Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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von Lyon aufgewachsene Khaled Kelkal. Er fühlte sich in der Schulzeit von seiner Umgebung abgelehnt und entdeckte den Islam während eines Gefängnisaufenthalts – ein Lebenslauf, der für Hunderte von Dschihadisten in den Jahren zwischen 2000 und 2010 typisch wurde. 1993, mitten im Bürgerkrieg, kehrte Kelkal nach Algerien zurück, schloss sich dort der GIA an und erhielt zurück in Frankreich den Auftrag, am 11. Juli 1995 den Imam Abdelbaki Sahraoui zu ermorden, einen der Gründer der FIS. Sahraoui lebte und predigte in Barbès, einem von einfachen Menschen bewohnten Pariser Vorort, und wurde vom französischen Innenminister Charles Pasqua als Verbindungspartner zur FIS erachtet und damit als Garant dafür, dass Frankreich von den Ereignissen in Algerien unangetastet blieb.

      Dieser Mord machte Frankreich, und seine zwei Millionen Einwohner algerischer Herkunft, zur Geisel eines Dschihad, der das Mittelmeer überquerte, um in Europa einen Brückenkopf zu bilden. Auf diesem Wege erhielt auch die nächste Generation von Terroristen ihre Ideale und Anregungen zur Wahl ihrer Ziele. Obwohl in Frankreich ansässige muslimische Verbände, wie etwa die Union des organisations islamiques de France (UOIF, den Muslimbrüdern nahestehend), das Land als islamischen Boden für die dort lebenden Gläubigen bezeichneten (wodurch jeder kriegerische Akt auf diesem Gebiet verboten war), verwandelten die GIA-Aktivisten Frankreich in ein »Kriegsgebiet« (dar al harb), in dem der Dschihad das Töten von Gottlosen und anderen Abtrünnigen erlaubte. Die Anschläge, vor allem auf das öffentliche Transportwesen (wie sie im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London stattfanden), zielten auf zufällige Opfer. Doch keines der angestrebten Ziele wurde erreicht. Die große Mehrheit der Algerier in Frankreich bewegte sich nicht: Die »darons« (Familienväter) übten in jenen Jahren noch einen derart starken Einfluss aus, dass sie die Scharfmacher aussondern konnten, die ihre mühsam erworbene Integration gefährdet hätten – und Kelkal wurde von der Gendarmerie wie ein wildes Tier in einem Wald erlegt, denn er verfügte über keinerlei logistische Unterstützung.

      Die französische Regierung nahm eine strenge Haltung gegenüber dem islamistischen Terror ein, und die den Sicherheitsorganen zur Verfügung stehenden Mittel bewiesen ihre Wirksamkeit: Frankreich blieb, auch dank der guten Kenntnisse über die vorhandenen Netzwerke, 16 Jahre von Anschlägen verschont (mit Ausnahme der weiter unten beschriebenen Ereignisse in Roubaix). Beendet wurde diese Phase erst mit dem von Mohammed Merah am 12. März 2012 verübten Anschlag. Bis dahin hatte sich das Programm des Dschihad geändert, und die französischen Geheimdienste, die in geschlossenen Kreisläufen funktionierten, waren über ihre Erfolge unachtsam geworden.

      Der erfolglose Dschihad in Ägypten (1992–1997) und Bosnien (1992–1995)

      1992, als der algerische Dschihad begann, wurden Ägypten und Bosnien ebenfalls in diese Form des Bürgerkriegs gestürzt. Dabei waren die Ausgangssituationen unterschiedlich: Ägypten ist seit der Anfangszeit des Islam ein muslimisches Land, in dem eine christliche – koptische – Gemeinschaft fortbesteht. Diese wurde zum Ziel der sich in den letzten 50 Jahren stets verstärkenden dschihadistischen Gewalt und der salafistischen Verdammung. Kairo besitzt mit der islamischen al-Azhar-Universität eine prestigeträchtige Institution, auch wenn deren Aura durch die vom Staat ausgeübte Kontrolle gelitten hat. Sie wird durch Millionen Öldollar von der arabischen Halbinsel subventioniert, was die Universität von der salafistischen Ideologie teilweise abhängig macht und zahlreiche ihrer Studierenden und Lehrenden beeinflusst. Bosnien hingegen wurde erst in jüngerer Vergangenheit islamisiert, infolge des Einmarschs des Osmanischen Reichs auf den Balkan im 17. Jahrhundert. Bis zum Bürgerkrieg, der ab 1991 das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zerriss, dürfte es in der muslimischen Welt nur wenig bekannt gewesen sein, dass in diesen Territorien, die von einer neuen Welle der Gewalt »balkanisiert« wurden, Glaubensbrüder lebten – Slawen sowie Europäer. Doch die von den serbischen Gegnern der Bosniaken wie ein Stigma konstruierte und den Bosniaken plötzlich übergestülpte politische »Zugehörigkeit zur islamischen Glaubensgemeinschaft« inmitten einer doch recht laizistischen Bevölkerung wurde von den internationalen Akteuren der Islamisierung ins Positive gewendet, ausdrücklich betont und in den iranisch-saudischen Konflikt hineingezogen.

      Sowohl der Dschihad am Nil wie auch der auf dem Balkan blieben erfolglos – doch sie hatten schlussendlich beide wichtige Auswirkungen: Der ägyptische Islamismus etablierte sich, trotz der militärischen Niederlage 1997, als wichtigste Kraft der Opposition gegen das Mubarak-Regime und konnte nach dem Aufstand zwischen 2010 und 2012 die ersten Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden – bevor er von Repressionen zerrieben wurde. Der bosnische Islamismus wiederum verlor seine zentrale Symbolik mit dem Ende des Konflikts im Dezember 1995, trug aber entscheidend zur dschihadistischen Vorstellung bei, dass Europa eine Region sei, in der man die Schlacht bis zur Eroberung noch würde führen müssen. Der letzte Anschlag in Frankreich in den 1990er-Jahren nach dem Tod von Khaled Kelkal, im Ballungszentrum Lille-Roubaix, wurde von Konvertiten verübt, die aus Bosnien zurückgekehrt waren.

      Als Kabul im April 1992 unter der Führung von Kommandant Massoud in die Hände der Mudschaheddin fiel, war die Mehrheit der ägyptischen Dschihadisten wieder nach Hause zurückgekehrt und hatte sich einer der beiden großen Bewegungen angeschlossen, die nach der Ermordung Sadats entstanden waren – und in der zweiten Hälfte der Dynastie unter Mubarak noch gewachsen waren. Die erste war die Organisation al-Dschihad, die den Mord an Sadat begangen hatte. Sie nahm Institutionen und Anhänger des Regimes ins Visier und scheute sich vor jeder »Exkommunikation« (takfir) der Gesellschaft. Die zweite Gruppe, die al-Dschamaa al-islamiyya (Islamische Vereinigung), wurde vom blinden Scheich Umar Abd ar-Rahman geleitet, der in den Vereinigten Staaten für das erste Attentat auf das World Trade Center 1993 verurteilt werden und dort 2017 im Gefängnis sterben sollte. Sie strebte das Gegenteil an und nahm die Bevölkerung als Geisel für ihre Pläne. Sie hoffte, dass sie mit ihren unzähligen Angriffen auf die Zivilbevölkerung eine überproportionale und aus allen Richtungen kommende Vergeltung hervorrufen könne, woraufhin das Volk dem Staat seine Unterstützung entziehen würde. Diese Strategie ähnelte der der algerischen GIA – und fand in Ägypten mit Vorliebe ihre Opfer unter den Kopten, ausländischen Touristen und den »verwestlichten« Intellektuellen. Der Auftakt für den fünf Jahre dauernden Dschihad war der Mord am laizistischen Publizisten Faradsch Fauda am 8. Juni 1992. Während des Gerichtsverfahrens gegen dessen Mörder ein Jahr später erklärte der den Muslimbrüdern nahestehende Scheich Mohammed al-Ghazali, dass der gebürtige Muslim Fauda die Säkularisierung anstelle der Anwendung der Scharia vorangetrieben habe, was aus ihm einen Abtrünnigen mache und seine Ermordung erlaube. Man dürfe die Mörder daher nicht für das Befolgen des islamischen Rechts bestrafen, schließlich habe der Staat nichts getan, um Faudas Treiben Einhalt zu gebieten. In derselben Geisteshaltung erklärte man den Universitätsprofessor Nasr Abu Zaid zum »Apostaten«: Ihm, der sich selbst als Gläubigen bezeichnete, warf man die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Kritik des religiösen Diskurses vor und zwang ihn zur Scheidung von seiner Frau (die nie darum gebeten hatte). Vorwand dafür war, dass ein Rückfälliger nicht mit einer Muslimin verheiratet bleiben könne: Das Paar musste in die Niederlande fliehen, um seine Ehe weiterführen zu können. Und im Oktober 1994 wurde der Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz von einem Aktivisten der al-Dschamaa al-islamiyya wegen seiner »liederlichen« Romane niedergestochen.

      Diese zerstörerische Stimmung belegte die verschwommene Grenze zwischen Dschihadisten und sogenannten »moderaten« Islamisten, um nicht zu sagen den hohen Beamten. Sie offenbarte eine Kontinuität zwischen einigen Mitgliedern der frommen Mittelschicht und der armen, städtischen Jugend in ihrer radikalen Opposition gegen das Mubarak-Regime. Anders als in Algerien gab es in Ägypten aber keinen Platz für eine verbindende Partei wie die FIS, die in Abwesenheit jeglicher anderer, seriöser Konkurrenz den islamischen Raum hätte ausfüllen können. Am Ufer des Nils blieb die Institution der Azhar, trotz ihrer Schwächung und ihrer teilweisen Durchlässigkeit für den Salafismus, bestehen, und das Netz der Sufi-Brüderschaften bewahrte einen Zusammenhalt, der fest genug war, um keiner militanten muslimischen Organisation die Hegemonie zu überlassen. Das erklärt zum Teil, weshalb die Bilanz der ägyptischen Gewalttaten um ein Hundertfaches geringer ausfällt als in Algerien – es gab rund 1000 Tote – und warum der Staat den Dschihadisten nur kleine Teile des Territoriums, und auch nur zeitweise, überlassen musste.

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