Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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war «Kriegsbeute», das sagte er lachend, und es war auch als Scherz gemeint, sie stammte aus dem Eschental, aus Domodossola, darum auch das lustige Italienisch, das er noch zeitweise sprach, und sicher sein Charakter, der sich von der stumpfen und frommen Ernsthaftigkeit der Innerschweizer wohltuend abhob.

      Ätti war schon früh Witwer geworden, in erster Ehe hatte er die Tochter des Gastwirts, eine Feierabend, geheiratet, die aber schon im Alter von neunzehn Jahren im Kindbett starb. Auch er war damals kaum viel älter, was ihn aber nicht daran hinderte, durch halb Europa zu reisen und sich die Welt anzusehen, wie er sein lustiges Wanderleben nannte. Hatten doch noch viele Mütter schöne Töchter, und schliesslich war auch hier das Leben viel zu kurz, um lang zu trauern.

      Noch heute besitze ich seinen Hakenstock aus jener Zeit, verziert mit vielen feinen Kupferplaketten, Zeugnis seiner Wanderungen durch die Welt. Von Bergamo bis Trier, von Königstein bis nach Paris sei er gereist, sogar die Weltausstellung von 1889 habe er besucht und den dreihundert Meter hohen Eiffelturm bestiegen. Nun waren solche Reisen damals für Handwerksburschen üblich, wohl meist zu Fuss und selten gar so weit. Das weite Laufen sei er gewohnt gewesen, meinte der Ätti, spannende Berichte gab es da zu hören von den Säumerzügen, die er schon als Bub mit seinem Vater unternommen habe, über den Brünig, die Grimsel und den Griespass hinab ins italienische Val Antigorio, ins Eschental nach Domodossola, manchmal sogar bis Mailand. Selbst mein Vater konnte sich noch erinnern, einmal eine solche «Welschlandfahrt» unternommen zu haben, als kleiner Pfupf, einen Rock habe er noch getragen, das sei lange vor dem ersten Krieg gewesen, und als sie auf dem Heimweg waren, habe es auf den Pässen schon geschneit.

      Ab und zu wurden auch «Fremde», wie man Touristen oder Globetrotter hier nannte, mit den Mulis über den Brünig «gebastet», Engländer meistens oder Deutsche, die die Schweiz bereisten. Es war dies eine einträgliche Beschäftigung, leichte Arbeit, ein guter Nebenverdienst. Die alte Brünigstrasse führte nämlich direkt am «Alpenblick» vorbei, nach Norden über die Sommerweid, dann «nidsi» ins Unterland und nach Süden über den Kaiserstuhl «obsi» dem See entlang nach Obsee und Lungern-Dorf, von wo sie dann in vielen Kehren den Berg hinauf dem Brünig zustrebte. Doch nun gab es auf einmal eine neue Kantonsstrasse, und eine Eisenbahn über den Brünig wurde auch gebaut, die Säumer und Träger waren nicht mehr nötig. Auch Kutschen fuhren keine mehr den Pass hinauf, Sattler, Karrer und Wagner wurden arbeitslos.

      Ättis Vater hatte mit dem Italienhandel, seiner Säumerei und Landwirtschaft noch gutes Geld verdient. Seinen zwei Söhnen Hans und Jost sicherte der Bauernhof auf dem Kaiserstuhl ein gutes und sicheres Auskommen. Ein anderer Sohn war nach Ost-Preussen ausgewandert und dort bei einer Messerstecherei umgekommen, einer hatte sich in die Dienste des Königs der zwei Sizilien begeben, von dem hatte man schon lange nichts mehr gehört.

      Als der Grossvater nun als junger Witwer auf Wanderschaft nach Frankreich ging, hinterliess er seine kleine Tochter Sabina, das Bineli, unter der Obhut seiner beiden unverheirateten Schwestern Karolin und Josefin, als Amme hatte er die Sigristin verpflichtet, eine dralle, rotbackige Österreicherin, die mit dem Schreiner in der Nachbarschaft verheiratet war und selbst auch Kinder hatte. Für die Landwirtschaft sorgte in seiner Abwesenheit sein Bruder Jost mit Leon, einem ehemaligen Bourbaki, der schon viele Jahre unter ihrem Dach lebte und dem es dort scheinbar so gut gefiel, dass er gar nicht mehr nach Frankreich zurückwollte.

      Obwohl es, wie Ätti schmunzelnd behauptete, für seine Schollentreue auch noch andere Gründe gegeben habe. Kam doch die kleine Sabina, damals fünf oder sechs Jahre alt, eines Tages völlig aufgeregt in die Küche gerannt und schrie lauthals: «Kommet schnell, kommet schnell, das Fineli springt halbblutt vierbeinig auf dem Heustock ume und kann gar nicht mehr schnuufe.» Seit diesem Vorfall wurde die arme Tante Josefine oft gehänselt und frotzelnd nur «das doppelte Fineli» genannt. Vielleicht war das dann auch der Grund, dass der treue Leon bald darauf beschloss, wieder heimzukehren, wo man scheinbar doch besser lebte.

      Wie dem auch sei, die Tante Josefine, die immer etwas Besonderes war, konnte sie doch das Gras wachsen hören und Geister sehen, ja, sogar mit den armen Seelen reden, wurde mit jedem Tag eigener. Nicht nur beim Rechen und auf dem Kartoffelacker lispelte sie kaum hörbar Gebete und Beschwörungen, sondern auch beim Kochen und deutlich hörbar dann des Nachts im Bett. Die Hausgenossen bemerkten, wie sich ihr Geist immer mehr verwirrte, bis sie an einem schönen Sommerabend mit der Familienbibel dem oberen Stall zuging und sich dort mit Bibel, Stall und allem, was darin war, verbrannte.

      Kaum war der Ätti von seiner grande tour zurück, begab er sich auch schon auf Freiersfüsse, versuchte landauf, landab vorzusondieren, wo eine reiche Mitgift zu erwarten war. Herrschte doch inzwischen Ebbe in seiner Kasse, die Heiraterei, die Reisen und dazu all die Kosten, dabei war er nicht unbedingt der Mann, dem Sparen und Haushalten angeboren war. Dazu war in seiner Abwesenheit auch noch ein alter Onkel aufgetaucht, ein Invalider mit einer Beinprothese, man nannte ihn nur den Batavianer, weil er als junger Mann nach Holland ausgewandert war und dort bei den «Mijnheeren» in der Niederländischen Legion Sold genommen hatte. Jahrelang war er dann in Batavia, in Insulinde, stationiert, bis er, von seinen Verwundungen gezeichnet, in Pension entlassen wurde und nun wieder in die Heimat zurückgefunden hatte.

      Auch dieser Onkel hockte nun auf seinem Sack und ass an seinem Tisch, paffte unaufhörlich seine lange Pfeife und dirigierte jeden gern herum, ein Raubein halt, nicht unbedingt ein angenehmer Zeitgenosse. Dass er dann im zweiten oder dritten Winter auf der Aussentreppe unglücklich zu Fall kam, in den Kellerhals abstürzte und kurz darauf starb, bedeutete für alle Hausgenossen eine Erleichterung. Was er zurückliess, füllte zwar für kurze Zeit den kleinen Säckel, doch für die grosse Kasse reichte es nicht. Nun musste wirklich dringend eine Frau her, schon mussten auf das Heimet Gülten aufgenommen werden, und die Zinslast drückte immer mehr.

      So wurde dann wieder geheiratet, die Katharina Fanger trafs aus Wilen, vom sonnenseitigen Ufer des Sarnersees. Eine herbe Schönheit muss sie gewesen sein, eine, die zupacken konnte, eine auch, die sogleich Ordnung schaffte und der Lotterwirtschaft im Loch ein Ende setzte. Diese Hochzeit muss ein Ereignis gewesen sein, von dem die Leute noch nach Jahren sprachen, vierspännig sei er in Wilen vorgefahren, prahlte der Ätti noch im hohen Alter, und über hundert Gäste habe er geladen, nein, da habe man sich nicht lumpen lassen.

      Katharina gebar dem Ätti in der Folge noch sechzehn Kinder, bevor sie im Alter von sechzig Jahren beim Heuen an einem Hirnschlag starb. Zusammen mit dem Bineli (Sabina), der ältesten Tochter aus der ersten Ehe, hat der Lochhänsel also siebzehn Kinder gezeugt, wovon zwölf älter als fünf Jahre wurden, das heisst das Erwachsenenalter erreichten. Ein Sohn, Peter, verunglückte mit achtzehn im Winter beim Holzreisten mit dem Hornschlitten, zwei, Franz und Melk, starben kaum zwanzig Jahre alt 1919 an der Grippe, Sepp wurde von der «Schlafkrankheit» befallen, vergreiste früh und starb mit dreissig, auch die beiden verheirateten Töchter Sabina und Rosa starben früh. Selbst habe ich nur noch fünf der Brüder kennengelernt, nämlich meinen Vater Hans, den Ältesten, dann Bernhard, genannt Benz, Robi, Jost, Fredi sowie die Jüngste der Familie, Cäcilia oder Cilly, die schliesslich am ältesten von allen wurde und mit über neunzig im Vaterhaus auf dem Kaiserstuhl verstarb.

      Anzunehmen wäre nun, dass sich in Grossvaters Lebenshaltung einiges ändern würde, dass er sogar Einsicht bekundet hätte und die Ärmel aufgekrempelt, zugepackt, wo auf seinem Heimet ein Mann gebraucht wurde. Doch kaum waren die Flitterwochen vorbei, packte ihn schon wieder die Unrast. Nie hielt er es lange zu Hause aus, immer wieder trieb es ihn hinaus. Mit der Sattlerei war nun nicht mehr viel zu verdienen. So liess er sich vom Dorfschreiner Walter Kunz eine Konstruktion bauen, eine Art Zettlerbank, womit er durch die Dörfer zog und das Rosshaar der durchgelegenen Matratzen wieder auffrischte. Dann füllte er das Zeug in neue Überzüge und nähte alles kunstgerecht zusammen. So bekamen die Leute für wenig Geld praktisch neue Bettmatratzen. Auch die schweren Untermatratzen, Holzrahmen mit grossen Sprungfedern, die mit Drillich oder Segeltuch überzogen wurden und durch breite Bänder fixiert waren, fertigte er an oder er reparierte beschädigte Stücke. Nebenbei schnorrte er gar manchen Batzen mit Brautvermittlungsgeschäften zusammen, er verkaufte den gutgläubigen Bauern Reliquientäfelchen, Beschwörungs- und Ablassbüchlein und Amulette gegen allerlei Gebresten. Auf diese Weise war er viel von zu Haus weg, ein Umstand, der ihm sehr zusagte, vor allem als die Kinderschar im Loch ständig anwuchs.

      Voll