Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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Haus voller Kinder, wo stets die Älteren die Jüngeren erzogen und auf die Kleinen aufpassen mussten, wo die Kleider und Schuhe von einem zum nächsten übergingen und wo die Säuglinge, auf ein Tannenbrett mit Loch fixiert und völlig eingewickelt, sodass sie nur noch Kopf und Arme bewegen konnten, an der Kammerwand am «Toggelizapfen» hingen, oft die längste Zeit kreischend und krähend. Kam dann der Erzeuger, meistens zu einem Festtag oder auf ein Wochenende, mal nach Hause, war Feiern angesagt, hatte doch die Mutter die ganze Woche zuvor die Milch säuberlich abgerahmt und die Nidel aufgehoben. Dann wurde ein Lebkuchen gebacken, Anken und Schnitz kamen auf den Tisch, frisches Brot, Nüsse und Honig, Käse wurde am Feuer gebraten und Cheli getrunken. Die Nidel wurde steif geschlagen und Freunde oder Nachbarn geladen, es wurde gejodelt, gesungen, musiziert und getanzt. Bald wurden die Kinder auf ihre Kammern gescheucht, der Säugling auf seinem Brett einfach unters Ehebett geschoben.

      Auch von heissen Tagen wusste Vater zu erzählen, als er und seine Brüder und Schwestern mit der Mutter schwitzend am Heuen waren, am Mähen, Wenden, Rechen und Eintragen, der Vater aber auf der Fluh, wo er sich hoch oben ein Bänklein gezimmert hatte, handörgelte und jauchzte. Das sei doch so schön, wenn harte Arbeit musikalisch begleitet werde, rechtfertigte er sein Tun und lachte nur, wenn ihm seine Söhne Vorhaltungen machten. Dabei wurde er immer von der Mutter unterstützt, bei der er sowieso alles nur recht machen konnte und die nie klagte, selbst wenn sie am schwersten zu tragen hatte, mit den vielen Schwangerschaften und Geburten, dazu noch die harte Arbeit im Haus und auf den Feldern.

      Als Hans, mein Vater, nach der Rekrutenschule und der Grenzbesetzung, die er im Jura und im Tessin verbrachte, wieder nach Hause zurückkehrte, hatte sich nicht nur im Loch die Welt verändert. Im ganzen Land herrschte Krisenstimmung, eine heftige Grippewelle erschütterte die Schweiz, soziale Spannungen führten im Herbst 1918 zum Generalstreik.

      Kaum zu Hause, wurde er wieder zum Dienst aufgeboten, diesmal ging es zwar nicht an die Grenze, sondern zum Ordnungsdienst nach Zürich, wo streikende Arbeiter ihre Rechte einforderten. Die Preise für Grundnahrungsmittel waren stark angestiegen, die Angst um die Existenz führte in der politisierten Arbeiterschaft zu Unsicherheit und Unmut. Die Spitäler waren von Grippekranken überfüllt, die Krankheit zog mit den demobilisierten Soldaten nach Hause, in die Städte und Dörfer. In den Familien der Heimgekehrten hielten Leid und Trauer Einkehr, so erlagen im Loch zwei Brüder meines Vaters im blühenden Alter der Spanischen Grippe. Doch trotz Verlust und Trauer raufte man sich zusammen, versuchte die Not zu lindern, wo sie am grössten war. Die alte Zeit war mit dem Ende des Weltkriegs vorüber und vorbei, nun begannen die Zwanzigerjahre, ein Aufbruch und Neubeginn.

      Die Loch-Kinder waren gewachsen und langsam gross geworden, wie es das Schicksal so will, hatten einige überlebt, andere halt nicht, in der Dorfschule in Bürglen hatten sie notdürftig lesen, schreiben und ein wenig rechnen gelernt. Einige besser, andere kaum. Sodass zum Beispiel der Benz in der Rekrutenschule kaum fähig war, seinen Namen zu schreiben, geschweige denn einen Satz fehlerfrei aufs Papier zu bringen. Dass dann gerade diesem Benz später mit seinen Geschäften der grösste Erfolg von allen zufiel und er es als Einziger in der Familie zu Reichtum und behäbigem Wohlstand brachte, war sicher nicht seiner Schulbildung zuzuschreiben.

      Vater hatte seine Lehrzeit als Zimmermann bei seinem Onkel Fanger in Wilen abgeschlossen. Inzwischen war auch Tante Karolin gestorben, waren die beiden Schwestern Sabina und Rosa auswärts verheiratet. Mit vereinten Kräften bauten nun die Brüder die obere Scheune, die das «doppelte Fineli» in ihrem Wahnsinn abgebrannt hatte, wieder auf, schöner, grösser und moderner als die alte, mit einem überdeckten Tränkschopf, einer grossen Tenne und einem abgesonderten Strohgaden, wo zur Not auch mal ein Taglöhner oder Landarbeiter hausen konnte. Natürlich hätte der älteste der Locherbuben, mein Vater Hans, nun endlich heiraten sollen, eine allen genehme Braut wäre auch vorhanden gewesen, doch diese Sache kam nicht recht voran.

      Anfang der Zwanzigerjahre besuchte mein Vater mit einem Kollegen aus der Militärdienstzeit eine Ausstellung von Autos und Motorrädern in Zürich. Nach Hause kam er dann mit einem nigelnagelneuen schweren Töff, den er sich mit seinem Ersparten gekauft hatte. Nun kam für ihn das Heiraten sowieso nicht mehr in Frage, schliesslich fehlten ihm dazu nun ganz schlicht die Mittel. Seine grosse Liebe galt seiner Harley-Davidson, im Laufe der Jahre sollten dann noch mehrere Lieben folgen, Motorräder auch, eine Triumph, eine Indiana und zuletzt noch eine BSA mit Seitenwagen.

      Es sei diese Zeit die schönste in seinem ganzen Leben gewesen, erzählte mir mein Vater oft, als er als flotter Junggeselle mit seinem Motorrad den Blick so mancher Schönen auf sich zog. Er versuchte erst, als selbständiger Handwerker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wobei es vorläufig beim Versuch blieb. Wohl gab es ab und zu Reparaturarbeiten, ein neues Vordach oder den Dachstock einer alten Scheune, vielleicht mal eine Alphütte in unwegsamem Gebiet, es waren dies meistens Arbeiten, die kein anderer machen wollte. Die wirklich guten Aufträge, grosse Aufträge, die auch lohnend gewesen wären, konnte er nicht annehmen. Dazu fehlte ihm die nötige Infrastuktur, er hätte dann auch Mitarbeiter annehmen müssen, Gerätschaft und Maschinen anschaffen müssen, auch eine grosse Werkstatt hätte er gebraucht und ein Lager für das Holz. So verdingte er sich als Zimmermann bei der Holzbau AG, arbeitete hauptsächlich im «Aussendienst» in Zürich zusammen mit zwei Kollegen, dem Sagihans und dem Stafelhans, beide ebenfalls Zimmerleute aus Lungern, die er schon aus seiner Lehrlings- und Militärdienstzeit her kannte.

      Es muss dies eine lustige Gesellschaft gewesen sein, diese drei Hansen aus der Innerschweiz, allen voran Sagihans, «der Zulu», wie ihn seine Kameraden wegen des wilden ­Lockenkopfs gern nannten, die einmal sogar selbdritt auf Vaters Töff durch die Stadt rasten, wo sie von Polizisten aufgehalten und verfolgt, mit der ganzen Bagage eine steile Treppe hinunterholperten, um dem polizeilichen Zugriff zu entkommen.

      Vater verbrachte seine Freizeit gern im «Volkshaus» oder in der «Eintracht», wo er sich für gewerkschaftliche Anliegen und «linke» Ideen begeistern liess. Seine Freunde waren Arbeiter wie er, einige von ihnen wanderten dann sogar in das neue «Arbeiterparadies», die Sowjetunion, aus, um dort beim Aufbau der antikapitalistischen Gesellschaft mitzuhelfen. Andere blieben ihm noch viele Jahre lang verbunden, oft besuchten sie uns auf dem Kaiserstuhl, halfen beim Heuen oder bei der Ernte mit oder verbrachten in unserem Haus einige Ferientage mit ihren Familien. Erinnern kann ich mich noch gut an die Familie Zöbeli mit ihrem Sohn Dölfi aus der Bäckerstrasse im Kreis Cheib, an den gemütlichen Herrn Demuth, der aussah wie ein Kranzschwinger, und an den lustigen Herrn Stierli, der stets für jeden Schabernack zu begeistern war.

      Seit Ende der Zwanziger- und Anfang der Dreissigerjahre lebte mein Vater nun nicht mehr zu Hause im Loch, sondern die meiste Zeit auswärts, in Zürich oder bei seiner Schwester Sabina im Röhrli in Lungern. Im Lochheimet lebte zwar der Ätti noch mit seiner jüngsten Tochter, der Cäcilia, die sich zu einer fröhlichen, quirligen jungen Frau entwickelt hatte. Vom Ätti hatte sie die Vorliebe und das Talent für alles Musikalische geerbt, das sonnige Naturell und das mediterrane Temperament, dazu die Gabe der Leichtigkeit, die Probleme des Lebens mit einem Lachen zu bewältigen.

      Die schwere Arbeit auf dem Feld und im Stall, das Holzen und die Alpsömmerung wurde von den Brüdern Jost und Fredi, beide zu dieser Zeit noch unverheiratet, übernommen. Als nun Vaters Götti, ein Onkel, der im Haus Alpenblick als Altlediger mit einer Haushälterin gelebt hatte, starb, vermachte er seinem Patensohn sein altes Haus, was den Hans nun wiederum bewog, nun endlich das Heiraten ins Auge zu fassen. Seine Braut fand er im grossen Melchtal, das anders als das kleine das ganze Jahr über besiedelt war. Es war dies der engste und hinterste Krachen von Obwalden, wo die paar Talbewohner im Schatten des Nünalphorns, des Hutstocks, des Frauenklosters und der Wallfahrtskirche unserer lieben Frau in harter Arbeit und frommer Einfalt ihr kärgliches Dasein fristeten.

      Elisabeth, Elisi, hiess die Auserwählte, ihr Vater war schon früh auf dem Berg umgekommen, derweil ihre Mutter sich nach seinem Tod in eine Krankheit flüchtete und jahrelang das Bett hütete. Als junge Frau, die zweitälteste Tochter der Familie, begann sie in Kerns eine Lehre als Schneiderin. Doch infolge der Krankheit ihrer Mutter musste sie diese vorzeitig abbrechen, sie wurde zu Hause gebraucht, waren da doch noch jüngere Geschwister zu versorgen. Später konnte sie sich dann zur Hauspflegerin ausbilden lassen, in der Folge absolvierte sie noch einen Hebammenkurs und arbeitete in verschiedenen Privathaushalten. Inzwischen