepinette umgestoßen.
Laurent Picot zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch hastig aus. Bereits die dritte Zigarette in einer halben Stunde, er war nervös. Vor einem Jahr hatte er seine Stelle als Inspektor im kleinen Kommissariat von Les Sables-d’Olonne angetreten, dies hier war sein erster Toter. Der erste Tote, bei dem die Todesursache nicht klar war. Sein erster richtiger Fall! Vielleicht gar ein großer Fall, von dem jeder Kriminalist träumt … mit Beförderung! … Jetzt bloß keinen Fehler machen, Picot!
Im vorderen Teil der Veranda, wo Tante und Neffe saßen, wurde es wärmer und wärmer, die Mittagssonne brannte prall auf die Markisen. Die Terrasse begann sich langsam zu entvölkern, Alt und Jung schritt zum Mittagessen in den Speisesaal, den man den ganzen Vormittag lang mit Zugluft kühl gehalten hatte.
Er bemerkte sehr wohl das Funkeln in Amélies Augen, als sie ihn drängte zu erzählen, was sich danach im Zimmer des Chauffeurs, wo der tote Monsieur Miller lag, abgespielt hatte.
Selbst wenn der junge Inspektor eine bessere Intuition gehabt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass die ganze Identifiziererei mit einer solchen Überraschung enden würde! Was durfte er seiner Tante erzählen, was nicht? Er schwitzte und rieb seine Handflächen an der Hose ab.
Er steckte die vierte Zigarette an.
– Gib mir auch eine! Amélies Hand kam fordernd über den Tisch.
– Seit wann rauchst du denn?
– Seit jetzt!
Amélie Morel war höchst erregt, ihr erster Toter, nicht wie die im Krankenhaus, nein, ein richtiger Toter, bei dem man nicht wusste, wie er gestorben war, ein Verbrechen! Zu diesem außerordentlichen Ereignis passte die erste Zigarette!