Varius. Adina Wohlfarth

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Название Varius
Автор произведения Adina Wohlfarth
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991072430



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einen Moment die Augen. Wie sehr ich diese Situationen hasste, in denen man kurz davor war, etwas zu verraten, und man wusste, dass die Welt danach nicht besser aussehen würde.

      „Ich habe Liam geküsst. Aber es war nicht mit Absicht. Es ist einfach so passiert. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass zwischen ihm und mir mehr ist, als zwischen dir und mir. Wir sind und bleiben beste Freundinnen und –“

      Liz sog scharf die Luft ein. Jetzt war ich es, die zusammenzuckte. Das war eigentlich nur die halbe Wahrheit, denn Liam hatte mich geküsst, nicht andersrum. Aber ich wollte ihn schützen und um jeden Preis verhindern, dass Liz auf ihn sauer war.

      Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Warum? Warum küsst du meinen Bruder?“ Jedes einzelne ihrer Worte ließ mich schaudern.

      „Du hast mir versprochen – an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben –, da hast du mir versprochen, dass du ihn niemals mehr lieben wirst als mich.“ Ihre Stimme klang heiser und brüchig.

      Ich streckte eine Hand nach ihrer aus, doch sie zog den Arm zurück.

      „Aber das tue ich doch immer noch nicht. Ich liebe deinen Bruder nicht mehr als dich. Ihr seid beide immer wie Geschwister für mich gewesen. Es war ein Ausrutscher. Ich war so von Gefühlen überrumpelt … und Liam war in dem Moment zufällig da“, versuchte ich sie zu überzeugen.

      Liz schnaubte, was für mich wie ein Messerstich in den Bauch war. Und dann ging sie, ohne ein weiteres Wort, mit langen Schritten über den Vorplatz davon. Ich sah ihr nach und fühlte mich auf einmal so hilflos und allein gelassen wie noch nie zuvor in meinem Leben.

      Mom war fort. Dad war fort. Ozea war fort. Peroll war fort.

      Und jetzt auch noch Liam und Liz.

      Mit unsicheren Schritten ging ich zurück in mein Zimmer und ignorierte die Wächter, die mich zu beruhigen versuchten. Irgendwann kam Taylor in mein Zimmer. Ich wusste nicht mehr, wie spät es war, auf jeden Fall war längst die Sonne untergegangen. Sie stellte mir eine Tasse Tee auf den Nachttisch und verschwand wieder.

      Die Nacht war kalt und der Mond hinter einem schwarzen Vorhang verborgen. Nichts regte sich im Unterholz. Leiser Wind strich mir die Haare aus dem Gesicht und fuhr unter meinen dünnen Schlafanzug. Ich fröstelte. Doch innerlich – innerlich glühte mein ganzer Körper. Die Hitze versengte zuerst meinen Magen, fuhr durch meine Adern und entflammte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Als sie bei meinen Lungen angelangt war, schnürte sie mir die Luft ab und ich hörte mich röcheln. Mein gesamter Körper wurde von einem Beben erfasst. Ich wusste, wo das Feuer hinwollte. Wo es mich am besten vernichten konnte. In meinem Herzen. Mit züngelnden Flammen griff es nach ihm, streckte sich und tobte, als es sein Ziel nicht zu fassen bekam. Einzelne Schweißperlen lösten sich von meiner Stirn und rollten mir übers Gesicht. Hinunter zu den Wangen, verklebten meine müden Wimpern und liefen mir in den Mund. Mein Körper würde verbrennen, doch nicht von außen, sondern qualvoll von innen. Und dann legten sich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille und hoben mich hoch. Im nächsten Moment wurde ich an eine breite Brust gedrückt. Ich nahm einen vertrauten, warmen Geruch wahr, konnte ihn jedoch nicht einordnen. Meine Mundwinkel hoben sich leicht, als eine beruhigende Stimme in mein Ohr säuselte, eine Hand über mein Haar fuhr und es mir aus dem verschwitzten Gesicht schob. Ich murmelte etwas, was ich selbst nicht verstehen konnte, und dann begannen die schäbigen Umrisse der Bäume näher zu kommen. Sie rückten vor, wie von unsichtbarer Hand getrieben, und versperrten mir und wem auch immer den Weg nach draußen. Die Luft wurde erneut aus mir herausgepresst und ich keuchte. Die Hand fuhr meinen Rücken hinab und wieder hinauf, doch ich bekam immer noch keine Luft, nach der meine wunden Organe schrien. Äste und Zweige bogen sich zu mir hinab, griffen nach mir, schlugen mir ins Gesicht und kratzten mir die heißen Wangen auf. Und dann wurde alles schwarz und leer und still.

      5

      Nell

      Ich spürte etwas Kaltes, Scharfes, das sich unter meine Haut schob, und erwachte. Grelles Licht stach mir in die Augen und nahm mir die Sicht, bis ich mich etwas daran gewöhnt hatte. Ein Kopf erschien und ich richtete mich blinzelnd auf. Ich erkannte Luan sofort. Doch ihm fielen die dunkelblonden Haare wirr in die Stirn, seine Wangen waren blasser als sonst und seine Augen hinter dichten Wimpern verborgen.

      „Wo sind wir?“, murmelte ich und erschauderte, als ich hörte, wie rau meine Stimme klang. Plötzlich wurde mir der Gegenstand wieder aus der Haut gezogen und ich zuckte zusammen.

      Eine Frau erschien. Sie hatte lockiges, rotes Haar und funkelnd rote Augen.

      Rote Augen.

      Ein seltsames Lächeln erschien auf ihren schmalen Lippen, als sie sich vorstellte. „Ich bin Amber Notker. Das, was du gerade gespürt hast, war ein kleiner Chip, den ich dir oberhalb deiner rechten Schulter eingepflanzt habe. Damit wirst du überall registriert.“

      Ich zog die Brauen zusammen. „Warum registriert?“

      Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Das wird dir alles erklärt, wenn du erst einmal da bist.“

      „Wo bin?“, hakte ich nach und sah Luan hilfesuchend an, doch er wich meinem Blick aus und drückte die Schultern durch.

      Erst jetzt nahm ich meine Umgebung wirklich wahr. Ich lag auf einem wackeligen Stellbett, das an den Beinen befestigt war. Die Wände waren auch keine Wände, sondern ein mittelgroßer Kleinbus, in dem haufenweise medizinische Utensilien rumstanden. Luan saß auf einem Klappstuhl neben meinem Bett und erhob sich, als Amber Notker uns verließ und durch eine winzige Tür in den Fahrerraum glitt. Der Bus wackelte bedächtig und ich musste mich an der dünnen Matratze festkrallen, um nicht gegen Luan zu rutschen.

      Mit finsterer Miene starrte er auf mich hinab und ich fühlte mich entblößt. Unwohl zog ich mir die Decke bis unters Kinn und starrte zurück, bis er leise fluchte und sich wieder hinsetzte.

      „Wo sind wir?“, fragte ich abermals und jetzt klang meine Stimme schrill vor Angst. Luan stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab und musterte mich aus schmalen Augen. „Auf dem Weg zum Lager.“

      Nackte Verzweiflung kroch mir den Rücken hinauf, bis sich meine Nackenhaare aufstellten. „Lager?“, wiederholte ich.

      „Ein Ort, an dem du dich zum ersten Mal in deinem Leben wahrhaftig sehen kannst“, sagte er mit rauer Stimme.

      Meine Brust wurde eng. „Was soll das denn heißen?“

      „Bitte, Nell“, meinte Luan und wirkte auf einmal erschöpft. „Tu einfach, was man dir sagt, und stell keine Fragen. Je weniger du weißt, desto besser stehen die Chancen, dass du überlebst.“ Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.

      Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, der die gesamte Fahrt über immer dicker wurde. Als der Wagen endlich langsamer wurde und schließlich anhielt, packte mich das Grauen erneut.

      Amber Notker erschien wieder und reichte mir eine Cremedose.

      „Schmiere dich damit ein, so gut es geht. Die Creme schützt deine Haut vor den feinen Lasern, die dich registrieren, sobald du das erste Abteil betrittst“, wies sie an und verschwand wieder.

      Unsicher folgte ich ihrer Anweisung und bedeckte meine Haut mit der kalten Masse. Dann wurde ruckartig die Schiebetür des Busses aufgeschoben und ein breitschultriger Mann erschien.

      Ich ging davon aus, dass er der Fahrer war. Der Mann reichte mir eine Hand und sah mich auffordernd an. Ich warf Luan einen kurzen Blick über die Schulter zu, er nickte stumm. Zögernd nahm ich die Hand des Fremden und stieg aus dem Bus. Luan folgte dicht hinter mir.

      Vor mir tat sich eine riesige Anlage auf. Hohe Stahlbalken umschlossen ein quadratisches Gebäude. Die Wände waren schlicht weiß mit einem Stich ins Grau, weshalb es in der kargen Landschaft kaum auffiel. Der Block hatte keine Fenster, nur eine breite Tür, ebenfalls aus massivem Stahl, ermöglichte einen Zugang. Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen.

      „Willkommen im ersten Abteil!“, flötete Amber Notker und machte eine einfache