Chaos. Gilles Kepel

Читать онлайн.
Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



Скачать книгу

Geografie konnte dieser kriegerische Akt als das Eindringen von »Ungläubigen« (kouffar) auf »Islamischen Boden« (dar al islam) verstanden werden. Bei einer derartigen Aggression muss der muslimische Fürst den Heiligen Schriften nach unbedingt den militärischen Dschihad ausrufen und ihn augenblicklich beginnen. Die sowjetische Invasion ließ sich dementsprechend auf zweierlei, sich ergänzende Arten lesen: Für Washington war sie eine störende Episode des Kalten Kriegs, der es sich entgegenstellen musste, wollten die Vereinigten Staaten nicht ihre Position als Supermacht verlieren. Und da die saudische Monarchie die Hegemonie über den weltweiten Islam anstrebte, musste Riad den sowjetischen Einmarsch mit einem Dschihad beantworten. Folglich nannte man den nun ausbrechenden Aufstand der Guerilla – von der CIA ausgestattet und trainiert und mit den Petrodollars von der arabischen Halbinsel kofinanziert – auch Dschihad. Die jenseits des Atlantiks Freedom Fighters getauften Bärtigen waren allerdings Männer, für die »Freiheit« bedeutete, die Scharia einzuführen, sobald die kommunistischen Russen von islamischem Boden vertrieben worden waren. Diese Konfusion in der Wortwahl zeigt grundlegend die semantische Islamisierung dessen, was zugleich zum letzten blutigen Kampf des Kalten Kriegs und zum ersten islamischen Krieg der Gegenwart werden sollte – ganz gleich ob man ihn Dschihad, Raubzug (ghazou), zulässiger Terrorismus (irhab mashrou) oder Märtyrer-Operation (amaliyya istish hadiyya) nennt. Am Ende, nach dem sowjetischen Rückzug aus Kabul am 15. Februar 1989, dem wenig später der Fall der Berliner Mauer am 9. November folgte, wurde mit dem Untergang der UdSSR der Antagonismus zwischen dem kommunistischen Osten und dem kapitalistischen Westen ersetzt durch den Konflikt zwischen dem islamistischen Orient und dem (»gottlosen«, »jüdisch-kreuzritterlichen« et cetera) Westen.

      Der Dschihad in Afghanistan erlaubte es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen versetzte er der UdSSR den Todesstoß, indem er die Schwäche der Roten Armee bloßlegte, die zu einem Papiertiger verkommen war. Man müsste darüber hinaus natürlich viele weitere Gründe für den Zusammenbruch des sowjetischen Modells anführen, vor allem etwa das Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten, das die Wirtschaft ruinierte, ganz zu schweigen von den inhärent funktionellen Mängeln der Planwirtschaft gegenüber der Marktwirtschaft. Und doch überließ Washington die Abfertigung der Sowjetunion den Kämpfern des Dschihad. Diese zogen bei ihren Glaubensbrüdern ein ungemein großes Prestige daraus, dass sie sich in weltweitem Maßstab als unberechenbare, terroristische Militärmacht etabliert hatten, der jemand wie bin Laden ein Gesicht gab. Zum anderen half dieser sunnitische Sieg, im Rahmen islamischer Symbolik, der Propaganda Chomeinis etwas entgegenzuhalten: Man konnte die Saudis und ihre Alliierten zu den Rettern eines muslimischen Landes erheben, das von den Atheisten aus dem Kreml überfallen worden war. Teheran verzichtete jedoch nicht auf eine Replik. Der Iran verlegte auf bis dato unbekannte Art und Weise den Konflikt auf das Feld der Medien und verurteilte Salman Rushdie per Fatwa zum Tode – und zwar just am Vorabend des sowjetischen Abzugs aus Afghanistan, um die Auswirkung dieser Ankündigung zu verschleiern.

2 DER AUSBRUCH DES INTERNATIONALEN DSCHIHAD GEGEN DEN »NAHEN FEIND« (1980–1997)

      Der Kampf um die Kontrolle über die Islamisierung in den 1980er-Jahren

      Neben dem Dschihad in Afghanistan nahm in den 1980er-Jahren die Islamisierung der politischen Ordnung im Nahen und Mittleren Osten stetig zu, und der Antagonismus zwischen dem schiitischen und sunnitischen Lager um den Kontrollanspruch vertiefte sich. Das wichtigste Schlachtfeld war dabei der Erste Golfkrieg zwischen September 1980 und August 1988. Von Saddam Hussein ausgelöst und vom Westen in der Absicht unterstützt, die iranische Expansion einzudämmen, kostete er vermutlich einer Million Menschen das Leben und bot den Revolutionsgarden und den Basidschi (»Mobilisierten«) die Möglichkeit, ihre Taktik des Selbstmordangriffs zu testen – was ihre Kommandanten »Märtyrer-Operationen« nannten –, die sich später zunächst in den Libanon und Israel, dann in den Nahen und Mittleren Osten, nach Europa, nach Amerika und schließlich in die gesamte Welt ausbreitete.

      Parallel dazu eröffnete Teheran weitere, nicht weniger wichtige Fronten: Der libanesische Bürgerkrieg und der israelisch-palästinensische Konflikt reihten sich in die Auseinandersetzungen ein, die der Iran zeitgleich gegen den Westen und dessen Verbündete als auch gegen fast alle sunnitischen Organisationen führte – mit Ausnahme der Hamas. Tatsächlich begann die Islamische Republik, um sich gegen die Koalition ihrer Feinde zu verteidigen und den Druck auf ihre Grenzen durch den Irak und an der Küste des Persischen Golfs zu lockern, eine zweite Kampflinie in der Levante und eine dritte in Europa (die über den Umweg von Geiselnahmen eng mit dem Libanon verbunden war). Bis zu Chomeinis Tod im Juni 1989 machte sich das von ihm geführte Land auf der Suche nach den Schwächen seiner Gegner völlig frei von den bis dato geltenden Regeln der Kriegsführung und des internationalen Rechts. Es führte Schläge aus, um seine Gegner zur Anerkennung seiner Forderungen zu zwingen und den direkten militärischen Druck zu drosseln – die Mittel reichten dabei von der Fatwa gegen Rushdie über Selbstmordanschläge bis hin zur Entführung westlicher Staatsangehöriger. Nach Ende des Kriegs mit dem Irak begann der nun abgesicherte Iran aufs Neue, sich der Staatengemeinschaft anzunähern, um die für den Fortbestand des Regimes gefährliche Isolation zu beenden. Unterdessen fand die iranische Vorgehensweise Nachahmer im sunnitischen Dschihadismus, der dann weltweit jenen Terrorismus verbreitete, den die Islamische Republik begonnen hatte, ihn allerdings anders verstand. Der sunnitische Dschihadismus stützte sich nicht, wie im Iran, auf einen zentralisierten Staatsapparat und ließ sich später auch nicht wieder in die weltweite institutionelle Ordnung einfügen.

      Die sunnitischen Bemühungen um die Eindämmung der iranischen Revolution basierten folglich auf zwei Hauptachsen, zum einen auf Afghanistan, zum anderen auf Irak, in ersterem Fall durch den Dschihad, in letzterem durch Saddam Hussein. Beide bekamen unablässig Unterstützung aus dem Westen – was im Rückblick wie eine sehr kurzsichtige Strategie wirkt.

      Der afghanische Dschihad, der sich ursprünglich gegen die Sowjetunion richtete, sollte ein großes Narrativ liefern, das eine Alternative zur kriegslüsternen Begeisterung und Dritte-Welt-Rhetorik der iranischen Propaganda bot. Saudi-Arabien und seine Verbündeten wollten beweisen, dass sie besser als andere in der Lage waren, den Angriff der sowjetischen Atheisten auf den Islam abzuwehren. In der islamischen Vorstellung nahm diese Invasion den Platz der Besetzung Palästinas durch Israel ein, der ein immer noch zentraler Konflikt für den zerfallenden arabischen Nationalismus war – bis er schließlich gegen Ende des Jahrzehnts durch das Auftauchen der Hamas ebenfalls islamisiert wurde. Mit dem gemeinsamen Aufruf, alle Muslime weltweit sollten ihren Glaubensbrüdern in Afghanistan beistehen, schlossen sich die Salafisten der arabischen Halbinsel und die Muslimbrüder in ihren Bemühungen zusammen und machten ihre Stimme im Gewirr aller politischen Tendenzen des sunnitischen Islam hörbar, die sich angesichts der schiitischen Herausforderung aufgefordert fühlten, die universelle Hegemonie über ihren Glauben auszuüben.

      Ihr wichtigster Ideologe war ein palästinensischer Muslimbruder, Abdallah Azzam, der sich in Peschawar niedergelassen hatte – in jener pakistanischen Grenzstadt, die als Basis für Operationen im Nachbarland Afghanistan und als Einfallstor für militärische Lieferungen diente. Peschawar wurde auch zum Drehkreuz für Dschihadisten aus der ganzen Welt, die hier ihr Basislager aufschlugen (das auf Arabisch Qaida heißt und der berühmten Organisation ihren Namen gab). In seinem Manifest mit dem Titel Folgt der Karawane! rechtfertigt Azzam die Verpflichtung aller Muslime zum Kampf in Afghanistan im Namen eines »Verteidigungsdschihad«, der jeden dazu zwang, seine Kräfte zu mobilisieren, um das von Ungläubigen angegriffene islamische Territorium zu befreien. Diese Verpflichtung galt für jeden: kein Staat, kein Ehemann, kein Vater minderjähriger Kinder, kein Sklavenbesitzer durfte sich entziehen. Jeder Gläubige musste seinen Möglichkeiten entsprechend mitwirken, »mit der Hand, der Zunge oder dem Herzen« – indem er mit Waffen kämpfte, Geld gab, Reden hielt, predigte oder wenigstens betete. Es handele sich, so Azzam unter Berufung auf die Heiligen Schriften, um eine »individuelle Verpflichtung« (fard ayn), deren Missachtung im Jenseits schwere Strafen nach sich ziehe. Dieser Text sowie viele von Azzams Artikeln für die gleichnamige Zeitung al-Dschihad fanden ein