Mitten im Steinschlag. Britta Kiehl

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Название Mitten im Steinschlag
Автор произведения Britta Kiehl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991077152



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keine Alternativen. Lenox Castle musste weiterhin jedweder Bedrohung, Anfeindung und Provokation durch die Corlens aus dem Weg gehen, ignorieren, Ruhe bewahren und Übergriffe abwenden.

      Im Moment hatte Sarah jedoch andere Sorgen. Ihre kleine Schwester war irgendwo in diesem schrecklichen Land, verletzt, verstört und allein.

      „Hätte ich doch nur gesagt, sie solle sich verstecken, anstatt auf das Pferd zu steigen!“

      Es brachte nichts, über derartige Fehlhandlungen ihrerseits nachzudenken.

      Müde ließ sie sich schließlich auf ihr Bett fallen. Liam riss sie schließlich aus ihren düsteren Gedanken. Polternd, wie immer, war er ins Zimmer getreten. Er wollte angeln gehen. Ein völlig untypischer Zeitvertreib für einen großen, breitschultrigen Mann, der eigentlich nie genau wusste, wohin er mit seiner enormen Kraft sollte. Liam entstammte einer verarmten Adelsfamilie, was Sarah nicht hinderte, ihn zu heiraten. Für sie war er der ideale Mann, ein Brustkorb wie ein Stier, hart wie Stahl und fast emotionslos. Dafür war er mit Verstand weniger gesegnet, sodass er Sarah absolut hörig war. Nur in den seltensten Fällen begehrte er auf, korrigierte seine Frau oder gab seine Meinung zum Besten. Da er alles andere als redselig war, äußerte er seine Belange stets in kurzen, knappen, aber präzisen Worten.

      Als Befehlsoberhaupt der Garde, einer Eliteeinheit von ausgewählten, königstreuen, verschwiegenen und kampferfahrenen Soldaten, war er unschlagbar. Das Kampf- und Situationstraining für Spezialeinsätze oblag Sarah. So arbeiteten Liam und Sarah überwiegend Hand in Hand.

      Oberst Stelton hingegen, ein äußerst zuverlässiger und brillanter Methodiker und Stratege, befehligte das königliche Heer, das nicht sehr groß war, aber dafür um so effektiver arbeitete.

      Liam legte Sarah schweigend den gewünschten, konzeptionellen Plan für die Suche Lizzys vor. Ein kurzer Blick genügte Sarah, um den Plan als genial einzustufen, sollte es zu dessen Ausführung kommen. Liam beobachtete ausdruckslos seine temperamentvolle Frau. Er sah ihr perfekt geschnittenes Gesicht, ihr blondes, wallendes Haar, ihren ebenso perfekt proportionierten Körperbau. Er liebte sie unsterblich und würde bedingungslos sein Leben für sie geben. Trotzdem sehnte er sich hin und wieder, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen nach mehr Liebreiz, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen, wie es Sarahs Schwester innehatte.

      Gleichzeitig bewunderte er die Entschlossenheit, die Härte und die Intelligenz seiner angetrauten Gattin. Schwächen gab es für Sarah nicht. Nur wenn es um ihre Schwester ging, dann wurde sie butterweich.

      „Zufrieden?“, fragte Liam. Sarah nickte.

      „Auf mich wartet Arbeit“, sagte er dumpf, machte kehrt und verschwand so polternd, wie er gekommen war. Sarah sah auf die marmorne Kaminuhr, ein Hochzeitsgeschenk entfernter Verwandter Liams. Auch für sie wurde es allerhöchste Zeit ihren festgelegten Arbeiten im wirtschaftlichen Verwaltungssektor des Schlosses nachzugehen.

      Der kommende Tag zeigte sich grau und bedeckt. Die Luft war feucht und unangenehm warm. Gewitterluft.

      Lizzys Kopfschmerzen waren fast verebbt. Die Schwindelattacken wie fortgeblasen.

      Daniel hatte ihr das Frühstück gebracht.

      „Besser heute?“ Aufmunternd sah er sie an. Sofort spürte Lizzy wieder die Wärme und Vertrautheit, die von ihm ausging. Erneut begann ihr Herz schneller zu schlagen.

      „Ich glaube schon.“

      „Heute Nachmittag zeige ich dir Susans Garten, ist zwar hauptsächlich ein Gemüsegarten, aber du kommst an die frische Luft oder wie man das da draußen gerade nennt.“

      „Oh, nein!“, dachte Lizzy aufs Neue. Wieder sah sie dieses zaghafte Lächeln in dem sonst so ernsten Gesicht. Es ließ sie innerlich dahin schmelzen. Verlegen betrachtete sie ihre Finger.

      Daniel war sich seiner Wirkung auf Frauen nie bewusst geworden. Sicher hatten ihn sowohl in dieser vermaledeiten Eliteschule als auch im Schloss die Mädchen umschwärmt. Er hätte jede haben können, wenn er gewollt hätte.

      Er hatte andere Prioritäten, dazu gehörte der Widerstand gegen die Gewaltherrschaft seines Vaters und seines Bruders sowie sein eigenes Überleben. Eine Frau hätte ihn nur unvorsichtig und, was viel schlimmer war, erpressbar gemacht.

      Bei Lizzy war alles anders. Daniel fühlte, dass er bei diesem Mädchen seinen strickten Vorsätzen untreu werden könnte. Es zog ihn mehr und mehr zu ihr, viel mehr als er sich eingestehen wollte. Dagegen anzukämpfen, erschien ihm schon bald zwecklos. Noch siegte sein Verstand. Lizzy würde gehen und alles wäre beim Alten. Nur ein Gefühl der Leere würde zurückbleiben, weiter nichts.

      Am späten Vormittag entlud sich ein kräftiges Gewitter. Es regnete sturzbachartig. Der Sturm heulte unheimlich um das Haus.

      Philip und Daniel waren in der Tischlerei beschäftigt, Susan mit dem Einkochen von Erbsen. Schlecht gelaunt stiefelte das Kind durch das Haus auf der Suche nach Abwechslung. Spontan fiel ihr der Gast ein, der in Daniels Kammer untergebracht war. Vielleicht war der ja lustig und spielte mit ihr. Entgegen aller Verbote von Seiten ihrer Mutter kletterte sie unbeholfen die steile Treppe zur Dachkammer hinauf. Mühselig betätigte die Kleine die Türklinke. Dabei stellte sie sich auf Zehenspitzen, um mit den Fingerchen gerade noch so die Klinke herunter drücken zu können. Glücklich, die Tür geöffnet zu haben, platzte sie ins Zimmer. Vor dem Bett blieb sie stehen. Neugierig legte sie den Kopf schief, um die Fremde begutachten zu können.

      Überrascht über den seltsamen Besuch musste Lizzy lachen.

      „Nanu, wer besucht mich denn da?“, begrüßte Lizzy das Kind.

      „Ich wohne hier. Spielst du mit mir?“, lispelte Lily keck.

      Lizzy winkte das putzige Wesen zu sich ans Bett. Vertrauensselig hüpfte das Kind wie selbstverständlich auf das Bett, um sich auf Lizzys Beine zu setzen. Dann sah sie Lizzy wartend an.

      Dass sich ein Kind im Haus befand, wusste Lizzy von Daniel, doch dass die Kleine so zuckersüß und putzig war, hatte er nicht erzählt.

      „Also gut. Dann sage mir, was du gerne spielen möchtest!“

      Die Frische des Mädchens belebte Lizzy auf seltsame Weise. Der letzte Anflug von Kopfschmerzen war verflogen.

      „Kannst du mir eine Geschichte erzählen? Eine ganz tolle, schöne.“

      Lizzy musste lachen. Dann zog sie ganz wichtig denkend die Stirn in Falten, ohne an die blau gefärbten Reste der Beule zu denken. Ein Fehler wie sie schmerzhaft feststellen musste.

      „Ich erzähle dir eine Geschichte, eine ganz alte. Die hat mir meine Schwester früher oft erzählt, wenn ich mich in der Nacht fürchtete und nicht schlafen konnte.“

      Die quirlige Lily saß ganz ruhig da, hatte ihre kleinen Hände in den Schoss gelegt und wartete nun gespannt mit offenem Mund.

      „Es war einmal ein kleines Raupenkind. Das hatte immer furchtbare Angst, wenn es draußen dunkel wurde und die Nacht hereinbrach. Bei Tage war es lustig und froh. Ausgelassen spielte es mit den anderen Kindern auf der bunten Blumenwiese. Doch sobald es zu dunkeln begann, versteckte sich das Raupenkind in einer kleinen Steinhöhle aus Kieseln. Dort saß es zitternd und bibbernd und erschrak fürchterlich, bei jedem noch so kleinen Geräusch, das aus der Dunkelheit kam. Es meinte Gespenster und Unholde zu hören und Bestien zu sehen.

      Erst wenn der Morgen graute, schlief das Raupenkind ein. Die anderen Raupenkinder verlachten es sehr und schimpften es „Angsthase“. Dann weinte es bittere Tränen. Schließlich spielte es mit den anderen Kindern nicht mehr und zog sich zurück. Traurig saß es nun auch bei Tage in seiner Schlafhöhle, bemitleidete sich, weinte und bemitleidete sich wieder.

      Eines Tages wurde es sehr, sehr müde. Obwohl draußen der herrlichste Sonnenschein herrschte, kroch es ganz, ganz tief in seinen Unterschlupf, wickelte sich in warmes Blattwerk und schlief ein.

      Als es wieder erwachte, war draußen finsterste Nacht. Verschlafen zwängte es sich aus der viel zu klein gewordenen Höhle hinaus in die Dunkelheit.

      Es reckte und streckte