Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

Читать онлайн.
Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



Скачать книгу

dem Tisch, hier in dämmriger Höhle zwischen den vier Beinen fühlte ich mich sicher und geborgen. Jetzt, hier, später auch und immer wieder, ein ganzes Leben lang.

      Ich stand vor einem grossen Fenster, auf der breiten Fensterbank glänzte eine Glaskugel, darin schwamm ein Goldfisch, draussen schien die Sonne. Ich streckte meine Hand aus, konnte aber den Fisch nicht erreichen, die Fensterbank war zu hoch oben. So schob ich einen Stuhl heran, kletterte hinauf und sass nun auf der Fensterbank neben der Kugel mit dem goldenen Fisch, noch immer schien draussen die Sonne, aus dem Gartenrestaurant von der Strasse her hörte ich Stimmen, Lachen, allerlei Geräusche, und ich roch die Düfte von Essen und Menschen.

      Wie ich das Gleichgewicht verlor und hinunterfiel, weiss ich nicht mehr. Ich landete im Laub des wilden Weins, mit dem die Gartenlaube überwuchert war, und irgendwo auf etwas Hartem, einem Gestänge oder Ast. Auf einmal stand die Welt kopfüber, alles drehte sich um mich, mir war schlecht, mein Schädel schmerzte, die Brust auch, ich konnte nicht mehr atmen, Leute standen herum, riesig gross, rannten hin und her und lamentierten. Später dann lag ich in einem weissen Bettchen, ich musste mich übergeben, mir war schlecht, weissgekleidete Gestalten bemühten sich um mich. Ein Mann, auch er in Weiss, sass an meinem Bett und hielt meine Hand, strich mir über das Haar und murmelte etwas, was ich nicht verstand.

      Sonst kann ich mich an nichts erinnern. Ganz undeutlich noch an einen Tag, viel später schon, es kann im selben Jahr gewesen sein oder im nächsten. Ich befand mich auf einem Rummelplatz, um mich lauter Volk und viel Lärm. Ein junger Mann im dunklen Ledermantel hielt mich an der Hand, führte mich zwischen den Buden entlang, ich bekam etwas Süsses, Klebriges zum Schlecken. Im Gedränge roch es intensiv nach Gewürzen, nach Schweiss und müden Menschen.

      Der Mann, eher ein Jüngling noch, hatte schmale, weisse Hände, er trug das Haar gescheitelt, mit viel Brillantine an den Kopf geklebt, es sah aus, als trüge er eine schwarze Kappe. Ein dünnes Oberlippenbärtchen klebte wie ein schwarzer Strich unter seiner Nase. Er war freundlich und sanft zu mir, wies hier- und dorthin, er zeigte mir all die bunten Bilder auf den Wagen und Marktständen, einen Papagei und einen Affen, die in einem Käfig hockten und mir leidtaten, weil sie eingeschlossen waren. Beide sahen sie traurig aus, ich begann zu weinen, weil niemand sie befreien wollte. Ich wurde wütend, stampfte mit den Füssen, riss mich los und rannte weg, kam aber nicht weit, wurde aufgehalten, eingefangen.

      Der Mann kaufte mir eine kleine Mundharmonika, er hängte sie mir an einer bunten Schnur um den Hals. Das gefiel mir sehr, sie war silberfarben und klang ganz wundervoll. Dann stiegen wir in ein kleines Auto, solche gab es eine Menge, sie fuhren willkürlich auf dem Platz herum, krachten aufeinander, umkreisten sich. Es sassen meistens junge Leute darin, die lachten, die Mädchen kreischten hysterisch. Eines fuhr direkt auf uns zu, am Steuer ein dicker Mann mit Zigarre, neben sich eine stark geschminkte Weibsperson, die ihn umschlungen hielt. Ihr Wagen krachte frontal und mit voller Wucht auf unser Fahrzeug. Der plötzliche Aufprall erwischte mich unversehens, mein Kopf schnellte nach vorn, ich kollidierte heftig auf Augenhöhe mit dem Rand des Gefährts. Ich fühlte kaum Schmerz, blutete aber heftig aus der Nase, auch der Mund war voll Blut, es schmeckte süsslich, fühlte sich klebrig an, troff auf mein dunkelblaues Mäntelchen, auf die graue Sonntagshose. Mein Begleiter versuchte das Rinnsal zu stillen, er gab mir dazu sein Taschentuch, doch es wollte nicht aufhören. Er führte mich zu einem Brunnen, hiess mich den Kopf in den Nacken halten, still stehen. Ich weiss noch, dass ich nicht weinte, das kam erst nachher, zu Hause, als uns Mama Früh wegen der verschmutzten Kleider schalt.

      Wir lebten in einer kleinen Gemeinschaft, ein halbes Dutzend Kinder in einer Gruppe, betreut von einer Pflegmutter.

      Eines Abends sass ein Soldat in unserer Küche, ein langer Lulatsch in feldgrüner Uniform. Die Fenster waren bereits verdunkelt, es sollten Flieger über die Stadt ziehen, es hatte Alarm gegeben. Der Soldat streckte seine langen Beine unter den Küchentisch, seinen Ceinturon hatte er abgelegt, er lag samt dem Bajonett auf dem Wachstuch der Anrichte. Ich fingerte am Bajonett herum, wollte es aus der Scheide ziehen, was mir nicht gelang. Der Soldat lachte, Mama Früh machte sich am Herd zu schaffen, der Raum war dampferfüllt. Der Fremde zupfte an seinem Schnurrbart herum, fragte mich nach meinem Namen und wie alt ich sei. Er schien den ganzen Raum zu füllen, seine Stimme war laut und kräftig, und unter dem dunklen Schnauz blitzten seine Zähne. Als er ging, reichte er mir seine Pranke, tätschelte meine Wange und meinte grinsend: «Auf Wiedersehen, mein Kleiner.»

      «Ich bin nicht dein Kleiner», erwiderte ich vorwitzig und floh unter den Küchentisch. Er war so gross und deckte das Licht der Deckenlampe ab mit seinem Körper.

      Eine Woche später sass ich im Zug, er fuhr ab und hielt an vielen Stationen. Ich wurde begleitet von einer jungen Frau, einer engelhaften Gestalt mit blonden Locken. Schon am frühen Morgen hatte sie mein Köfferchen gepackt mit meinem Teddybären, ein paar Kleidern und den wenigen Habseligkeiten. Zusammen mit uns reiste mein Vormund, Herr Muntwiler, er sass uns gegenüber, hatte Hut und Mantel abgelegt und rauchte. Ab und zu schrieb er etwas in sein Notizbuch und studierte eine dicke Akte, die er seiner Mappe entnahm. Gesprochen wurde kaum auf dieser Fahrt.

      Mir war nicht klar, wohin die Reise gehen sollte, ich war noch nie so lange weggefahren, noch nie so weit gereist. Mittag war längst vorbei, die Berge rückten immer näher, wir assen belegte Brötchen und stiegen einmal um in einer riesigen, zugigen Bahnhofhalle. Nun fuhren wir zwischen sehr hohem Gebirge durch einen Tunnel, dann einem See entlang, zuletzt langsam steil den Berg hinauf. Der Kondukteur mit seiner schwarzen Tasche kam schon wieder vorbei, schwankend torkelte er im Zwischengang durch den Wagen, meinte zu meiner Begleiterin, wir müssten dann beim nächsten Halt aussteigen. Der nächste Halt war Kaiserstuhl, ein kleines, hölzernes Stationsgebäude in einem tiefen Talkessel.

      Nur eine Frau stand da in dunkler Kleidung, das Haar straff zu einem Knoten am Hinterkopf frisiert, was die Strenge der Erscheinung noch unterstrich. Ihr wurde ich von meinem blonden Engel überreicht, sie lachte meckernd, mir war unwohl, ich wollte nicht mit ihr gehen. Doch sie nahm mich kräftig an der Hand, mit der anderen Hand trug sie mein Köfferchen und stapfte fürbass, ohne auch nur im Geringsten auf mein Widerstreben zu achten. Sie plauderte ständig vor sich hin, ich konnte nicht verstehen, was sie sagte.

      Ich riss mich los und sah mich um, der blonde Engel war entschwunden, der Zug bereits abgefahren. Sie ergriff mich wieder, wollte mich den Weg hinaufführen zu einem Haus, das gross und stattlich in absehbarer Entfernung stand. Doch wieder entwand ich ihr die Hand und meinte trotzig: «Ich kann allein laufen.» Herr Muntwiler, der mit mir ausgestiegen war und uns begleitete, lachte laut und zwinkerte der Fremden zu.

      In ihrem Haus angekommen, gewahrte ich den langen Lulatsch, den Soldaten aus Mama Frühs Küche, man setzte sich nach viel Palaver und Gelache zu Tisch und ass, was aus der Küche aufgetragen wurde, Suppe und Salat, Kartoffelstock und Schweinebraten. Ich hatte keinen Appetit, ich baute mir aus Kartoffelstock einen kleinen Stausee und füllte ihn mit Sauce. Die Frau schnitt mir das Fleisch in mundgerechte Stücke und erklärte mir, ich bleibe nun immer da, bei ihr, sie sei nun meine Mutter. Ich weinte, meine Tränen fielen in den Saucensee, sie vermischten sich mit dem Randensalat, doch niemand schien sich darum zu kümmern. Die Erwachsenen tranken Veltliner, assen, schwatzten und lachten.

      Ich weinte zwei Wochen lang, jeden Abend vor dem Einschlafen, bis die Müdigkeit und Erschöpfung meine Tränen versiegen liessen. Natürlich weinte ich nicht den ganzen Tag. Nur abends vor dem Einschlafen, wenn mich niemand sah.

      Übrigens gab es zum Weinen gar keinen Grund, mal abgesehen von der Tatsache, dass ich meine Familie verloren hatte, meine Gespielen, dass ich nun auf einmal allein war. Dabei war ich ja gar nicht allein, ich hatte nun einfach eine neue Familie bekommen, doch das war mir damals noch gar nicht so bewusst. War Familie für mich bis anhin doch unsere kleine Lebensgemeinschaft mit Mama Früh und den Kindern, Schlupfchasper, Peterpfupf, Hansdampf und Jolifränzi, dann Meieli, die Freundin meiner ersten Kindertage.

      Das alles kam mir dann jeweils am Abend in den Sinn, wenn ich ins Bett gebracht wurde, schlafen sollte, wenn die grosse Ruhe mich umgab in diesem Haus, wo nichts zu hören war als das Gemurmel aus der Küche, wo sie alle sassen und bei Most oder Kaffee Sachen besprachen, die mich nichts angingen.

      Nicht, dass es bei Mama Früh in der Bäckerstrasse nun immer