Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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zum Kampf aufrief. Überall wurden Rekrutierungsbüros eröffnet, nicht nur in muslimischen Ländern, sondern auch im Westen und nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, und zwar gefördert von der CIA, die zudem Azzams Rundreise durch das Land zu islamischen Verbindungen organisierte. Er schuf ein Servicebüro (Maktab al-Chidamat, MAK), das die Anwerbung, die Beschaffung von Geld und die Beförderung der ausländischen Dschihadisten an den Kriegsschauplatz organisierte. Der amerikanische Hauptsitz in Brooklyn bekam später regelmäßig Besuch vom blinden ägyptischen Scheich Umar Abd ar-Rahman, der für das erste Attentat auf das World Trade Center 1993 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, sowie von einer Reihe weiterer Aktivisten. Das MAK wurde nach der Ermordung Azzams im November 1989 von Osama bin Laden übernommen und in die Strukturen von al-Qaida eingegliedert.

      In den zehn Jahren, in denen die CIA den afghanischen Dschihad finanzierte, wurden von amerikanischer Seite geschätzt vier Milliarden US-Dollar gezahlt, zu denen noch einmal die gleiche Summe (matching funds) in saudischen Petrodollars hinzukam. Betrachtet man dieses Geld als Summe, mit der man das Ende der UdSSR herbeiführte, ist der Betrag lächerlich. Im Rückblick jedoch war dies der Preis für den Pakt mit dem Teufel, und berücksichtigt man noch den zweiten Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, wird der Preis unkalkulierbar.

      Den Großteil der Operationen vor Ort führten Afghanen aus, die man als »Mudschaheddin« bezeichnet – die arabische Bezeichnung für »Kämpfer des Dschihad« im Partizip II aktiv. Der Autor dieses Buches und einige Kollegen schufen den Neologismus »Dschihadisten«, indem sie ein griechisch-lateinisches Suffix an einen arabischen Wortstamm hängten, um die einheimischen Kämpfer von den ausländischen zu unterscheiden, von denen rund 40.000 sich dem Kampf angeschlossen hatten. Sie kamen aus Nordafrika, dort vor allem aus Algerien, Libyen und Ägypten, von der arabischen Halbinsel, aus Pakistan und aus dem asiatischen Raum zwischen Malaysia und den Südphilippinen, zudem trafen muslimische Migranten aus den Vereinigten Staaten und bereits damals einige Dutzend aus den europäischen Vorstädten ein. Sie erhielten von der CIA eine Militärausbildung, waren jedoch kaum an den Kämpfen selbst beteiligt. Sie nutzten ihre Ausbildung im darauffolgenden Jahrzehnt, nachdem sie in ihre Länder zurückgekehrt waren, vor allem für den Dschihad in Algerien und Ägypten oder im Dienste der nebulösen al-Qaida. In den beiden zuletzt genannten Ländern war es zu starken Unruhen gekommen – Sadat war am 6. Oktober 1981 ermordet worden –, und die Führer dieser Länder erleichterten die Ausreise der einheimischen Aktivisten, die sie nicht hinter Schloss und Riegel halten konnten, in der Hoffnung, sie dadurch loszuwerden. So etwa die rechte Hand und der spätere Nachfolger bin Ladens, der ägyptische Arzt Aiman az-Zawahiri: Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in Kairo reiste er über Saudi-Arabien nach Peschawar. Heute wissen wir, dass diese kurzsichtige Strategie sich wenige Jahre später gegen ihre Erfinder wandte, als die Dschihadisten in ihre Heimat zurückkehrten, um sie zu verwüsten. Doch während der 1980er-Jahre vermittelte sie die Illusion, man könne den militanten Islamismus unter saudischer Führung im Kampf gegen die Sowjetunion kanalisieren und die möglicherweise dabei auftretenden Ausschweifungen seien nur Lappalien.

      Diese Weltsicht wurde getragen vom nationalen Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski. Der wichtigste Architekt der amerikanischen Unterstützung des afghanischen Dschihad verteidigte sie in einem Interview mit der Zeitschrift Le Nouvel Observateur am 15. Januar 1998:

       Le Nouvel Observateur: Sie bedauern heute also nichts?

      Zbigniew Brzezinski: Was sollte ich bedauern? Diese Geheimoperation war eine ausgezeichnete Idee. Sie sorgte dafür, dass die Russen in der afghanischen Falle saßen, und Sie wollen, dass ich das bedauere? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten haben, schrieb ich Präsident Carter sinngemäß: »Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren eigenen Vietnamkrieg zu bescheren.« Und wirklich musste Moskau fast zehn Jahre lang einen für das Regime untragbaren Krieg führen, einen Konflikt, der zur Zermürbung und schließlich zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums führte.

       Sie bedauern also nicht, damit den islamistischen Fundamentalismus gefördert, zukünftige Terroristen mit Waffen ausgestattet und beraten zu haben?

      Was ist für die Weltgeschichte wichtiger? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Ein paar islamistische Aufpeitscher oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Kriegs?

       Welche Aufpeitscher? Es heißt doch immer wieder: Der islamische Fundamentalismus stellt heute eine weltweite Bedrohung dar.

      Das ist Schwachsinn. Es heißt auch, der Westen müsse eine globale Politik im Hinblick auf den Islamismus entwickeln. Das ist dumm: Es gibt keinen globalen Islamismus.

      Auch wenn man gut verstehen kann, dass die Befreiung Polens vom russischen Joch für einen in Warschau geborenen Junker ungemein wichtig war, so belegt das fehlende Vermögen, sich sogar 1998 noch keinen »globalen Islamismus« vorstellen zu können, jedoch die Defizite der amerikanischen Politikelite. Zu Beginn der 1980er-Jahre erkannte sie weder die Bedeutung der sunnitischen Islamisierung der Politik, die das saudische Königshaus anstrebte, noch deren Modalitäten – und noch viel weniger jene der iranischen Antwort auf diese Strategie –, war die amerikanische Politik doch intellektuell gefangen im Erbe des Kalten Kriegs.

      Mit dem Abzug der Sowjets aus Kabul am 15. Februar 1989, ausgelöst auch vom Druck der Mudschaheddin, die mit ihren von der CIA gelieferten Boden-Luft-Raketen des Typs Stinger die russischen Luftstreitkräfte in die Knie gezwungen hatten, war der Weg frei für den Fall der Berliner Mauer am 9. November. Dieser wiederum ging der Auflösung des Kommunismus insgesamt voraus. Die damals anwesenden internationalen Dschihadisten, die die Weltgeschichte im Licht der Offenbarung und Errungenschaften des Islam (futuhat) lasen, waren überzeugt, dass sie die Heldentaten des Propheten, seiner Anhänger und unmittelbaren Nachfolger wiederholt hatten, jene »neue koranische Generation« (jil qurani jadid), die Sayyid Qutb heraufbeschworen hatte, um die Dschahiliya zu zerstören – die heutige gottlose »Barbarei«. So wie die Reiter unter dem Banner des Propheten mit der Schlacht von al-Qadisiya 636 das Sassanidenreich besiegten – eine der beiden »Supermächte« der damaligen Zeit –, so hatten die Dschihadisten nun in Kabul die Sowjets geschlagen. (Saddam Hussein nannte seine Offensive 1980 gegen den Iran ebenfalls »Qadisiya«.) Dem Beispiel der Araber und später des Osmanischen Reichs folgend, die ihren Sturm auf die andere Supermacht der Zeit, Byzanz, vervielfachten, bis sie 1453 besiegt war, verstärkten auch bin Laden und seine Verbündeten die antiamerikanischen Attacken, unter denen der »gesegnete zweifache Angriff« vom 11. September nur die Spitze war. In der Numerologie, die die islamistische Bewegung eifrig betreibt, kommt es zu einem die Geschichte überschreitenden Zusammenprall: Der 9/11 (9. November 1989, eleven nine auf Englisch), das Datum des Mauerfalls und Symbol für das Ende des Kommunismus und der Ost-West-Konfrontation, wie sie die Welt lange prägte, ist Vorbote seiner Umkehrung, dem 11/9 (11. September 2001, nine eleven auf Englisch), zu Beginn des neuen christlichen Jahrtausends. In den Augen der Dschihadisten erschien dieses Datum wie die Dämmerung eines triumphalen und heilbringenden islamistischen Millenniums, die über dem Schutt des gottlosen Westens aufsteigt.

      Dem Moment des sowjetischen Rückzugs aus Kabul am 15. Februar 1989 schenkte kaum jemand wirklich Aufmerksamkeit. Dies frustrierte die sunnitische Achse, die ihre Krönung zum universellen Herrscher des Islam durch einen mit Petrodollars von der arabischen Halbinsel möglich gemachten, siegreichen Dschihad gewürdigt wissen wollte. Denn am Vorabend des Abzugs hatte Chomeini Salman Rushdie zum Tode verurteilt, da dieser mit seinem Roman Die satanischen Verse den Propheten beleidigt habe. Mit diesem meisterhaften Schachzug überdeckte der Ajatollah den reellen geopolitischen Sieg seines Rivalen, übertrug den Kampf auf das Schlachtfeld der Medien und sicherte sich dort den Sieg. Der Iran gab Milliarden Gläubigen auf der Welt zu verstehen, dass er ihr bester Verteidiger war, indem er gegen die »Demütigung Mohammeds« durch den indisch-britischen Schriftsteller vorging und eine weltweite Fatwa gegen ihn aussprach. Dieser Vorgang war auf mehreren Ebenen ein wirkungsvoller und semantischer Bruch. Die Bestürzung und der Skandal, den er im Westen verursachte, zogen alle Aufmerksamkeit der Journalisten auf sich, weshalb sie am folgenden Tag den Rückzug der Roten Armee nur als Nebensächlichkeit behandelten. Der Feldzug gegen