Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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und der Hain des Lug mitsamt der Insel, des Gottes Kultbild und den Menschen, die sich in ihrer Angst und Not dort versammelt hatten, versank in der Tiefe. So ging das schöne und reiche Lugarun unter, «und ich versichere dir», raunte der Ätti, «der Fluch des Sankt Beat hat seine Wirkung noch lange nicht verloren, bis heute noch ist er bemerkbar, auch wenn die Lungerer das nicht wahrhaben wollen». Vielsagend schaute er mich an, klopfte dann sein Pfeifchen aus und schaute hoch zum Himmel, wo sich, natürlich gerade jetzt, die dunklen Wolken türmten.

      Die Obwaldner Schriftstellerin Rosalia Küchler-Ming, ursprünglich aus Lungern stammend und Tochter des Landammanns und Landarztes Dr. Peter Anton Ming, beschrieb in den Zwanzigerjahren des letzen Jahrhunderts die rührige Geschichte des Tales und der Talleute von Lungern und ihres Sees in einer Trilogie, die ich selbst als junger Spund noch gelesen habe, die aber gegenwärtig nicht mehr erhältlich ist. Hatte die Entwicklung doch meinem Grossvater und seiner Sage teilweise rechtgegeben, im neunzehnten Jahrhundert nämlich entbrannte um diesen See im Tal ein gehässiges Seilziehen, das sich im Laufe der Zeit fast zu einem währschaften Krieg entwickelte, da einige zwecks Landzuwachs und Ausbreitung ihrer Besitzstände eine Absenkung des Seespiegels anstrebten. Waren in diesem Hochtal doch gutes Weideland eine Rarität und höher gelegene Nutzflächen oft nur schwer zugänglich. So lag es auf der Hand, dass die Talgemeinschaft ein Durchstos­sen des Kaiserstuhls ins Auge fasste, um so den See abzusenken.

      Die Befürworter dieses Projekts wurden «die Trockenen» genannt, es waren dies begreiflicherweise vor allem Viehzüchter, während ihre Gegner, die die altbewährte Alpwirtschaft vertraten, «die Nassen» hiessen. Ein Durchstich kam schliesslich dann allen Widerständen zum Trotz zustande, was unten in Giswil zu einer gewaltigen Überschwemmung führte, aber den Seespiegel wie vorausberechnet absinken liess. So weit absinken liess, dass das heilige Inselchen des Lug auf einmal wieder zum Vorschein kam und an den Ufern eine Menge neues Weideland entstand. Ein Umstand, der natürlich den Wohlstand der Viehzüchter in der Gemeinde beträchtlich steigerte, was aber wiederum zu Neid und allerlei Geplänkel Anlass gab. Das politische Gezänk und die Folgen dieser Seeabsenkung bilden das Hauptthema der literarischen Arbeit von Rosalia Küchler-Ming.

      Doch irrt man sich gewaltig, wenn man denkt, dass damit die Geschichte der Lungerer und ihres Sees zu Ende sei. Die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts waren für Bauern und Viehzüchter harte Zeiten. Der Zerfall der Preise für Milch- und Agrarprodukte bewirkte eine Krise, die vor allem die Berglandwirtschaft hart traf. Durch den hohen Milchpreis zur Zeit des Ersten Weltkriegs verblendet, hatten viele Bauern ihre Viehbestände aufgestockt und sich dadurch verschuldet. Nun bekamen sie auf einmal für den Liter Milch, der vor kurzem noch 38 Rappen galt, nur noch 20 Rappen, was für viele den Ruin bedeutete. So emigrierten verarmte Bauernfamilien aus der Innerschweiz in die Städte oder gar nach Übersee, hauptsächlich nach Kalifornien oder Brasilien.

      Durch die Zunahme der Industrialisierung, der Elektrifizierung der Haushalte und der Eisenbahnen kam es in dieser Zeit zu einem gewaltigen Energiedefizit. So beschlossen findige Köpfe und fortschrittliche Investoren, die einheimische Wasserkraft zur Energiegewinnung zu nutzen. Die Centralschweizerischen Kraftwerke CKW entwickelten den Plan, den Lungernsee wieder anschwellen zu lassen und so das Wasser zum Antrieb von Turbinen und Generatoren zu nutzen.

      Dass sich auch zu diesem Plan heftige Opposition regte, lag auf der Hand, doch die Beschwerden bis vor Bundes­gericht zeigten keine Wirkung. Landwirtschaftsland war nichts mehr wert, eine grosse Maul- und Klauenseuche-Epidemie hatte den Viehbestand gesamtschweizerisch bis zur Hälfte dezimiert. Die ehmals stolze Bauernschaft wurde durch die Krise hart gebeutelt. Nutztiere waren wohlfeil, auf den vielen Ganten rings im Land billig zu haben. Die Argumente der Befürworter des Stauseeprojekts fasste ein Einsender in einem Leserbrief wie folgt zusammen: «Eine Kuh schenkt dem Bauern jeden Tag Milch, jedes Jahr ein Kalb und alle Jahre wieder eine Landwirtschaftskrise.»

      So wurde das Lungernseeprojekt 1921 von der CKW in drei Etappen in Angriff genommen und konnte Anfang der Dreissigerjahre, durch einen Stollen aus dem kleinen Melch­tal, welcher das Wasser der Melchaa dem See zuführt, erweitert und abgeschlossen werden. Nun versank der Hain des Lug aufs Neue in den Fluten.

      Das Inselchen im Lungernsee tauchte seither nur einmal wieder auf, als bei Reinigungs- und Reparaturarbeiten an der Anlage Ende der Sechzigerjahre der Seepegel abgesenkt werden musste. Ich habe es noch gesehen, ich bin extra dafür aus Holland angereist, sogar die Stümpfe der alten Bäume waren noch auszumachen und einige Reste von rohem Mauerwerk.

      Grossvater erzählte diese Geschichten, mein Vater ergänzte, was er ausgelassen oder vergessen hatte. Dass seine Brüder Robert, Fredi und Benz beim Stollenbau am Lungernsee-Kraftwerk ihr erstes gutes Geld verdienten. Robert wanderte dann Mitte der Zwanzigerjahre nach Amerika aus, wo er schon bald in Kalifornien sein eigenes Unternehmen gründete. Auch Fredi und Benz blieben Karrette, Schaufel und Pickel treu, beide wurden Bauunternehmer. Benz geschäftete sogar mit grossem Erfolg und wurde reich dabei, während Fredi immer wieder von Krisen geplagt wurde und zuletzt kaum mehr besass als am Anfang.

      Nun kann man über das Lungernseeprojekt, über Sinn oder Nutzen der damaligen Entscheidungen und Beschlüsse, über die Lungerer und ihre Politiker denken, wie man will, doch eines muss man zugeben: Der Stausee war, ist und bleibt ein wahrer Segen für das Tal. In weiser Voraussicht haben die Talleute von Lungern ihren See weder verkauft, noch an die CKW abgetreten. Sie haben die Nutzungsrechte nur verpachtet, für eine gewisse Zeit, irgendwann gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts war die Pacht dann abgelaufen, und die Gemeinde konnte Anlage und Nutzung in eigener Regie weiterführen oder den Pachtvertrag erneuern. Aus dem Geld, das sie für ihren Stausee einkassierten, ­haben sie ein neues Schulhaus gebaut mit einer modernen Infrastruktur, mit Wohnungen für das Lehrpersonal und mit ­einer grossen Turnhalle, wo sogar, wenigstens noch zu meiner Zeit, alljährlich um die Fasnachtszeit vortreffliches Volkstheater gespielt wurde.

      Das Wichtigste aber war die Gründung einer Sekundarschule und die Anstellung eines guten Lehrers, eine Errungenschaft, wovon auch ich selber später noch profitieren sollte. Gleichzeitig wurden auch die armen «Biisäss» nicht vergessen, Bürglen bekam ein neues Schulhaus mit Zentralheizung und Wohnräumen für die Lehrschwestern. Dort wurden mir dann von mehr oder weniger gütigen Menzinger Klosterfrauen die Grundbegriffe der Bildung beigebracht, die Religion, das Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen.

      Grossvater oder Ätti, wie wir ihn hier alle nannten und dem meine ganze Bewunderung galt, hatte als junger Mann das Sattlerhandwerk erlernt. Noch im Alter war er ein wahrer Tausendsassa, er besass eine schöne Singstimme und kannte viele Lieder, einheimische und sogar fremdländische. Er war überhaupt ein fröhlicher Mensch, sehr musikalisch, so konnte er mehrere Instrumente bespielen, vor allem das Schwyzerörgeli, doch auch Klarinette und Piccolo und sogar die Geige. Ihm war es gegeben, die Menschen durch seinen natürlichen Charme zu bezaubern mit seinen Melodien, Schwänken und Geschichten, doch auch mit seinem Witz und seinen Streichen. Er war auf jeder Stubete, jeder Kirmes, Hochzeit oder Taufe anzutreffen, überall spielte er zum Tanz auf und war darum bei Alt und Jung im ganzen Land beliebt, nicht aber bei den Pfaffen und frommen Betschwestern, die er immer wieder mit ätzendem Spott verfolgte und lächerlich machte.

      Er hatte ein bewegtes Leben hinter sich, nun war er bereits Ende siebzig, doch stets noch ein stattlicher Greis mit pfiffigen Äuglein und einem grossen Schnauz, ab und zu ein wenig zittrig auf den Beinen, doch eigentlich noch gut zu Fuss. Vom Land, das der Ätti als Ältester von seinem Vater geerbt hatte, trat er seinem Bruder Josef, dem «Lochseppli», die schöne, ebene Wiese zwischen Alpenblick und Bahnhof ab, dazu das Stielti und den Schwand, sodass ihm schliesslich nur die Hügel blieben, das Berggut Schäffschliecht, der Riedplätz in Giswil und ein Stück Wald gegen die Flüe hinauf. Doch konnte er von Anfang an der Landwirtschaft nur wenig abgewinnen, was das betrifft, war er sich mit seinem Ältesten, meinem Vater, einig.

      Das Bauern, meinte er, sei ihre Sache nicht, überhaupt das Arbeiten, eigentlich schade, so viel Zeit damit durchzubringen, gäbe es da doch noch viel schönere Sachen, die zu tun wären. Um immer nur anzuschaffen und zu ferggen, sei das Leben doch viel zu kurz. Aus einer Sippe von Bauern, Säumern, Söldnern und Händlern stammend, die ihren Sitz schon seit dem späten Mittelalter – das ist verbrieft –, wenn nicht schon länger, so sicher weiss das niemand, im Tal von Lungern hatte, war er durch seine