Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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im Land durchzusetzen. Sein Erfolg blieb jedoch bescheiden, und er wurde fünf Jahre später getötet – wohingegen die Regierung all jene bestärkte, die nach Afghanistan gehen und den Kämpfern nacheifern wollten, denn damit konnte sie sie loswerden … Zur gleichen Zeit kämpften konservative Kreise gegen linke Universitätsstudenten und forderten die allgemeine Abschaffung des Französischen zugunsten des Arabischen sowie die Anwendung der Scharia, wozu sie öffentliche Gebete abhielten: Auch sie bekamen Repressalien zu spüren. Das Regime folgte dem Beispiel Sadats, der ein Jahrzehnt zuvor in Ägypten dieser Bewegung den Wind aus den Segeln hatte nehmen wollen, indem er eine vom Staat kontrollierte Islamisierung förderte. Eine vom Koran inspirierte Familiengesetzgebung wurde verabschiedet, im Land eröffneten überall Moscheen, Bücher und Tonbänder wahhabitischer Prediger überschwemmten die Buchmesse in Algier und verdrängten Texte auf Französisch. Die Regierung lud den ägyptische Scheich Yusuf al-Qaradawi ein (der später als Fernsehprediger im Sender Al Jazeera ein großes Publikum erreichen und einer der wichtigsten Akteure bei der Islamisierung des Arabischen Frühlings 2011 werden sollte), damit er als Ansprechpartner vor Ort das »islamische Erwachen« begleitete.

      Im Zusammenhang mit der allgemeinen, von den Ölmonarchien der arabischen Halbinsel seit 1973 geförderten Islamisierung der politischen Ordnung entstand in Algerien eine Art Gegen-Elite – womit sich in Nordafrika mit Verspätung das durchsetzte, was im Nahen und Mittleren Osten bereits geschehen war. An diese Gegen-Elite wandte sich Staatspräsident Chadli, mittlerweile der traditionellen Verbindung zur einzigen, inzwischen aber schwächelnden und im Mittelpunkt der Proteste stehenden Partei, der FLN, beraubt, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Am 10. Oktober empfing er den Prediger Sahnoun, einen ehemaligen Schüler Bouyalis und leidenschaftlichen Tribun des Dschihadisten Ali Belhadj, sowie den Führer der Muslimbrüder, Mahfoud Nahnah. Nach ihrem Aufruf endeten die Plünderungen – was bestätigt, wie groß ihr Einfluss war. Im Gegenzug erlaubte Chadli ein Mehrparteiensystem und eröffnete damit die Möglichkeit zur oben erwähnten Gründung der Islamischen Heilsfront FIS 1989. Sie wuchs ungemein rasch, zumal es ihr gelang, unter der Führung einer islamistischen Intelligenz zwei sich antagonistisch gegenüberstehende soziale Klassen zu vereinen: zum einen die arme, urbane Jugend – im Dialekt mit dem Spitznamen hittistes versehen (»die die Mauer festhalten«, wegen ihrer Untätigkeit) – und zum anderen die fromme Mittelschicht. Dieser revolutionäre Prozess erinnerte an die Anfänge im Iran in den Jahren 1978–1979. Die FIS forderte bald von der »gottlosen« Justiz die Freilassung von inhaftierten MIA-Dschihadisten, organisierte unaufhörlich Protestmärsche und Sit-ins und gewann hohes Ansehen, als sie nach dem Erdbeben in Tipasa im September die Aufgaben des schwachen Staats übernahm. Die FIS gewann mit großem Vorsprung die Kommunalwahlen im Juni 1990 und errichtete daraufhin ein Netz von »islamischen Gemeinden«. Auch im ersten Wahlgang zur Parlamentswahl im Dezember 1991 siegte sie. Dann jedoch schritt die Armee ein und verweigerte der Partei ihren Sieg, was, wie im Folgenden beschrieben werden wird, einen Dschihad in Gang setzte, der bis in das Staatsgebiet Frankreichs hineinwirkte.

      Auch wenn in Algerien die Machtübernahme durch die Islamisten trotz ihrer anfänglichen Erfolge verhindert werden konnte, so übernahm im Jahr 1989 zum ersten Mal eine sunnitisch geprägte Persönlichkeit mit islamistischer Überzeugung die Führung eines arabischen Landes: Hasan at-Turabi im Sudan. Der charismatische Intellektuelle entstammte einem religiösen Milieu, erhielt seine Ausbildung allerdings in England und Frankreich, wo er mit der Dritte-Welt-Bewegung in Kontakt kam. Wie Ali Schariati auf schiitischer Seite wollte er die Islamisierung der Gesellschaft »von oben« erreichen. So wandte er sich vornehmlich an die sudanesische Intelligenz, die zu großen Teilen der außergewöhnlich mächtigen Kommunistischen Partei angehörte. Nach Verbüßung einer siebenjährigen Haftstrafe übernahm er einen pragmatischeren Ansatz und unterwanderte sowohl den Staatsapparat als auch die Armee und das islamische Bankenwesen, das Saudi-Arabien im Land aufgebaut hatte. In den letzten Jahren des Regimes unter General Numairi, also in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, wuchs sein Einfluss. Er ergriff Maßnahmen zum Verbot von Alkohol sowie zur Einführung der Scharia und traf sich im Januar 1985 mit dem Intellektuellen Mahmud Muhammad Taha, der eine neue, kritische Lesart des Koran vorschlug. Nachdem im selben Jahr Numeiri gestürzt worden war und ein Bürgerkrieg zwischen dem muslimischen Norden und dem animistischen und christlichen Süden das Land verwüstete, gründete Turabi die Nationale Islamische Front. Er lieferte der Armee die Legitimation für ihre Taten und wurde, als der militärische Rückschlag Khartums im Süden am 30. Juni 1989 zum Staatsstreich durch Umar al-Baschir führte, zu dessen grauer Eminenz.

      Während das sowjetische Regime und die kommunistische Ideologie Ende 1989 in sich zusammenbrachen, eilte der politische Islamismus von Sieg zu Sieg – angefangen bei seiner Rolle beim Triumph über die Rote Armee in Kabul bis hin zur Machtübernahme in Khartum. Hinzu kamen die Affären rund um Rushdie in Großbritannien und den Schleier in Frankreich, bei denen der Islam in Bereiche der säkularisierten Kultur zweier europäischer Demokratien eindrang, um religiöse Werte umzusetzen. Nicht zu vergessen die Vereinbarung von Taif, mit der die sunnitische Vorherrschaft im Libanon gefestigt wurde, sowie die Gründung der FIS und der Hamas. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sollten noch lange spürbar bleiben, auch wenn es zunächst nicht danach aussah. In Algerien wurde der Dschihad ausgerufen, als die Armee kurz vor dem erwarteten Sieg der FIS die Wahlen für beendet erklärte. Hier geschah das, was das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts prägen sollte und auch für den zeitgleich stattfindenden Dschihad in Ägypten und Bosnien galt: Alle drei scheiterten.

      Die erste Phase des gescheiterten Dschihad: die 1990er-Jahre

      Vor allem die Entstehung von drei Fronten, ganz ähnlich jener, die kurz zuvor in Afghanistan mit einem vorbildhaften Erfolg geendet war, kennzeichnete die 1990er-Jahre: die Kämpfe in Ägypten, Algerien und Bosnien (die beiden letzteren berührten Europa unmittelbar und wiesen auf die Attentatswellen voraus, die den alten Kontinent noch überschatten sollten). Nach drei- bis fünfjährigen Auseinandersetzungen gelang in keinem der Länder eine Machtübernahme, doch bin Laden und Zawahiri zogen aus diesen Niederlagen Lehren, um eine zweite Phase vorzubereiten, die ihren Höhepunkt am 11. September 2001 mit dem »gesegneten zweifachen Angriff« in New York und Washington erreichte.

      Das Jahrzehnt begann mit einem internen Konflikt um die Einnahmen aus dem Ölverkauf in den sunnitischen Förderländern. Als sich Dschihadisten dabei gegen das Regime in Riad wandten, verursachte dies einen Riss im Prozess der Islamisierung, die die Ölmonarchien eigentlich förderten. Die von den Vereinigten Staaten angeführte Militärkoalition zur Befreiung des vom Irak besetzten Kuwait agierte von saudischem Boden aus und rief, zehn Jahre nach dem Angriff auf Mekka, gewalttätige Proteste in Saudi-Arabien hervor. Osama bin Laden wurde zu einem der führenden Köpfe dieser Gegenreaktion, was seinen Bruch mit den Autoritäten des Landes erklärt. Der irakische Einmarsch in Kuwait am 2. August 1990 ist auch daher deutlich paradoxer als der Krieg zwischen dem Iran und Irak, da das Emirat Kuwait, genau wie andere Ölmonarchien des Golf-Kooperationsrates, die Ausbreitung der Chomeini-Revolution auf der arabischen Halbinsel mit großzügigen Krediten für »Saddams Qadisiya« hatte bremsen wollen. Im Sommer 1988, nach dem Ende des Ersten Golfkriegs, war diese Gefahr beseitigt worden, Bagdad aber wegen der zerstörten Ölförderanlagen nicht mehr in der Lage, seine Schulden abzuzahlen. Die Eskalation der Spannungen erreichte im damals scherzhaft so genannten »Bankenangriff« durch den Schuldner ihren Höhepunkt. Dass sich das Interesse am Erdöl, Kriegslust und Islamisierung in diesem Konflikt miteinander vermengten, zeigte sich auf Anhieb dadurch, dass die Invasion am Morgen des Tages stattfand, an dem die Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Kairo zusammenkamen. Im Jahr zuvor hatte Kuwait noch den Vorsitz der OIC innegehabt. Just in dem Moment, in dem diese zur weltweiten Verbreitung des Islam unter saudischer Führung gegründete Institution eine Sitzung eröffnete, wurde ein Mitgliedsstaat von einem anderen erobert und annektiert. Nachdem Saddams Armee rasch mit dem Emirat fertiggeworden war (es hieß fortan nur noch »19. Provinz« des Irak), marschierte sie nun an der Grenze zu Saudi-Arabien auf, die Ölfelder von Hasa in Reichweite.

      In unsagbarer Panik rief König Fahd, »Diener der zwei Heiligen Stätten«, am 7. August US-Truppen um Hilfe. Da er »ungläubige« Militärs einlud, den heiligen Boden des Landes zu betreten, sah sich der wahhabitische Herrscher dem Vorwurf des