Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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eine alte Geige, auf der er direkt zu fiedeln begann.

      Die Ansiedlung in einer Senke unter der Fluh auf dem Kaiserstuhl, wo wir wohnten, hiess «das Loch». Folglich lag es auf der Hand, dass die Bewohner, wie es hier üblich war, als Zunamen den des «Heimets» trugen, wir waren, seit Generationen wohl, die «Lochers». Der Ätti wurde «dr Lochhänsel» genannt, hiess er doch auch Johannes, Hannes oder Hans, wie mein Vater, der war der «Lochhans» und ich der «Lochhansi». Dass die Häuser, Scheunen und Hütten im Loch standen, hatte wohl seine Bewandtnis in der geografischen Lage der Ansiedlung, sie lag nordseits des Lungern­sees im Schatten der Schynbergfluh, war also schattenhalb, selbst im Hochsommer fiel die Besonnung erst im Lauf des Morgens ein, da die hohe Felswand gegen Sonnenaufgang aufragte.

      Dafür genossen wir am Abend lange Sonnenschein, am längsten wohl im ganzen Tal, da das Gebirge auf der west­lichen Talseite nicht schroff aufragend, sondern eher hügelig war, so wie man es in den Voralpen oft antrifft. Der Kaiserstuhl wurde die felsige Schranke oder Aufschüttung genannt, die den Lungernsee gegen Norden hin wie eine natürliche Staumauer abschliesst und am Auslaufen ins Unterland hindert. Warum der Kaiserstuhl so heisst, konnte mir nie jemand erklären. Mein Vater meinte dazu, vielleicht entspringe der Name dem Umstand, dass auch der Kaiser, als er einmal über den Brünig zog, mal aus der Hose musste oder aber dorthin, wohin auch der Kaiser zu Fuss hingeht.

      Wie dem auch sei: Kaiserstuhl heisst heute noch die kleine Bahnstation an der Brüniglinie zwischen Luzern und Interlaken-Ost, wo aber schon lange kein Stationsvorstand mehr existiert, genauso wenig, wie noch ein Kaplan im Kaplaneihaus sitzt oder im Schulhaus den Kindern das Lesen, Rechnen und Schreiben beigebracht wird. Ob der Postschalter dem Bahnhof direkt gegenüber noch bedient ist, weiss ich nicht.

      Übrigens heisst die Post Bürglen, wie auch der Weiler, zu dem die Fraktion Kaiserstuhl gehört. Bürglen aber gehört politisch zur Gemeinde Lungern. «Wir Bürgler sind nur Biisäss», was so viel wie Menschen zweiter Klasse bedeutet, das sagte mein Vater immer wieder, wenn er frustriert feststellen musste, dass einer seiner Vorstösse von der Gemeindeversammlung mit grossem Mehr verworfen wurde. Was er aber trotz allem schaffte, war die neue Wasserversorgung für die Bürgler, auf die er persönlich sehr stolz war und die jedem Haushalt in Zukunft sauberes Trinkwasser garantierte.

      Die Landschaft um den Lungernsee ist an sich recht lieblich, nach Norden zu öffnet sich der Kessel und gibt den Blick frei auf den Sarnersee und das Tal der Sarneraa, in der Ferne der Pilatusberg und das Stanserhorn. Südseitig wird das Tal abgeschlossen durch den wuchtigen Riegel des Brünig, während dahinter die Firne der Wetterhorngruppe in den Himmel ragen und zur rechten Hand der urchige Kopf des Wilerhorns das Panorama abschliesst.

      Das Dorfbild von Lungern wird nicht nur durch die übergrosse, neugotische Pfarrkirche verschandelt, die, der Basilika von Lourdes nachempfunden, die Silhouette der dörflichen Bebauung beherrscht und auf einer alles überragenden Anhöhe steht. Durch die Linienführung der Kantonsstrasse wird das Dorf entzweigeschnitten, es ist nun ein typisches Strassendorf, dazu verunstalten einige klotzige Hotelbauten aus dem Fin de siècle die gewachsenen Strukturen. Reste des ursprünglichen Dorfbilds sind eigentlich nur noch rund um die barocke Dorfkapelle auszumachen.

      Dass in Lungern kaum noch alte und historisch interessante Bauten bestehen, ist vor allem zwei Katastrophen zu verdanken, die das Dorf schwer trafen. Im Jahre 1739 zerstörte ein gewaltiger Brand das ganze Oberdorf bis hinab zur Dorfkapelle. Ätti erzählte mir, es seien Zigeuner gewesen, die den Brand gelegt hätten. Aus Rache, weil die Dörfler ihre Königin nicht mit Respekt empfangen hätten und weil man ihrem Stamm die Bewirtung verweigert habe.

      Ein imposanter alter Glockenturm steht abseits auf einer Wiese, wahrscheinlich inmitten des früheren Friedhofs, zwischen dem Dorf und dem Weiler Mühlebach. Es handelt sich um den mittelalterlichen Turm der alten Pfarrkirche, die vom Eibach Ende des neunzehnten Jahrhunderts weggespült wurde.

      Auch das wegen seiner Malereien und den Totentanzversen bis weit über die Kantonsgrenzen hinaus berühmte Beinhaus wurde bei dieser Überschwemmung verwüstet und wie die alte Pfarrkirche nie wieder aufgebaut. Dieses Beinhaus trug die Jahreszahl 1496. Die Totentanzbilder ­bestanden in der Darstellung vom Tanz des Todes mit den Lebenden, wobei der Tod selbst als eine Art Gottesbote Menschen jeden Alters und Standes zum gemeinsamen Tanz auffordert.

      Was die Ansicht der ganzen Landschaft am meisten stört und beeinträchtigt, ist der See, der eigentlich ein Stausee ist und auch als solcher genutzt wird. Das heisst, dass er im Winter abgesenkt wird. So idyllisch er sich im Sommer mit der Spiegelung der umliegenden Berge und den teilweise bewaldeten Ufern dem Auge darbietet, so brutal und hässlich zeigt er sich im Frühling und Herbst, wenn der Wasserstand täglich sinkt und die verödeten, schlammigbraunen Uferpartien zutage treten. Dabei hat dieser See Geschichte und birgt unsägliche Geheimnisse. Man sagte mir, er sei über hundert Meter tief, was ich zwar bezweifle, doch sicher ist er ein Überbleibsel aus der Eiszeit, entstanden in einer tiefen Spalte. Um ihn ranken sich mythische Sagen und allerlei Geschichten.

      Der Ätti, der sich in den Mythen und Mären seiner Heimat bestens auskannte, wusste wohl über jeden Ort, jede Alp und jeden Berg im Obwaldnerland eine Sage oder Geschichte zu erzählen. Da erschienen oft die alten Götter in der Gestalt der Elemente, der Riesen, Hexer oder Zwerge, wunderbare Tiere trieben ihr Unwesen, oder fremdartige Wesen suchten die Sterblichen heim, belohnten oder be­straften sie oder verrichteten allerlei Wunderliches. Doch nichts schildert den Untergang der alten Götter- und Asenwelt eindrücklicher als die Sage vom Lungernsee.

      Nach Ättis Erzählung lag der Wasserspiegel dieses Alpensees in uralten Zeiten viel tiefer als heute. Es muss dies die Zeit gewesen sein, als noch Wilde und Bergmandli auf den Alpen und im Hochwald hausten, die oft den Bauern und Älplern bei ihrer harten Arbeit zur Hand gingen und sogar ihre Tiere besorgten. Die Talleute waren damals noch Heiden, und Lungern hiess auch noch nicht so, sondern Lugarun, benannt nach dem Gott Lug, dem die Bewohner opferten und den sie als das höchste göttliche Wesen ehrten. Seine Weihestätte lag auf einem Inselchen mitten im See in einem heiligen Hain; auf dem Altarstein, der von jahrhundertealten Baumriesen umgeben war, sollen sogar Menschen geopfert worden sein. Das behauptete zumindest mein Grossvater, dabei gestikulierte er vielsagend mit den runzligen Händen in der Luft herum, als gälte es, gerade jetzt einem armen Opfer die Kehle durchzuschneiden.

      Schon damals betrieben die Talbewohner Landwirtschaft, sie hielten sich Schafe, Kühe und Ziegen, der See war umsäumt von saftigen Wiesen und fruchtbaren Feldern, die bis hinab ans glasklare Wasser reichten und die Menschen mit ihrem Ertrag reich und zufrieden leben liessen. Dabei waren der See und die Bäche reich an Fischen, die Wälder boten Wild im Überfluss. Doch das sollte sich plötzlich ändern. Eines schönen Tages stieg Sankt Beat, der Glaubensbote aus dem fernen Irland, vom Brünig her ins liebliche Tal hinab. Seit vielen Jahren schon hatte er im Haslital die Lehre des Christentums verbreitet und viele Heiden dort zum wahren Glauben bekehrt. Nun war er schon fast ein Greis, mühsam fiel ihm der weite Weg von seiner Behausung in der Höhle am Thunersee bis hierher an diesen Ort, wo er Labsal und Erfrischung zu finden hoffte. Doch erst wollte er dem Volke Gottes Wort verkünden, drüben auf dem Inselchen in ihrem heiligen Hain wollte er predigen und Zeugnis ablegen vom Leben Christi und seiner Erlösung. Als er nun in die Siedlung kam und am Ufer des Sees einen Fischer antraf, bat er ihn, er möge ihn doch übersetzen in seinem Kahn, aufs Inselchen zum Götzenhain. Die Dorfbewohner aber, die seine Bitte mit anhörten, rotteten sich zusammen, sie weigerten sich sogar, dem Fremdling Gastrecht zu gewähren, sie piesackten den Glaubensboten, bewarfen ihn mit stinkenden toten Fischen, Steinen und Exkrementen so lange, bis er die Flucht ergriff und umkehrte, zurück den Berg hinauf, dem Brünig zu.

      Oben über dem Dorf, wo nun das Burgchäppeli steht, sei er dann, von Erschöpfung, Hunger und Durst gequält, nach Atem ringend auf die Knie gesunken, er habe die Arme ausgebreitet und seinen Gott um Hilfe angefleht in seiner Not. Da habe sich das Firmament verfinstert, ein schweres Grollen vom Pilatusberg her habe man vernommen, Blitze zuckten, Donner grollte, und dann sei ein unheimliches Gewitter mit Sturm und schweren Regenböen über das Tal hereingebrochen, wie man es vorher noch nie erlebte. Der schäumende Wasserfall des Dundelbachs schwoll aufs Zehnfache an, spie weit hinaus über Wiesen und Matten, haushohe Steine rumpelten von den Flanken der Berge hinab ins Tal und verwüsteten die Felder, Bäche