Die schiere Wahrheit. Ursula Hasler

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Название Die schiere Wahrheit
Автор произведения Ursula Hasler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038552307



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zu wollen, mit sich ... ihr toter Mann lag bis zum Hosenbund nackt da, das Hemd war offen. Madame Miller bemerkte durch die Tränen ihr Ungeschick, sie wollte das Tuch wieder auf den Körper ihres Mannes legen … und stutzte ab­rupt ... sie beugte sich über seinen Bauch und starrte, reglos ...

      Im Zimmer war alles verstummt. Draußen ging das Leben weiter, die Tür zum Hof schloss nicht sehr gut, das Zufahrtstor quietschte, man hörte einen Motor knatternd in den Hof fahren und schließlich stehen bleiben, eine Fehlzündung knallte im Auspuff, Stille, dann schlug eine Wagentür zu, und eine Stimme rief etwas Unverständliches.

      – Das … das kann nicht …

      – Wie bitte?

      – Der … der Mann da … ich glaube, es ist nicht mein Mann …

      Verschüchtert schaute Madeleine Miller, die wie ihre Schwester nie zuvor einen Toten gesehen hatte, den Doktor an.

      Der Doktor kratzte sich am Hinterkopf und schaute den Inspektor an.

      – Aber Ihre Schwester und der Herr Hoteldirektor ebenfalls haben ihn eindeutig …

      – Nein!

      Die Stimme der zarten Witwe Miller klang mit einem Male resolut, als ob eine unerwartete Hoffnung ihr plötzlich Kraft verliehen hätte.

      – Der da ist nicht mein Gatte! Der sieht aus wie Montgo­mery, aber er ist es nicht!

      Amélie Morel riss die Augen auf.

      – Das hat sie tatsächlich gesagt, die Ehefrau?

      – Ja, Doktor Billaud meinte, wohl ein klarer Fall von Augenverschließen vor der Realität.

      Durch die Glasscheibe der Speisesaaltür drang das vertraute Stimmengemurmel beim Mittagessen, Gelächter, eifriges Besteckeklappern und Gläserklirren. Als Laurent die Schwingtür öffnete, wurden die Geräusche sehr laut, und die Fischsuppe dampfte schnell ihre Düfte in die Eingangshalle hinaus.

      – Man kennt das, Kinder machen vor etwas Bedrohlichem die Augen zu, dann existiert es nicht mehr … Madame Miller wird akzeptieren müssen, dass ihr Mann tot ist, meinte der junge Inspektor altklug.

      – Die merkwürdigen Umstände seines Ertrinkens reichen mir vollauf als Komplexität! Jedenfalls habe ich eine Autopsie angeordnet. Um sicherzugehen, dass er ertrunken ist. Die Leiche wird nach La Roche-sur-Yon ins Gerichtsmedizinische gebracht ...

      Amélie kribbelte ein Schauder über den Rücken. Denn ein verwegener Gedanke drängte sich in ihrem Kopf hervor.

      Da Laurent vor seiner Tante in den Speisesaal trat, sah er nicht, wie sie eine hoffnungsvolle Augenbraue hochzog.

      – Und wenn sie recht hat, die Ehefrau?, fragte Amélie Morel hinter seinem Rücken.

      Die beiden Schriftsteller: Wie man in eine Kriminalgeschichte einsteigt und Glausers Zweifel

      Simenon dreht sich zu seinem Begleiter um.

      So, den Anfang hätten wir! Selbstverständlich lässt sich daran noch herumfeilen und das eine oder andere Adjektiv streichen, wie üblich. Aber mal eine erste Skizze. Es kommt ja sehr darauf an, nicht wahr, cher collègue, wie man in eine Geschichte einsteigt. Ob man dem Leser die Möglichkeit gibt, den künftigen Toten erst als lebendigen Menschen kennenzulernen, oder ob das Opfer bereits zu Beginn tot ist. Diese Variante scheint mir für unser Vorhaben besser geeignet …

      Die beiden stehen im Sand am Rand der Düne. Weiße Wolken mit grauen Bäuchen jagen vor der Sonne durch, ihre Schatten rasen über den Sand, hell, dunkel, hell, dunkel.

      Also, Glosère, was halten Sie von dieser Ausgangslage für eine Kriminalgeschichte? Eröffnet dieser Anfang genügend Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der Handlung? Sie müssen jetzt Ihren Stüdère in die Geschichte bringen und ich übernehme danach wieder mit meiner Amélie und ihrem In­spek­torneffen und so weiter. Mal sehen, wohin uns das führen wird …

      Der große Simenon fragt, was er, Friedrich Glauser, vom Anfang der Kriminalgeschichte halte! Glauser ringt zwischen Stolz und Verlegenheit um die richtigen Worte.

      Er wüsste nicht, was ändern, murmelt er schließlich neidvoll.

      Seine Anfänge … Herrjeh … Auch er wirft sie zügig hin und dann – geht meist nichts mehr. Die Handlung verliert sich wie ein Trampelpfad im dichten Unterholz und man kommt nicht weiter … Oder man sieht wie beim «Matto» vor lauter Details die ganze Handlung nicht mehr. So abgeplagt wie mit diesem Roman letztes Jahr hat er sich nicht mal mit seinem Legionsroman! Den ganzen Anfang musste er mehrmals umschmeißen. Und die unzähligen Umarbeitungen der leidigen «Fieberkurve» … der Roman will einem einfach nicht gelingen. Man muss immer wieder von vorne anfangen, und er will und will keine Form annehmen, obwohl man Erfindungsgabe und Ar­beit daran vergeudet!

      Man kommt so langsam dahinter, wie schwer es ist, einen passablen Kriminalroman zu schreiben. Er hat gemeint, dass man mit ein paar gelungenen Details einen Roman auf die Beine stellen könne. Das stimmt nicht, leider gar nicht. Das ist es, was man in Selbsterkenntnis und Selbstkritik festgestellt hat. Es ist immer die alte Geschichte! Man merkt plötzlich, dass man eigentlich noch gar nichts kann.

      An die Amélie Morel, lacht Simenon, muss er sich allerdings erst gewöhnen … aber die eigenwillige kleine Dame wird es schaffen, ihrem etwas naiven Neffen die Würmer aus der Nase zu ziehen und hartnäckig ihre eigenen Ideen zu verfolgen. Mal sehen, was hinter dem merkwürdigen Tod des Monsieur Miller steckt ...

      Messieurs! Messieurs!

      Die Stimme klingt seltsam tönern, beide Männer drehen überrascht die Köpfe.

      Nur wenige Meter hinter ihnen sitzt auf dem Dünenrand eine merkwürdige Gestalt. Wie ist sie dahingekommen? Weder Simenon noch Glauser haben etwas gesehen oder gehört. Gut, nicht verwunderlich, so vertieft in ihre beginnende Kriminalgeschichte, wie die beiden waren. Die Gestalt winkt mit einer Holzkrücke.

      Messieurs! Kommen Sie näher!

      Wie eine Stimme – eine Männerstimme – aus dem Grab, Glauser überfällt eine Gänsehaut. Erst als Simenon ein paar Schritte auf die Gestalt zugeht, folgt er ihm. Der Mann trägt ein braunes Kostüm, altmodisch aber sauber, eine Hand steckt in der Jackentasche. Der Ärmel flattert seltsam schlapp im Wind. Da steckt kein Arm mehr drin. Und das Gesicht des Einarmigen … Glauser weicht zurück. Ebenmäßige Züge, ein faltenloses Gesicht … Ein Frauengesicht!

      Der Mann mit dem schönen Frauengesicht schwingt sich mit Hilfe der Krücke auf die Beine. Messieurs! In seiner Stimme hört Glauser nun unverkennbar einen spöttischen Unterton. Sie haben Glück, Messieurs, heute steht Kassandra vor Ihnen. Eine Prophezeiung für einen Sou! So billig erfahren Sie nirgends die Wahrheit!

      Sein Lachen klingt schauerlich und hohl. Der Mann trägt eine Maske, eine stilisierte griechische Frauenmaske.

      Simenon schmunzelt und kramt in den Hosentaschen nach Kleingeld. Er scheint den Einarmigen zu kennen und drückt ihm ein Geldstück in die Hand. Wir hören!

      Merci, Monsieur! Sehr großzügig! Ich kenne Sie. Sie sind Gast im Hôtel de la Plage. Sie bekommen Ihre ganz persönliche Weissagung …

      Die Maske schweigt und schaut über das Meer. Das nicht schön blau ist, sondern bräunlich wegen des aufgewühlten Sandes. Glauser, gebannt zwischen Schauer und Faszination, rührt sich nicht.

      Im Anfang ist schon das Ende gespiegelt, nickt die Maske – hoheitsvoll kommt es Glauser vor – den beiden Männern zu und wendet sich zum Gehen.

      Der Einarmige entfernt sich mit seiner Krücke seltsam elegant durch das hohe Dünengras, obwohl er ein Bein nach sich zieht, und verschwindet in einer Senke.

      Glauser rührt sich nicht, wer ums Himmels willen war das?

      Simenon zuckt die Schultern, ein Kriegsversehrter, einer der vielen … das halbe Gesicht weggeschossen … Er hat ihn schon mehrmals am Strand gesehen. Ein Bettler, wie es scheint. Aber nicht aufdringlich, er weiß, was sein Anblick auslöst.

      Einer