Название | Die schiere Wahrheit |
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Автор произведения | Ursula Hasler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552307 |
– Na ja … mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um einen Unfall, also kein Grund zur Sorge, Tante!
Ach, ihre Sorge war doch, dass es nur ein Unfall sein könnte! Amélie hielt die Zigarette zwischen Zeigfinger und Mittelfinger, wie sie es bei den eleganten Damen gesehen hatte, und zog mit spitzen Lippen am Mundstück. Der Rauch brannte grässlich im Hals, sie hustete heftig.
Laurent Picot schmunzelte.
– Doktor Billaud meint, angesichts der Totenstarre liege der Todeszeitpunkt vermutlich zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Niemand weiß, weshalb Montgomery Miller um diese Zeit so weit draußen in der wilden Düne war.
Amélie Morel blickte auf den flimmernden Sand hinaus. Von Zeit zu Zeit nahm sie so nonchalant wie möglich einen kleinen Zug, stieß den Rauch aber sogleich wieder aus. Hörte sie überhaupt zu?
Der Strand hatte sich bereits geleert und brütete unter der Mittagshitze. Nur zwei Köter jagten sich gegenseitig um die geschlossenen Strandzelte herum. Auf der Terrasse flaute das Stühlerücken und Aufstehen um die beiden herum langsam ab. Laurent Picot leerte sein Glas Weißen.
Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn, ich hab’s! Endlich!
– Laurent, den Monsieur Miller hab ich gestern Abend gesehen!
Dieser Herr, dessen Namen sie gestern noch nicht kannte, saß einige Tische von ihr entfernt hier auf der Terrasse, er hatte ihr den Rücken zugekehrt und trank einen Whisky. Sie saß bei ihrem Schlummertrunk, Pflaumenlikör, und hatte sich mit Madame Legrand, ihrer Tischnachbarin im Speisesaal, darüber gewundert, weshalb die Engländer und Amerikaner Whisky, dieses bittere Getränk, so liebten. Gegen elf war Monsieur Miller aufgestanden und an den Strand hinuntergegangen. Er hatte den Lichtschein durchquert, den die Terrassenlaternen auf den Sand warfen, und sich Richtung Strandcafé entfernt, das noch geöffnet war, und war dann im Dunkeln verschwunden ...
– Ich habe mir nichts dabei gedacht, Laurent ... er muss danach in den Dünen spazieren gegangen sein ... Weshalb? Der Himmel war bedeckt, die Nacht war dunkel und windig ...
– Und jetzt kommt’s, Laurent! Es ging mir die ganze Zeit im Kopf herum: die Kleider!
– Was ist mit seinen Kleidern? Ziemlich ausgefallen, ja.
Amélies Stimme überschlug sich beinahe:
– Monsieur Miller trug gestern Nacht, als er in die Dünen spazieren ging – was wir vermuten, nicht wahr! – andere Kleider! Eine unauffällige dunkle Hose und ein gestreiftes Hemd!
– Bist du dir da ganz sicher, Tante?
– Ja, ja! Mit der grünen Hose und dem Karohemd hab ich ihn nur einmal an einem Vormittag gesehen. Das ist doch sehr merkwürdig, nicht wahr, Laurent?
– Hm, nicht unbedingt, vermutlich ist er einfach zurückgekommen und hat sich umgezogen.
Amélie Morel sah ihn zweifelnd an. Diese Erklärung war ihr viel zu banal …
Auf der Terrasse saßen jetzt nur noch sie beide, alle andern Hotelgäste hatten ihre Plätze im Speisesaal eingenommen. Ungeduldig wartete sie auf die angekündigte Sensation. Sie war hungrig und es wurde langsam unerträglich heiß draußen. Sie hatte ihren Neffen zum Mittagessen ins Hotel eingeladen.
– Komm, gehen auch wir endlich essen! Der Service hat bestimmt schon begonnen. Du erzählst mir alles auf dem Weg zum Speisesaal!
Laurent nickte, drückte seine kaum angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. Galant reichte er seiner Tante den Arm. Sie errötete. Das noble Hotel färbte auf ihren kleinen Neffen ab.
– Jetzt erzähl endlich!
Doktor Billaud hatte den Inspektor im Chauffeurzimmer ungeduldig erwartet. Man hatte ihn heute Vormittag mitten aus der Sprechstunde geholt. Über zehn Patienten warteten vermutlich geduldig oder weniger geduldig auf seine Rückkehr. Der Hoteldirektor Monsieur Leroy schwirrte wie eine aufgeregte Hornisse im Gang umher und hielt allfällige Angestellte, die sich dorthin verirren sollten, von der Tür fern, die ins Zimmer führte, wo der Tote einstweilen lag. Bis man weiß, was weiter mit ihm geschehen soll.
Als der Inspektor mit Adrienne im Zimmer stand, in dem ihr toter Schwager lag, war das selbstsichere Fräulein doch ziemlich blass, ihre Lippen zitterten ...
– Mademoiselle Adrienne gefällt dir, gib’s zu!, Amélie tätschelte lächelnd den Arm ihres Neffen.
– Ach was!, Laurents Wangen röteten sich, unterbrich mich nicht ständig, Tantchen, wenn du hören willst, was sich ereignet hat …
Im engen Raum war es stickig, die Läden vor dem Fenster waren zugezogen, ein kümmerliches elektrisches Deckenlicht brannte. Laurent Picot schwitzte in der drückenden Stille, die der Tod verbreitete. Ein modriger Algengeruch hing im Raum, vermutlich von den Kleidern des Toten, vom auffälligen rotgrünen Karohemd und der grünen Hose. Auf der andern Seite der Zimmertür, die auf den Flur hinter der Rezeption führte, lachte fröhlich das ahnungslose Leben, helles Stimmengemurmel drang von außen in den dämmrigen Raum.
Der Tote, der auf der mit einem Leinen abgedeckten Matratze lag – das Bett war nicht gemacht, Kissen und Wolldecke hatte man schnell zur Seite geräumt – war mit einem zweiten Laken zugedeckt. Die rechte Hand blieb sichtbar, zur Faust geballt.
Doktor Billaud wandte sich leise an ihn, der Tote habe verschiedene Schürfungen und Kratzer im Brustbereich, am Hals und im Gesicht, die könnten von Steinen im Wasser stammen …
Es herrschte eine nervöse Reglosigkeit im Raum, die ihm merkwürdig vorkam. Aber die Situation, der ertrunkene Miller, aufgebahrt auf dem Bett des künftigen Chauffeurs, war ja alles andere als alltäglich.
– Darf ich?
Doktor Billaud war bereit, das Laken vom Gesicht des Toten zu ziehen. Er nickte und bemerkte mit Erleichterung, dass der Doktor das Gesicht des Toten etwas gereinigt und ihn gekämmt hatte.
Zögernd trat die Schwägerin des Miller Montgomery näher. Ihre Augenlider bebten.
– Ich … ich hab noch nie einen Toten gesehen … der Tod verändert das Gesicht.
– Ja, zudem hat der Mann mehrere Stunden im Salzwasser gelegen ...
– Geht es, Mademoiselle?, fragte der Doktor nach einer Weile besorgt.
Sie nickte tapfer.
– Es ist Montgomery, ja.
In dem Augenblick – Doktor Billaud wollte gerade das Laken wieder über das Gesicht des Toten ziehen – wurde die Tür aufgerissen und Madame Miller stürzte ins Zimmer, gefolgt vom händeringenden Hoteldirektor Leroy, der es nicht geschafft hatte, sie aufzuhalten.
Sie rannte zum Bett und blieb wie angewurzelt vor ihrem toten Mann stehen, sie zitterte am ganzen Körper und schrie mit dünner Stimme, die dem jungen Inspektor in den Ohren wehtat:
– Nein, nein, das kannst du mir nicht antun … Montgomery, nein!
Dann warf sie sich über den Toten und schluchzte fassungslos.
War das ein Tumult in dem engen Zimmer! Die untröstliche Madame Miller auf dem Gesicht des Toten … ihre erschrockene Schwester … der hysterische Hoteldirektor … der brummige Doktor Billaud, der endlich nach Hause wollte ... und mittendrin er selbst, der jetzt dringend eine Zigarette gebraucht hätte.
Laurent brach ab, er blieb vor dem Speisesaal stehen und hielt seine Tante zurück, er will die Geschichte draußen zu Ende erzählen, das ist nichts für die allzu neugierigen Ohren und Münder der Tischnachbarn.
Amélie brannte vor Neugier.
– Erzähl endlich, beeil dich! Die tragen schon die Suppe auf!
Hinter der Glasscheibe der Doppeltür sah man die Kellner ihre Servicewagen, auf denen große silberne Schüsseln dampften, zu den Tischen fahren.
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