Die schiere Wahrheit. Ursula Hasler

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Название Die schiere Wahrheit
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552307



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Die Kleider!

      Was war mit den Kleidern des Toten? Tatsächlich war er auf­fällig gekleidet, grünrot kariertes Sporthemd mit weichem Kragen, eine ebenso ungewöhnliche, knallgrüne Hose.

      Diese Kleider kannte Amélie Morel.

      Vorgestern war ihr im Frühstücksraum des Hotels ein mo­disch gekleideter Herr in grüner Hose mit passendem Karohemd aufgefallen, der allerdings am andern Ende des Speisesaales und von ihr abgewendet saß, sodass sie dessen Gesicht nicht sehen konnte. Sie fand die Kombination sehr apart, sie hatte in all den Jahren mit Monsieur Milcent einen Kennerblick für modische Kleidung entwickelt, es gab in seinem Umfeld einige extravagante Damen und Herren.

      Es war der Mann, der jetzt vor ihr lag. Ein Gast aus ihrem Hotel!

      Ja, vermutlich war der Mann ertrunken, Algenreste hatten sich in den wirren Haaren verfangen, die Kleider waren durchnässt, er lag auf dem feuchten Strandteil, aber ganz oben, beim Übergang zum trockenen Sand.

      Amélie Morel betupfte mit dem Taschentuch die Stirn und fächelte sich etwas Luft unter den Hut. Ihre Gedanken arbeiteten mit Volldampf. Sieht nicht alles so aus, als ob die Flut ihn herangeschwemmt und hier liegen gelassen hat? Ertrunken könnte er an einer ganz andern Stelle sein ...

      – Gaston, weißt du, wann Fluthöchststand war?

      Das Fräulein Doktor brauchte ihn! Gaston schaute eifrig hin­unter, das Wasser war weit weg, Ebbe, aber es begann zu steigen. Er legte den Finger an die Lippen, eine Geste, die er den Großen abgeschaut hatte …

      – Vor etwa sieben Stunden, in der Nacht, Mademoiselle!

      Kaum zu glauben, mit welcher Präzision dieser Kleine re­dete. Sie wusste nicht, wie spät es jetzt war, sie nahm ihre kostbare Armbanduhr, auch ein Geschenk von Monsieur Milcent, nie mit an den Strand.

      – Gut. Hör mal, du rennst jetzt ins Hotel zurück, sagst dem Portier – aber so, dass es niemand hört! –, er soll sofort den Gen­darmen und den Doktor anrufen. Du kennst die beiden bestimmt? Wenn sie im Hotel ankommen, bringst du sie diskret hierher! Diskret, hast du verstanden?

      Der Junge zögerte, auch den Doktor? Aber Sie sind doch hier? …

      – Mach, was ich dir gesagt hab! Beeil dich!

      Amélie Morel, die leider kein Fräulein Doktor war, aber praktisch so viel wie ein Doktor wusste, schaute lächelnd dem Jungen nach, der im weichen Sand davonhüpfte, als wäre der Teufel hinter ihm her.

      Die Sonne brannte auf den Toten mit der grünen, jetzt verschmutzten Hose und dem dazu passenden Karohemd. Sollte man ihn nicht vielleicht zudecken?

      Sie sah sich um. Außer Dünengras, trockenen Algen, ausgebleichten Muscheln und wenig Treibholz gab es nichts am Strand. Die Totenwache wird etwas dauern, bis die andern kommen.

      Sie setzte sich neben den Toten in den Sand und betrachtete ihn lange – aristokratische Gesichtszüge, männliche Nase, schmale Lippen, zu gerne hätte sie seine Augen gesehen – ein schöner Mann und erfolgsverwöhnt, es gab einige solche Herren um Monsieur Milcent herum.

      Sie war aufgeregt. Vielleicht war es ja nur ein banaler Unfall. Vielleicht aber ein Verbrechen! Und sie mittendrin! Denn … gibt es da nicht zu viel Merkwürdiges? Was hatte der Mann so weit draußen in der wilden Düne zu schaffen? Mitten in der Nacht? Und seine auffallende Gesichtsfarbe, rosig, als ob er noch atmen würde, aber gleichzeitig auch dieser verkrampfte Mund …

      Gibs zu, Amélie, du möchtest gerne, dass es ein richtiges Verbrechen ist, ein Mord! Sie schnürte ihre Schuhe auf. Dann klopfte sie die Schuhe gegeneinander, damit aller Sand hinausrieselte. Ihre Wangen glühten. Endlich kommt etwas Bewegung in diesen geruhsamen Urlaub! Das erzwungene Nichtstun lähmte sie wie … ja, wie ein Nervengift! Mit Giften kannte sie sich als Krankenschwester ein bisschen aus ... alles eine Frage der Dosierung.

      In Strümpfen im Sand sitzend, mit dem Blick aufs Meer, murmelnd und gestikulierend, so fand Inspektor Laurent Picot eine Stunde später seine Patentante neben dem Toten.

      Er hatte sich gerade in der Gendarmerie in Challans aufge­halten, als der Anruf kam, und eine halbe Stunde später war er im Hotel eingetroffen und danach gleich mit dem Dorfarzt, Doktor Billaud, in dessen Automobil bis ans Ende des Dünenweges gefahren, unter der Führung des aufgeregten Jungen. Der Portier Monsieur Bertrand hatte auch den Hausburschen mitgeschickt.

      Der Hoteldirektor Eugène Leroy, geradezu in Panik, hatte nur ein Fräulein Doktor erwähnt, das den Toten gefunden und als Gast seines Hauses identifiziert habe – welch eine Kata­strophe! Mon dieu! Absolute Diskretion meine Herren! Wer will schon in einem Hotel wohnen, wo die Gäste unter merkwürdigen Umständen ums Leben kommen!

      – Das erklärst du mir nachher, Tantchen, warum die glauben, dass du ein Fräulein Doktor bist! Und wie kommt es, dass ausgerechnet du den Toten gefunden hast?

      – Es war der Strandjunge. Er hat mich geholt. Außer mir wa­ren nur wenige Kindermädchen am Strand. Sag mal, ist er ertrunken?

      Mit roten Wangen zog Amélie Morel sich an Laurents Hand aus dem Sand hoch. Für diese Doktorsache konnte sie wirklich nichts, da hat der Portier sich etwas zusammengereimt.

      Der junge Inspektor sah sich um. Die Spurensuche nach der Flut kann man vergessen, zudem sieht es aus, als hätten die Wellen den Körper nur hier angeschwemmt.

      Der echte Doktor beugte sich über den Toten, Billaud un­ter­suchte ihn oberflächlich und brummte, ziemlich sicher er­trunken, der Inspektor durchsuchte die Hosentaschen und fand einen amerikanischen Führerschein auf den Namen «Montgomery R. Miller». Ziemlich aufgeweicht, aber noch lesbar.

      – Ich hab doch gleich vermutet, dass es ein Ausländer ist!, rief Amélie Morel, kein Franzose würde sich so exzentrisch kleiden! So modisch. Schade eigentlich … fügte sie hinzu.

      Niemand kümmerte sich um sie, zu dritt schleppten sie den Toten auf die Düne bis zum Automobil, bestimmt über hundert Meter weit. Der Doktor platzierte ihn wie einen Fahrgast im Fond des Wagens, anders war es nicht möglich, und den Hausburschen daneben, stütz ihn! Kreideweiß war der arme Kerl. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen. Der tote Monsieur Miller wurde ins Hotel zurückgebracht, der Doktor wollte ihn noch genauer untersuchen. Der Direktor – absolute Diskretion! – gab ihnen dafür einen unbenutzten Raum im Erdgeschoss, das Zimmer des Chauffeurs, der seine Saisonstelle erst in ein paar Tagen antreten würde. Das Zimmer hatte einen direkten Zugang zum Hof, wo sich die Garagenboxen für die Auto­mobile der Gäste befanden. So würden sie den Toten unbemerkt ins Haus schaffen können.

      Amélie Morel und Gaston gingen zu Fuß über den Strand ins Hotel zurück. Da war kein Platz mehr im kleinen Wagen, aber selbst wenn, hätten keine zehn Pferde weder Amélie noch den Jungen in dieses Leichengefährt gebracht. Auf dem Rückweg tanzte Gaston aufgedreht um das Fräulein Doktor herum, die Zeitung … sicher kommt morgen ein langer Artikel … die stellen mir bestimmt viele Fragen … Ihnen auch Mademoisel­le! … Wir werden berühmt …

      – Sei endlich still, Kleiner! Du sollst mit niemandem da­r­über reden, hat der Inspektor dir doch eingeschärft. Und geh schon voraus!

      Sie musste nachdenken, das Geplapper des Jungen störte sie, etwas mit dem Toten beschäftigte sie, etwas zwickte ihre Gedanken und sie bekam es einfach nicht zu fassen, dieses Etwas ...

      Erhitzt und durstig kam sie im Hotel an und ging gleich in die Bibliothek neben dem Frühstücksraum, wo sich auch die Bar befand. Dort war es noch angenehm kühl und ruhig. Sie bestellte eine Limonade mit Eis und ließ sich in einen Sessel fallen.

      Zwei Tische weiter saß eine Dame und blätterte durch eine Illustrierte. Sie wirkte mädchenhaft, aber ihr weißes Tailleur war für die Tageszeit und den Urlaubsort doch zu elegant, Amélie Morel musterte sie ungeniert. Ihre Haut war von einer ungewöhnlichen Blässe, sie hatte mit Bestimmtheit nicht den kleinsten Sonnenstrahl abbekommen. Dass mir bloß niemand zu nahe kommt, schien ihre ganze Erscheinung auszudrücken.

      Amélie hatte sich gerade etwas von ihrem Strandmarsch erholt und nippte an der erfrischenden Limonade,