Die schiere Wahrheit. Ursula Hasler

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Название Die schiere Wahrheit
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552307



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      Simenon bricht plötzlich ab. Er starrt mit zusammengezogenen Augenbrauen aufs Meer, die Hände in den Taschen seiner hellgrauen Flanellhose vergraben, die Pfeife im Mundwinkel festgebissen.

      Der vermaledeite Mai­gret hat ihn wieder erwischt! Gibt keine Ruhe, obwohl er vor vier Jahren dafür gesorgt hat, dass es mit Mai­grets Karriere zu Ende war. Er hat ihn von den Vortei­len der vorzeitigen Pensionierung überzeugt, ihm ein hübsches Landhaus in der Nähe von Orleans erfunden, am Ufer der Loire, in Meung-sur-Loire, geruhsames Landleben mit Mada­me Mai­gret, Gartenarbeit, Rosen, Tomaten, Kohlköpfe … was will man mehr.

      Glauser wundert sich über Simenons plötzliches Schweigen, dann versteht er. Er weiß, dass Simenon die erfolgreiche Mai­gret-Reihe beendet hat. Manchmal verhindert genau der Erfolg, dass man sich als Schriftsteller weiter entwickeln kann.

      Glauser seufzt. Auch er, bei Weitem nicht so bekannt wie der Schöpfer der Mai­gret-Romane, ist nach zwei Studer-Romanen bereits der Gefangene seiner Figur und des Publikums. Er hockt in der Studer-Falle.

      Natürlich freut es einen, dass die Leute den Studer mögen. Es geht einem zwar ein wenig wie dem Zauberlehrling. Man hat den Studer zum Leben erweckt – und sollte jetzt auf Teufel komm raus Studer-Romane schreiben und schriebe doch viel lieber etwas ganz anderes. Ja, man hat Angst, in der Manier zu erstarren und das natürliche Feld der Begabung zu verengen, wenn man nur im Kriminalschema bleibt. Auf einmal ist man als Sensationsschriftsteller verschrien und niemand nimmt einen mehr ernst. Und manchmal muss er seine Fantasie so anstrengen, um für Kriminalromane Handlungen zu erfinden, dass er glücklich ist, wenn er einmal etwas schreiben darf, wo er sich nicht mit Fäden, Ficelles und anderen Schnüren abplagen muss. Denn Glauser möchte endlich etwas «Anständiges» schreiben.

      Ebenso Simenon, der seinen Kommissar in Pension ge­schickt hat, um sich endlich einen Namen als wahrer Schriftsteller zu machen, Schluss mit Schreiberling von «Polars». Jetzt möchte er die nächste Stufe erreichen.

      Er dreht sich zu Glauser.

      Sie wissen vermutlich, Monsieur Glosère, dass ich die Mai­gret-Reihe nicht mehr weiter führe. Als Fayard, mein alter Verleger, es erfuhr, hat er mir wütend prophezeit, dass es noch nie ein Kriminalschriftsteller in die große Literatur geschafft ha­be, dass ich nicht dafür gemacht sei, sondern für populäre Literatur. Was das einfache Volk lese.

      Simenon gestikuliert mit seiner Pfeife.

      Dabei hat ausgerechnet dieser Fayard mir damals vorgeworfen, als er die Manuskripte meiner ersten Mai­grets gelesen hatte, das breite Publikum wolle sowas nicht lesen, es seien keine Liebesgeschichten, weder wirklich gute noch wirklich böse Figuren, keine Helden und es ende immer schlecht. Es seien düstere Geschichten, aber keine Kriminalromane. Sie drehen sich nicht um ein Problem, das es zu lösen gelte wie bei einer Schachpartie. Es gebe keine Rätsel, also sei es auch kein Kriminalroman … Der Held sei nur ein simpler Beamter, weder schön noch stark noch außergewöhnlich … Er sei schwerfällig und habe keinen Schneid …

      Simenon nimmt einen kräftigen Zug aus der Pfeife.

      Nun, Fayard hat sich gründlich getäuscht. Die Leser liebten meinen Mai­gret. Ich hab dann fast ein Jahr später – ich brauchte Geld – einen allerletzten Mai­gret nachgeschoben: Der pensionierte Kommissar muss seinen Neffen Philippe aus der Patsche holen. Offensichtlich sind mir da ein paar Fehler zu Mai­grets Biografie unterlaufen, wie mir aufmerksame Leser vorgeworfen haben. Mein Gott, die Leute vergessen, dass Mai­grets Leben eine erzählte Welt ist, die sich halt verändert. Zu­dem lese ich meine eigenen Romane nach dem Schreiben nicht mehr. Was soll’s, es war eh der letzte Mai­gret.

      Er hat weit über dreißig ernst zu nehmende Romane veröffentlicht, seit zwei Jahren beim renommierten Literaturverlag Gallimard. Und vor zwei Monaten ist sein erster großer Roman erschienen, über die Reederfamilie Donadieu aus La Rochelle. Sein Meisterwerk! Und jetzt, Monsieur Glosère, bin ich bereit für die große Literatur!

      Glauser wirft seinem Begleiter einen schnellen Seitenblick zu, an Selbstzweifeln scheint der Simenon jedenfalls nicht zu leiden. Ganz im Gegensatz zu einem selbst. Aber da täuscht sich Glauser.

      Simenon schaut in die Weite, die Pfeife im Mundwinkel, die Hände wieder in den Taschen seiner maßgeschneiderten Hose.

      Zugegeben, letzten Herbst ist er kurz schwach geworden und hat schnell eine Serie von acht kleinen Mai­gret-Erzählungen für das Feuilleton von «Paris-Soir Dimanche» verfasst. Fin­ger­übungen. Schnell und leicht verdientes Geld, das er brauchte …

      Jetzt aber – was war er soeben im Begriff zu tun? Doch wie­der einen richtigen Mai­gret-Fall zu erfinden? Er hat Mai­gret in den Ruhestand geschoben, um vor ihm Ruhe zu ha­ben. Aber der Kommissar will sich nicht zur Ruhe setzen. Er brummt in seinen Gedanken herum. Hatte Fayard doch recht, als er ihm hämisch voraussagte, er werde den Geist des hartnäckigen Kom­missars, einmal gerufen, nicht so leicht wieder los?

      Das wollen wir doch mal sehen. Der Simenon auf dem Weg hinauf zum literarischen Olymp wird mit Sicherheit keinen Mai­gret-Rückfall erleiden. Also endgültig Schluss mit dem Kommissar, mit dem Quai des Orfèvres, Schluss mit den Inspektoren Lucas, Torrence und Janvier, die Mai­gret herumkommandieren durfte.

      Simenon holt tief Luft und dreht sich zu Glauser.

      Nein, für unsere Geschichte schaffe ich eine ganz andere Figur. Als Gedankenspielerei, als Versuch. Kein Kommissar, kein Polizist, keine Erfahrung als Detektiv, jünger, ja, in allem das Gegenteil von Mai­gret. Um ihn gründlich zu exorzieren.

      Simenon, leicht verlegen, verspürt große Lust, zur Abwechslung mal einen weiblichen Detektiv zu schaffen. Ein Laie, eine Frau, die auf ihre Weise bei der Aufdeckung der Wahrheit hinter einem Verbrechen mitarbeitet ...

      Was halten Sie davon, Monsieur Glosère?

      Er scheint nicht ernsthaft von Glauser eine Antwort zu er­warten und schaut wieder über die Wellen.

      Amélie Morel soll sie heißen, um die fünfzig herum, mit flinkem Verstand und wachen Augen, sie steckt ihre Nase gern in fremde Angelegenheiten … eine Krankenschwester …

      Warum eine Krankenschwester?, wagt Glauser schüchtern zu fragen.

      Medizinische Kenntnisse sind immer von Vorteil, wenn man es mit Verbrechen zu tun hat, meint Simenon mit der Pfeife im Mundwinkel, Medizin habe ihn immer fasziniert. Er hatte Medizin studieren wollen; nach dem frühen Tod seines Vaters hieß es jedoch, sofort Geld zu verdienen.

      Er nickt. Amélie Morel steht bereits vor ihm, eine kleine, umtriebige Dame, dunkle Haare, in denen die ersten Silberfä­den schimmern, immer eine vorwitzige Locke in der Stirn, sie nickt ihm zu und lächelt, beinahe komplizenhaft. Sie ist im Hôtel de la Plage im Urlaub … das kann sie sich als Krankenschwester aber nicht leisten … sie muss irgendwie zu Geld ge­kommen sein … Ja, genau. Bis vor Kurzem war sie als Pflegerin bei einem alten Mann in Stellung, ein Industrieller aus Nantes. Als er starb, hat er ihr ein wenig Geld vermacht. Damit gönnt sie sich jetzt erstmals in ihrem Leben richtig Urlaub, im Hôtel de la Plage in Saint-Georges.

      Simenon sinniert immer noch über das Meer.

      Da die Dame keine polizeiliche Ermittlung durchführen kann, brauchen wir einen Inspektor, der aber eine Nebenrolle spielen soll … Laurent Picot, ein junger Inspektor mit noch we­nig Erfahrung … und er ist Amélie Morels Neffe! Sie muss ja irgendwie an die Informationen kommen, nicht wahr.

      Simenon pafft ein paar Züge. In seinem Kopf beginnen die Bil­der zu tanzen, sich ineinanderzufügen, das Räderwerk der Handlung setzt sich unaufhaltsam in Bewegung … Wie verbringt Amélie Morel die ersten Urlaubstage ihres Lebens, Tage ohne Aufgaben, ohne Pflichten, ohne geregelten Ablauf, ohne Routine, dafür mit viel Langeweile? Bestimmt hat sie sich vom ersten Tag an eine Ordnung geschaffen, die ihr Halt gibt. Sie ist frühmorgens oft die Erste am Strand, wer ein Leben lang früh auf muss … Sie kommt mit einem Buch und holt sich selbst ei­nen Liegestuhl, wenn der Strandjunge etwas Verspätung hat …

      Glauser steht neben ihm, die Hände in den ausgebeulten Ho­sentaschen, wartet und wundert sich, warum das Meer