Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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des Subkontinents auf großes Echo gestoßen. Dies ging so weit, dass die Regierung in Neu-Delhi, obwohl säkular, das Buch zensierte. In London kam es zu Demonstrationen, die im Namen eines Gesetzes gegen Blasphemie ähnliche Maßnahmen forderten (das inzwischen aufgehobene Gesetz war bis dahin nur in Bezug auf die anglikanische Kirche angewandt worden). Im Januar war es in der wirtschaftlich stark gebeutelten Stadt Bradford, in den Midlands, in der zahlreiche arbeitslose Migrantinnen (mit ähnlichen ethnisch-konfessionellen Ursprüngen wie Rushdie) lebten, zu einer Bücherverbrennung gekommen. Mullahs und Führer muslimischer Verbände banden ein Exemplar des Buches an einen Pfahl auf einem Scheiterhaufen und zündeten diesen in Anwesenheit einer Menge von erregten Gläubigen direkt vor dem großen Rathaus an, das mit seinem gotisch-venezianischen Stil vom verloren gegangenen Reichtum aus Zeiten der Industrialisierung zeugte. Das im afghanischen Dschihad mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten verbündete Saudi-Arabien wollte die Angelegenheit nicht hochspielen, um die von dem Vorfall verunsicherte Regierung von Margaret Thatcher nicht zu brüskieren. Teheran jedoch erkannte die außergewöhnliche politische Chance, die sich hier auftat, und nutzte sie, indem es sich auch bei den muslimischen Sunniten und im Gegensatz zur Schwäche Riads als »Verteidiger des Propheten« positionierte. Chomeini löste einen noch nie da gewesenen Skandal im Westen aus, indem er dessen Prinzipien der freien Meinungsäußerung verspottete. Er fokussierte alle Aufmerksamkeit auf sich und verdeckte den amerikanisch-saudischen Erfolg in Kabul.

      Im Rückblick gesehen schuf die Fatwa gegen Rushdie gleich mehrere Präzedenzfälle. Zuallererst machte sie aus dem gesamten Planeten eine »Domäne des Islam« – ein Territorium, in dem die Scharia gilt. Wenn ein britischer Staatsbürger, der in Großbritannien lebt, durch die Scharia zum Tode verurteilt wird, beansprucht sie folglich Gültigkeit auch im Vereinigten Königreich und dem Rest der Welt. Chomeinis Gewaltstreich hob die traditionellen Grenzen der muslimischen Weltbeschreibung auf und annektierte die gesamte Erde für sein eigenes juristisch-religiöses Unternehmen. Die beachtliche Symbolik dieser Verschiebung im Rahmen der Islamisierung der weltweiten Normen und Werte wurde damals mangels Bereitschaft zum Perspektivwechsel nicht erkannt und wird auch heute noch, drei Jahrzehnte später, unterschätzt. Dabei schuf sie eine neue Rechtsprechung, die auf identische Art und Weise bei weiteren Fällen von »Blasphemie« erneut eingesetzt wurde. Beispiele hierfür sind der Mord am Filmemacher Theo van Gogh, der am 2. November 2004 in Amsterdam von einem marokkanischstämmigen Niederländer wegen seines Films Submission erstochen wurde, die Kampagne gegen die Veröffent lichung von Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten am 30. September 2005 und das Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 durch die Brüder Kouachi, die dabei riefen: »Wir haben den Propheten Mohammed gerächt!« Auch wenn die Initiative von Schiiten ausging, so schuf sie doch eine Norm, die bald die konfessionellen Grenzen überschritt, denn auch Sunniten übernahmen sie in der Folge für eigene Maßnahmen.

      Die Fatwa hatte noch eine weitere Konsequenz: Sie überzeugte die sunnitischen Dschihadisten von der Wichtigkeit der Medienöffentlichkeit, die sie bis dahin bei ihrem Kampf in Afghanistan vernachlässigt hatten. Aiman az-Zawahiri unterstrich deren Bedeutung in seinem Ende der 1990er online veröffentlichten strategischen al-Qaida-Manifest Ritter unter dem Banner des Propheten und zog selbst eine zwiespältige Bilanz des Dschihad in Bosnien, Algerien und Ägypten. Da sie zu eng gedacht waren, lösten sie nicht jene weltweite Resonanz aus, die ihnen Auftrieb gegeben und sie zum Sieg geführt hätte. In diesem Sinne hatten die Lektionen der Fatwa vom 14. Februar 1989 entscheidenden Einfluss auf die hollywoodreife Inszenierung des 11. September – im Satellitenfernsehen und vor allem auf Al Jazeera – wie auch auf die fast schon pornografisch wirkende Hinrichtung von Geiseln durch den sogenannten »Islamischen Staat« – in den sozialen Medien.

      Neben dem Dschihad in Afghanistan belegen drei weitere Konflikte in den 1980er-Jahren einerseits den Einfluss des politischen Islam auf die internationalen Beziehungen und andererseits den Überbietungswettbewerb zwischen Schiiten und Sunniten in der Frage der Hegemonie über den Islam. Vor allem unter diesem Gesichtspunkt sollen die Konflikte hier betrachtet werden.

      Saddam Hussein, der aus der im »arabisch-sunnitischen Dreieck« gelegenen irakischen Stadt Tikrit stammte, begann im September 1980 den Ersten Golfkrieg. Damit wurde die Baath-Partei gezwungen, mit dem Laizismus eines ihrer Gründungsprinzipien über Bord zu werfen und die ideologischen Regeln der Islamisierung der Region anzuerkennen. Sie ersetzte nun den säkularen arabischen Nationalismus, der am Ende seiner Kräfte war. Auf der irakischen Flagge erschien 1990 der Ausdruck Allah Akbar, Saddam ließ sich überall beim Beten filmen, und seinen Anhängerinnen, die bis dahin stolz ihren von jeglichem Aberglauben emanzipierten Kurzhaarschnitt zeigten, wurde auferlegt, sich streng zu verhüllen. Wie schon erwähnt, trug die Offensive gegen den Iran den Namen »Saddams Qadisiya« und erinnerte damit an die Entscheidungsschlacht, bei der Kalif Umar, der zweite Nachfolger des Propheten, 636 das Perserreich besiegte und dessen Gebiete besetzte. Saddam wollte auf diese Weise den religiösen Referenzrahmen selbst festlegen und seinen Gegner auf dessen sassanidische und zoroastrische Ursprünge reduzieren, was dessen Anspruch, den weltweiten Islam zu repräsentieren, unterwanderte. Teheran reagierte – und verurteilte urbi et orbi den Laizismus der Baathisten, da sie den Glauben als Täuschungsmanöver einsetzten. Um die Soldaten entsprechend der von Chomeini aktualisierten schiitischen Ideologie zu mobilisieren, nannte man im eigenen Sprachgebrauch die iranischen Militäroffensiven »Kerbela«: So sollte Saddam als Wiedergeburt des Umayyaden-Kalifen Yazid erscheinen, dem Mörder von Imam Hussein in Kerbela im Jahr 680. Und um die Gesamtheit der Muslime zu erreichen, bezeichnete man einige Feldzüge als »Badr«, eine Bezugnahme auf die erste siegreiche Schlacht des Propheten 624 an diesem Ort gegen die Kafir (»Gottlosen«) des Quraisch-Stamms – womit die »ungläubigen« Baathisten gemeint waren.

      Saddams Motive zielten in zwei Richtungen, nach innen und nach außen. Auf nationaler Ebene wurde seine blutige Diktatur durch den Ölpreisanstieg ungemein reich, schließlich war der Irak nach Saudi-Arabien der weltweit zweitgrößte Erdölexporteur. Saddams Machtbasis war die arabisch-sunnitische Minderheit des Landes, die Bevölkerungsmehrheit aber ist schiitisch (und ihre bedeutendsten Heiligen Stätten, Kerbela und Nadschaf, liegen im Irak). Außerdem lebten Kurden und irredentistische Bevölkerungsschichten in den Bergen im Norden, von wo aus sie sporadisch Guerillaaktionen starteten. Saddam wollte gleichzeitig der möglichen Anziehungskraft der politischen Schia auf die große Mehrheit von Irakern begegnen und die revolutionäre Unordnung im Nachbarland ausnutzen. Der Irak sollte gen Osten ausgedehnt werden, und da das Land nur wenig Küste am Persischen Golf besaß (58 Kilometer), strebte Saddam auch die Annexion der arabischsprachigen iranischen Küstenregion Chuzestan an.

      Auf regionaler wie internationaler Ebene wurde der Irak zum weltlichen Arm all derer, die die Ausdehnung und den Bekehrungseifer Chomeinis aufhalten wollten: die sunnitischen Ölmonarchien der Halbinsel – die sich im Mai 1981 gegen den Iran zum Kooperationsrat der Arabischen Staaten des Golfes (GKR) zusammenschlossen – und die Westmächte, darunter vor allem die Vereinigten Staaten und Frankreich. Alle Bedenken gegenüber Saddams unablässigen Verletzungen der Menschenrechte wurden beiseitegewischt, als er nun in den politischen Kreisen und von den Ölfreunden dieser beiden Länder hofiert wurde. Er pflegte gute Beziehungen zu Jacques Chirac und einem Gutteil der laizistischen Linken Frankreichs. Saddam kam in seinem Krieg gegen den Iran die Lieferung modernster Kriegstechnik zugute, vor allem die Leihgabe der französischen Marine-Kampfbomber Super-Étendard. Diese militärische Unterstützung war einer der Gründe für die Entführung westlicher Geiseln durch Teheran-freundliche Gruppen im Libanon, sorgte aber auch für den Umschlag des Kriegsgeschehens zuungunsten der Islamischen Republik.

      Um ein Chaos zu vermeiden, war Ajatollah Chomeini gezwungen, den »bitteren Kelch bis zur Neige zu leeren« – also das Angebot eines Waffenstillstandsabkommens zwischen den beiden ausgebluteten Ländern zu akzeptieren, das am 20. August 1988 die Kämpfe beendete. Diese Niederlage wollte er verschleiern und die »Oberhand zurückgewinnen«, als er am 14. Februar 1989 die Fatwa gegen Rushdie erneuerte. Chomeini starb am 3. Juni 1989 im Alter von 87 Jahren. Der Tod des charismatischen Imam war die notwendige Bedingung für die langsame Rückkehr der Islamischen Republik in die internationale Gemeinschaft. Saddam Hussein hingegen konnte sich durch seinen Sieg an der Spitze des verwüsteten, ruinierten Landes behaupten. Da er sich jedoch bei den Ölmonarchien tief