Название | Die schiere Wahrheit |
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Автор произведения | Ursula Hasler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038552307 |
Unglaubliche Überwindung hat es ihn gekostet, den unbekannten Doktor Schöni um ein Rezept für Morphium zu bitten. Höflich zu bitten. Er hat allen unredlichen – welch schönes Wort! – Versuchen, Mo zu beschaffen, abgeschworen. Alles für die Katz jetzt. Natürlich hat der Doktor keinen Rezeptblock in die Ferien mitgenommen. Es tue ihm leid, meinte Schöni, aber vermutlich würde Herrn Glauser das Rezept eines Schweizer Arztes hier in Frankreich eh nicht viel nützen. Er bedaure sehr, denn er halte viel von ihm, seine Frau lese gerade begeistert Wachtmeister Studers zweiten Fall «Matto regiert». Die Irrenanstalt als Tatort, haha, schön mutig von Ihnen, die eigenen Erlebnisse zu nutzen! Beinahe hätte der Doktor ihm auf die Schulter geklopft. Er bedaure wirklich sehr.
Seit einer Stunde sitzt Glauser jetzt hier, er hat einen verwaisten Strandsessel in Beschlag genommen, kein Geld für ein Mittagessen, die letzten Francs für die Rückfahrkarte ausgegeben. Für nichts. Zigaretten hat er noch drei. Der Zug zurück fährt erst am späten Nachmittag.
Wenn der Glauser zurückfährt. Wenn der nicht einfach hier sitzen bleibt. Es ist alles so schwarz und vermauert, so bodenlos nutzlos. Er möchte schreiben, hat den Kopf voll schöner Dinge. Aber dann stößt sein Kopf wieder an eine blöde Wirklichkeit und dann ist die Leere wieder da. Die man nur mit Mo aushält. Und manchmal erstickt man fast an sich selbst. Es ist, als ob das Ich plötzlich die Wassersucht bekommen hätte. Es kommt jetzt alles Unverdaute, die langen Internierungsjahre, Witzwil, die Kindheit, wie ein Schwall von üblem Wasser heraus, sodass man fast daran ertrinkt.
Aber nein. Die Flut fließt zurück, das Wasser flieht. Selbst das Meer weicht vor ihm zurück. Er sitzt hier fest. Bis in alle Ewigkeit.
Die Ewigkeit ist manchmal gnädig und von kurzer Dauer.
Ein mächtiger Schatten wächst plötzlich im Sand vor Glauser. Grell ist die Sonne. Zwei Männer stehen im Gegenlicht vor ihm.
Doktor Schöni entschuldigt sich für die Störung. Er habe ihn überall gesucht.
Herr Glauser, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, Monsieur Georges Simenon, der Autor der Maigret-Romane, von dem Sie bestimmt schon gehört haben.
Verwirrt legt Glauser die Hand über die Augen. Vermutlich leidet man bereits an Entzugshalluzinationen.
Nein. Auf Glausers Augenhöhe stehen hellgraue Flanellhosen und dunkelblaue Leinenschuhe, die sehr wirklich aussehen. Der Herr, der sich ihm jetzt vor die Sonne stellt und seinen Schatten auf ihn wirft, damit es ihn nicht so blende, ist mittelgroß, eine sportlich elegante Erscheinung.
Glauser springt auf, hat kaum Zeit zu denken: Herrgott! Wenn ich einmal so elegant daherkommen könnte! Wer solchen Herrenschneider besäße!, als sich genau in diesem Augenblick die peinliche Szene mit dem roten Ball ereignet. Der Ball trifft Glauser so wuchtig am Hinterkopf, dass er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.
Er wehrt heftig ab, als Doktor Schönis fürsorglicher Arm ihn auffangen will.
Simenon liest den Ball auf, sieht sich um und entdeckt in einigen Metern Entfernung einen Jungen, der sich nicht traut, sein Geschoss wieder zu holen, und ein Kindermädchen, das ihn heftig ausschilt. Simenon winkt dem Kleinen, entschuldige dich, dann kriegst deinen Ball wieder!
Schon gut, wehrt Glauser erneut ab. Den Kopf in den Sand stecken möchte man am liebsten wegen dieser beschämenden Ballszene, ausgerechnet vor dem großen Simenon. Keine Ursache sich zu schämen, der Ball hätte doch genauso gut den andern treffen können. Nein, einen Georges Simenon trifft nie ein hinterhältiger Ball am Kopf. Es gibt Leute, die beschützt das Leben, einfach so, die haben meistens Glück, während unsereins ständig Pech hat. Bis heute.
Seit über einer Stunde schlendern Georges Simenon und Friedrich Glauser jetzt über den Strand und reden und reden. Doktor Schöni hat sich bald verabschiedet, Mittagessen mit der Familie, die Herren wollen ihn entschuldigen.
Mittlerweile ist Ebbe. Simenon holt mit der Pfeife in der Hand zu einer weiten Geste über die flache Sandebene aus. In der Ferne plätschert olivgrün der Ozean.
Sehen Sie, Monsieur Glosère, dieses erwartungsvolle Abwarten des Meeres bei Ebbe, es scheint all seine Kräfte zu sammeln, um Anlauf zu nehmen, den Strand wieder zu fluten. Kleine braune Wellen scharren ungeduldig am Sand, wie nervöse Rennpferde vor dem Start … die Leute hier sagen, das Wasser steige bei Flut mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Na ja. Fischerlatein vermutlich.
Die ganze Situation ist unwirklich, geradezu rauschhaft. In seinen kühnsten Fantasien hätte Glauser sich nicht auszumalen gewagt, dass der Glauser eines Tages mit dem Simenon am Atlantikstrand spazieren geht, einfach so, und noch viel verrückter, mit seinem «Lehrer» über das Schreiben von Kriminalromanen redet!
Vor zwei Monaten erst hat er den offenen Brief an Brockhoff – eine Replik auf dessen alberne «Zehn Gebote für den Kriminalroman» – mit den Sätzen abgeschlossen: «Ich möchte Georges Simenon danken. Was ich kann, habe ich von ihm gelernt. Er war mein Lehrer – sind wir nicht alle jemandes Schüler?»
Und jetzt reden und gestikulieren die beiden Schriftsteller und sehen nichts um sie herum, weder die grauen Wolken, die am Horizont aufziehen und sich immer häufiger vor die Sonne schieben, noch dass sie inzwischen weit und breit die einzigen Spaziergänger auf dem Strand sind. Immer hält mal der eine, mal der andere an, um eine erloschene Pfeife anzuzünden oder die bald letzte Zigarette anzustecken, um ein Argument zu präzisieren oder eine Aussage zu bekräftigen, was sich alles schlecht mit dem Gehen vereinbaren lässt. Bis das Ungeheuerliche geschieht.
Der Austausch zwischen den beiden Männern über ihre Erfahrungen beim Schreiben von Kriminalgeschichten verläuft so angeregt, dass Glauser in einem Anfall von Größenwahn ruft – auch später, wenn er an diesen Augenblick dachte, blieb ihm unverständlich, was in ihn gefahren war, vielleicht wirkte das Mo nach –, er ruft: Man müsste das mal an einem Fall ausprobieren!
Simenon schaut auf.
Sie meinen, konkret an einer Geschichte anwenden? An einem Fall, den wir beide gerade hier und jetzt erfinden? Gemeinsam erfinden? Ihre Vorstellungen und meine, meine Erfahrungen und Ihre. Ihre Einfälle, meine Ideen …
Verstohlen riskiert Glauser einen Blick zu Simenon hinüber, das kann der wohl nicht ernst meinen. Dem jedoch gefällt die Idee so außerordentlich, dass er Glauser auf die magere Schulter klopft, welch ein Ritterschlag!, und bevor der sich fassen kann, legt Simenon los:
Wir lassen unseren Fall gleich hier vor Ort spielen, im Hôtel de la Plage in Saint-Jean-de-Monts. Das mache er oft. Er reise sehr viel und siedle die Handlung seiner Romane gerne an den Orten an, die er besucht hat, so kenne er die Umgebung, das Milieu, habe die Luft dort eingeatmet. Noch nie habe er ein Milieu erfunden, eine Atmosphäre wie die Kritiker sagen.
Diese viel zitierte Atmosphäre, Monsieur Glosère, sie ist in meinem Gedächtnis! Die Bilder habe ich alle im Kopf. Bevor ich einschlafe, lasse ich mein persönliches Kino laufen, sobald ich die Augen schließe, tauchen die Bilder auf und tanzen vorbei. Sehr wichtig, dass man die Stimmung gut erfasst – sie ist der Schlüssel zu den Leuten, zu ihren dunklen Geheimnissen!
Glauser nickt.
Aber wir ändern den Namen des Ortes, wir brauchen etwas dichterische Freiheit, sonst schränken uns die realen Fakten zu sehr ein. Der Einfachheit halber, Simenon lacht – ein ganz wenig verlegen, scheint es Glauser, nennen wir den Ort doch Saint-Georges. Hoffe, Sie haben nichts dagegen!
Ein bisschen eitel, der Simenon, denkt sein Begleiter, aber wer so berühmt ist, kann sich das erlauben.
Nein, er hat nichts dagegen. Was soll Glauser sonst vorschlagen, Saint-Frédéric? Wäre origineller, aber gibt es überhaupt einen heiligen Friedrich?
Simenon nimmt die Pfeife in die Hand und dreht sich zu Glauser.
Sie müssen wissen, Monsieur Glosère, dass ich meinen Maigret