Lochhansi oder Wie man böse Buben macht. Jeannot Bürgi

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Название Lochhansi oder Wie man böse Buben macht
Автор произведения Jeannot Bürgi
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783038550648



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einem Welti-Furrer-Lastwagen überfahren wurde und danach nicht mehr brummen konnte. Jolifränzi stahl meine Mundharmonika, die sich aber später in seinem Kopfkissen wiederfand. Ich pisste dem Schlupfchasper in den Süssmost, worauf ich eine Tracht Prügel bezog und drei Tagen lang nur Wasser zum Trinken bekam. Solche Sachen gehörten eben auch zu unserem Alltag, Hänseleien und Eifersucht, Streiche und Plagereien, Streit und Gekeife. Doch war ich stets überzeugt, ich brauchte keinen Vater und keine Mutter, nun hatte ich auf einmal Eltern, und mir war bewusst, irgendwie musste ich damit zurechtkommen.

      Das war am Anfang gar nicht so einfach, nicht nur wegen der ungewohnten Umgebung, Muhheim halt, Bauernland, so weit das Auge reichte, und Kühe, die mich schon in aller Frühe mit dem Gebimmel ihrer Treicheln und Schellen weckten. Dabei waren meine Tage voll von Überraschungen, überall gab es Neues und Unbekanntes zu entdecken.

      Als ich die Rinder und Kühe zum ersten Mal vor unserem Stubenfenster grasen sah, packte mich der Schrecken, so dass ich schnurstracks in die Küche floh und mich unter der Eckbank verkroch. Natürlich hatte ich schon vorher Kühe gesehen, von der Eisenbahn aus auf der Fahrt hierher, doch da waren sie nie so nahe, standen weit weg und grasten friedlich auf der Wiese. Doch hier schienen sie mir riesengross und furchterregend, die geblähten Leiber braun und massig. Die hornbewehrten Häupter drängten sich um einen Bottich, der voll Wasser direkt vor unserer Hauswand stand.

      In der Küche sass ein Waldschrat, den sie alle Bini nannten, eigentlich hiess er Albin, von Zeit zu Zeit versorgte er das Vieh und half aus, wo er gerade gebraucht wurde. Er blies in den Milchkrug, wo sich ein dicker Nidelpelz gebildet hatte, schenkte sich dann Milch und Kaffee ein und lachte schallend. Meine Mutter röstete Kaffeebohnen, das ganze Haus stank danach, sie schalt mich und fand, ich solle mich doch nicht so anstellen, ich solle das Theater lassen. Scheinbar hatte niemand begriffen, warum ich mich unter dem Tisch verkroch. Joggeli, der Dackel, leistete mir Gesellschaft. Er stupste mich mit seiner feuchten Nase an, ich kraulte ihn hinter den schlappen Ohren und dachte nach.

      «Der wird nie ein Bauer, da kannst du sicher sein», hörte ich den Bini zu Mutter sagen, die unablässig in ihren Kaffeebohnen rührte. Der Bini redete munter weiter, derweil er Brot und Käse futterte, über Galtigs, Rindli, Kälber und Kühe, über eine, die stierig wäre und zum Muni müsse, und über den Klauenschneider, der morgen komme.

      Ich solle nun hervorkommen und nicht länger Maulaffen feilhalten, befand meine Mutter, ich könne mit dem Bini mit, der gehe nun zum Stall. Das Stallgebäude lag versteckt und vom Haus aus kaum sichtbar hinter einem buckligen Hügel. An der Hand von Bini stapfte ich eben später den Weg entlang und dachte über die Maulaffen nach, die ich nirgends sehen konnte, und über allerlei andere rätselhafte Dinge, die ich hier erlebte, das Leben mit den Tieren, die täglichen Rituale und Gebräuche, die fortan meinen Tag bestimmen sollten. Eines war mir klar, mit dem Herumhängen, Träumen und Spielen war es vorläufig wohl vorbei. Es gab immer etwas zu tun, man durfte nicht untätig sein.

      Im Wechsel der Jahreszeiten, das lernte ich schnell, veränderten sich die Arbeiten. Die Menschen versorgten die Tiere, und die Tiere gaben den Menschen alles, was diese zum Leben nötig hatten. Jedes Lebewesen hatte hier seine Aufgabe: Der Hund bewachte das Haus, die Katze fing Mäuse, die Kühe gaben Milch, die Schweine Fleisch und Fett, die Hühner versorgten uns mit Eiern und die Bienen mit Honig. Kartoffeln wuchsen auf dem Acker und Früchte an den Bäumen, der Garten lieferte Gemüse und Beeren und der Wald Brennholz. Meine Mutter besorgte die Landwirtschaft und den Haushalt, der Vater war Zimmermann, er baute Häuser, Scheunen und Alphütten, war selten zu Hause, oft wochenlang im Militär. Ich konnte noch kaum mithelfen, doch einfach herumhängen und gar nichts tun durfte ich auch nicht. Es fanden sich immer kleine Arbeiten, die mir zufielen, wenn nicht, dann tat ich gut daran, mich aus dem Staub zu machen, ich durfte keinesfalls stören. Das «aus dem Staub machen» wurde mir zur zweiten Natur. Staub war für mich fürderhin überall da, wo sich Leute herumtrieben, die etwas von mir wollten.

      An diesem Morgen, den ich mit Bini in der Scheune verbrachte, zeigte er mir alle Tiere, die ich bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Die Rinder, Kälber und Kühe grasten auf der Weide, waren also nicht im Stall, darüber war ich ganz froh. In einem abgegrenzten Teil des Stalles lebten die Schweine, es waren zwei Stück, auch sie suhlten sich zur Zeit draussen im Dreck in einem umzäunten Pferch. Vor denen hatte ich überhaupt keine Angst, man konnte ihnen den Rücken kraulen, sie grunzten zufrieden. Auch mit den Geissen freundete ich mich an, die alle hinter der Scheune grasten. Sie benahmen sich zutraulich, ich wurde neugierig beäugt und beschnuppert. Abgesondert vom Vieh, hatten auch sie einen eigenen Stallteil. Über der Tenne liess mich Bini dann seine Kammer sehen, mit Wänden aus Strohballen, mit einem Strohsack als Matratze, einer Pferdedecke aus Armeebeständen und einem Rosshaarkissen, das war sein ganzer Komfort.

      In einem Stapel alter Zeitungen fand ich ein Leidzirkular, auf dessen blanker Hinterseite ich herrlich zeichnen konnte. Die Zeichnung brachte ich dann meiner Mutter heim, darauf war ein Tisch zu sehen, darunter lauter Maulaffen. Diese hatten grosse Mäuler, sie lachten mit gebleckten Zähnen, während sich ihre langen Schwänze unter dem Tisch hervorringelten.

      Sie fand das aber gar nicht lustig, wenigstens mir gegenüber tat sie so. Später aber hörte ich, wie sie alle über meine Zeichnung lachten, als sie zusammen in der Küche beim Kaffee sassen. Ja, ja, ich weiss, es war das alles sicher nicht einfach, für mich nicht und für die Erwachsenen nicht, die sich um mich zu kümmern hatten. Mit Blicken des Unverstands wurde mir gar oft bedeutet, dass ich etwas falsch verstanden hatte, dass ich Verbotenes oder Verkehrtes tat.

      Ich war kein lustiges oder fröhliches Kind. Doch niemand tat mir offensichtlich etwas zuleide, alle wollten, dass ich fröhlich war und lachte. Sogar mein Vater, der meistens eine ernste Miene zur Schau trug, versuchte mich mit Faxen und Kapriolen aufzuheitern, doch eigentlich war mir nicht zum Lachen zumute. Ich verzog zwar meinen Mund, bleckte die Zähne und kniff die Augen zusammen, doch lachen tat ich nicht. «Siehst du eigentlich nicht, wie er dich auslacht», frotzelte der alte Ätti, der Grossvater, und grinste, während er seinen Priem von einer Backentasche in die andere verschob. Nun ja, ich muss halt wohl immer eine harte Nuss für meine Mitmenschen gewesen sein.

      Mit uns am Tisch sass zu dieser Zeit auch die jüngere Schwester meiner Mutter. Sie war schwanger, und ihr Mann war nur am Wochenende da. Beide bewohnten sie die obere Wohnung, er arbeitete als Holzer bei den Förstern, sie half so viel wie möglich meiner Mutter aus, vor allem in der Hauswirtschaft. Sie hatten noch keine Kinder, das muss also im Jahre ᾽44 gewesen sein, denn in diesem Jahr wurde ihnen ein Töchterchen geboren. Das war auch das Jahr, als die beiden Bacherbuben im See ertranken, zwei Cousins, die beide gleich alt waren und den gleichen Namen trugen. Das Wasser war keinen Meter tief, wie sie das gemeinschaftliche Ertrinken angestellt haben, habe ich mich oft gefragt, beide waren damals in der Rekrutenschule und im ersten Urlaub zu Hause. Aber da geschah so vieles um mich her, das ich nicht erklären konnte. Das Unverständlichste war wohl die Sache mit der Religion.

      Religiöses war mir bis anhin unbekannt. Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich unbeschadet und unbeschwert von Begriffen wie Schuld und Sünde, Gott und Teufel, Himmel, Hölle und Fegefeuer meine ersten Lebensjahre verbracht habe. Das alles änderte sich hier nun schlagartig, alles war hier mit Religion und frommen Ritualen erfüllt, in jedem Zimmer hing ein Weihwassergefäss, ein Rosenkranz lag in der Tischschublade, ein Stechpalmenzweig stak auf jedem Türsturz. Natürlich gab es den Herrgottswinkel in der Stube, an der Wand das Bild der Heiligen Familie und des guten Hirten hing in bunten Farben über dem elterlichen Ehebett. Über meinem Schlafplatz schwebte die Madonna von Raffael, die vatikanische mit den zwei schmierigen Puttos am unteren Bildrand, dazu das Bild des gütigen Schutzengels, der das Kinderpaar über die gefährliche Brücke geleitet, während in der Tiefe der Schlucht der Wildbach tost. So gab es nun auf einmal einen Liebgott, der im Himmel sass, und einen Teufel in der Hölle. Dazu Dämonen, Geister, Engel und Heilige, alles war erfüllt von Wesen, von denen ich bis anhin keine Ahnung hatte.

      Das war dann eben katholische Religion, das alles erklärte mir meine Mutter. Das hatte auch mit der ewigen Beterei zu tun, beten konnte man nie genug, der ganze Tag war von Gebeten eingeteilt. Da gab es das Morgen­gebet nach dem Aufstehen, dann die Tischgebete vor und nach dem Essen, den Englischen Gruss am Mittag beim Läuten der Glocke, am Freitag um drei, wieder beim Läuten,