Die schiere Wahrheit. Ursula Hasler

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Название Die schiere Wahrheit
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552307



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war völlig in Ordnung. Und oft viel lustiger, was man in der Personalküche doch so alles erfuhr über die Herrschaften der andern! Das Reich der Gäste, nein, das war nichts für Amélie Morel, selbst wenn das Grand Hôtel de la Plage in Saint-Georges längst nicht so nobel war wie die großen Häuser an der Côte d’Azur.

      Aber Laurent gab nicht auf, vermutlich hatte er genug vom täglichen Gezänke zwischen Mutter und Patentante. Mit dem Geld, das Monsieur Milcent ihr vermacht habe, könne sie sich mehrere Wochen im Hôtel de la Plage leisten. Ihr jungen Leute habt nie sparen gelernt, hat sie gebrummelt und das billigste Zimmer im Hôtel de la Plage für einen Monat gebucht, vom 20. Juni bis zum 19. Juli. Danach gab es keine freien Zimmer mehr.

      Benimm dich aber wie ein richtiger Hotelgast, hatte Laurent ihr eingeschärft. Seit vier Tagen war sie jetzt hier und lernte jeden Tag, sich wie ein richtiger Hotelgast zu benehmen. Heute Morgen zum Beispiel hatte sie ihr Bett nicht mehr selbst gemacht, nachdem Marthe, das Zimmermädchen, eine mollige Kleine mit roten Wangen und zwei dicken Zöpfen um den Kopf, sie gestern beim Anblick des bereits gemachten Bettes verächtlich angesehen und dann wortlos die Tür wieder zugezogen hatte. Ihre Augen sagten, bist ja nur eine von uns, auch wenn du gerne zu denen gehören möchtest! Amélie Morel war ge­kränkt. Sie war doch keine Hochstaplerin!

      Nicht einfach, seufzte sie, sich in der Welt der Wohlhabenden zu bewegen. Sie blätterte weiter zum Fußgelenk, dessen Kom­plexität sie noch nicht ganz ergründet hatte. Mitten in ihre Anstrengungen, das Zusammenspiel von Sprungbändern und Seitenbändern zu verstehen, platzte atemlos der Junge.

      – Madame! Madame!

      Er blieb keuchend vor dem Liegestuhl stehen, aber in respektvollem Abstand. Der Junge kannte sie. Die kleine Dame, die jeden Morgen gegen acht, manchmal noch früher, mit diesem schweren Buch an den Strand kommt und sich immer in den gleichen Liegestuhl setzt, so weit weg wie möglich von der Kinderschaukel, so nahe wie möglich am Wasser, aber auf dem trockenen Sand, so mag sie es, hatte ihm der Portier Monsieur Bertrand gleich am Tag ihrer Ankunft eingeschärft, diese Dame ist eine Frau Doktor aus Nantes!

      Darum will er sie holen!

      – Madame! Bitte kommen Sie schnell …

      Es verschlug dem Jungen die Stimme, er schnappte nach Luft, fuchtelte mit den Armen.

      – Madame! Bitte!

      Sie reagierte nicht. Ängstlich näherte er sich und blieb dicht vor ihr stehen. Die Dame war in ein seltsames Bilderbuch vertieft. Endlich hob sie den Kopf, leicht verwirrt.

      – Mademoiselle, Kleiner, Mademoiselle!

      Amélie Morel kannte ihn auch, den Jungen, der bei schönem Wetter morgens die Strandkabinen öffnet und zurechtmacht, der die Liegestühle an den Strand trägt und gruppenweise aufstellt, der Junge, der die Sonnenschirme windsicher tief in den Sand bohrt, mit erstaunlicher Kraft für seinen schmächtigen Körper, dachte sie jedes Mal, wenn sie ihn von der Terrasse des Hotels aus beobachtete, der Junge, der mit dem Rechen über den Sand streicht, Unrat einsammelt, täglich auch die Burgen der Kinder schleift und die ausgehobenen Wassergräben wieder mit Sand füllt, damit keiner darüber strauchle.

      – Was willst du denn, Kleiner?

      Stirnrunzelnd schaute sie ihn über die Brillengläser an. Sie mag es nicht, wenn man ihre Lektüre unterbricht. Und sie zu allem Übel noch mit Madame anspricht!

      Ängstlich ließ der Junge die Hände fallen, schaute zu Bo­den. Er hatte die Frau Doktor gestört und die war jetzt böse ... Die Gäste dürfen nicht angesprochen werden!, hatte ihm Monsieur Bertrand mehrmals eingeschärft.

      – Nun erzähl schon, ich beiß nicht!

      – Da, da hinten, bei den Dünen, am Boden liegt er, ich hab ge­rufen, Monsieur, geht es Ihnen nicht gut? Monsieur, was fehlt Ihnen? …

      Der Arm des Jungen zitterte, als er den Strand entlangwies, in Richtung des wilden Bereiches der Dünen, dort, wo die Bade­gäste nie hingehen.

      – Tot ist der, ganz sicher! Ermordet!

      – Woher willst du das denn wissen … Wie heißt du eigentlich?

      – Gaston, Mada … Mademoiselle.

      Über ihre Brillengläser hinweg sah sie den Jungen mit strengem Blick an. Ein Toter, hier am Strand … und sie die erste, die … Nein, eine solche Gelegenheit lässt Amélie nicht ungenutzt vorbeigehen!

      – Halt das mal!

      Sie drückte Gaston das schwere Anatomiebuch in die Hand und zog sich ächzend hoch, natürlich wird sie nachsehen, wie könnte es auch anders sein. Sie legte das Buch in den Liegestuhl, das würde schon keiner stehlen, nahm die Tasche unter den Arm und stapfte hinter dem Jungen her. Der drehte sich nach ein paar Metern ängstlich um, ob das Fräulein Doktor ihm auch folgte, ob sie ihm glaubte.

      Sie gestikulierte mit der freien Hand und murmelte vor sich hin. Was rennst du diesem Jungen nach! Zurück ins Hotel und dem Portier sagen, er soll telefonieren, die Polizei in Les Sab­les-d’­Olonne verlangen, Inspektor Laurent Picot persönlich! Das solltest du tun, Amélie! Sei still! Warum gleich den Laurent belästigen, vermutlich ist es ja nur ein alter Säufer aus dem Dorf, der es gestern Nacht nicht mehr nach Hause geschafft hat ... Die Neugier übernahm jetzt das Kommando, endlich durchbrach mal etwas Außerordentliches die Monotonie der viel zu ordentlichen Urlaubstage …

      Der schmächtige Junge hüpfte leichtfüßig über den Sand, er war wie alle Dorfjungen barfuß. Aber Mademoiselle Morels Schnürschuhe sanken bei jedem Schritt tief ein. Sie schnaufte heftig.

      Es war weiter als gedacht. Viel weiter. Und die Sonne hatte die letzte Wolke verbrannt und machte sich nun über die Menschen am Strand her.

      – Warte Kleiner! Renn nicht so!

      Sie zog die warme Strickjacke aus, fächelte sich mit dem Strohhut etwas Luft ins rote Gesicht, bevor sie ihn seufzend wieder aufsetzte und mit der Jacke über dem Arm weiterstapfte. Du hast es gewollt, Amélie, das Abenteuer! Dazu gehört auch der eklige Sand, der in die Schuhe, gar in die Strümpfe drang, wie sie so gezwungen war, hinter dem Jungen her durch den Sand zu hasten.

      Ja, der Kleine hatte recht gehabt. Es war kein alter Säufer, der da auf dem Strand seinen Rausch ausschlief, das erkannte die Krankenschwester auf den ersten Blick, als sie zehn Minuten später vor dem Mann stand, der reglos auf dem Rücken im Sand lag. Der war richtig tot und zwar schon seit Stunden. Sie hatte im Krankenhaus einige Tote gesehen.

      Und was sie ebenfalls auf den ersten Blick erkannte: Es war kein Fischer, kein betrunkener Vagabund oder sonst ein armer Kerl aus dem Dorf. Ein großer, drahtiger Mann, dem man auch nach Stunden im Meerwasser noch ansah, dass er ein Sommergast aus einer der Familienpensionen oder einem Hotel im Ort sein musste.

      Wie kam der Tote an diese verlassene, einsame Stelle weit draußen in den Dünen?

      Gaston trat von einem Fuß auf den andern, schwankend zwi­schen Angst, Neugier und Stolz – er hat den Toten gefunden! Man wird in den Zeitungen über ihn schreiben! Er wagte aber nicht, näher heranzukommen.

      Amélie Morel ging langsam und in sicherem Abstand um den Toten herum, man darf keine Spuren verwischen, das weiß sie aus den Kriminalromanen. Unnötige Vorsicht, die nächtliche Flut hat alle Spuren, wenn es denn solche gegeben hatte, überspült und verwischt.

      Weil sich das Fräulein Doktor nicht mehr rührte, wagte sich Gaston zwei Schrittchen näher.

      – Ist er ertrunken?

      – Wie soll ich das denn wissen, vermutlich schon.

      Sie stemmte die Arme in die Seite und betrachtete den To­ten stirnrunzelnd. Er trug nur einen Schuh, einen leichten ledernen Halbschuh, um den sich braune Algen schlangen und den das Salzwasser ruiniert hatte … der linke Fuß war nackt, nicht nur den Schuh, auch die Socke hat das Meer als Tribut genommen. Seltsam. Eine Hand war zur Faust geballt … Er­trinkt man so?

      Sie starrte den Mann auf dem Boden lange an, etwas flimmerte durch ihr Gedächtnis, aber sie konnte es nicht fassen. Flüchtige Bildfetzen