Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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gewidmete Buch betont die intellektuelle Nähe der radikalsten Muslimbrüder, der Anhänger von Sayyid Qutb, zu den militanten Schiiten, jenseits der Treuepflicht der Sekte. Schakaki gründete damit den »Islamischen Dschihad in Palästina«, eine bewaffnete Gruppe, die ab 1983 die ersten blutigen Angriffe gegen Israel in den besetzten Palästinensergebieten durchführte. Damit wollte er belegen, dass der jüdische Staat nicht unverwundbar war, derweil die PLO in ihrem libanesischen Exil ausharrte und die moderaten palästinensischen Muslimbrüder sich auf karitative Maßnahmen beschränkten. In diesen Jahren wurden die geheimnisvollen palästinensischen Ausbildungslager, die derzeit im Libanon aufgelöst werden, durch jene der Dschihadisten – der »Qaida« – zwischen Peschawar und der afghanischen Grenze ersetzt. Der wichtigste Ideologe des Dschihad, Abdallah Azzam, verstand sich trotz allem immer als palästinensischer Muslimbruder und Anhänger Qutbs und erinnerte in seinen Schriften stets daran, dass die Befreiung und Islamisierung seines Heimatlands sein oberstes Ziel seien, auch wenn die Umstände in Afghanistan derzeit die beste Möglichkeit für einen bewaffneten Dschihad böten.

      Die Kombination aus Schakakis und Azzams Einfluss verstärkte die Radikalisierung der palästinensischen Muslimbrüder und führte schließlich zur ersten Intifada (»Aufstand«) oder dem »Krieg der Steine« im Dezember 1987. Diese Phase des Widerstands gegen Israel, während der folgenden zehn Jahre zunächst von außen ins Innere Palästinas, ins Westjordanland, nach Jerusalem und in den Gazastreifen, dann auf das israelische Staatsgebiet selbst getragen, wurde von der Entstehung der Islamischen Widerstandsbewegung begleitet, dessen arabisches Akronym das Wort Hamas bildet. Je länger sich die Intifada hinzog, umso mehr machte die Hamas Arafats PLO die Führungsrolle im palästinensischen Kampf streitig. Sie veröffentlichte beispielsweise einen eigenen Kalender mit verpflichtenden Streiktagen. Als die Hamas am 18. August 1988 ihre Charta verabschiedete, setzte sie sich damit deutlich von jener der PLO ab, die bisher als exklusive Referenz gedient hatte. In der Charta betonte die Hamas, der Dschihad für die Befreiung Palästinas sei eine »individuelle Verpflichtung« (fard ayn) jedes Einzelnen. Mit diesen Worten hatte Azzam bereits den Dschihad in Afghanistan begründet, der kurz davorstand, der Roten Armee eine Niederlage zu bereiten. Auch wenn die PLO Ende der 1980er noch ihre politische Bewegungsfreiheit besaß, so war sie doch von der Islamisierung der Palästina-Frage stark getroffen, zumal diese in den folgenden Jahren noch zunahm und von den Petrodollars der arabischen Halbinsel finanziert wurde: 1990 überwies Kuwait 60 Millionen US-Dollar an die Hamas und nur 27 Millionen US-Dollar an die PLO. Im August desselben Jahres drängte Arafat Saddam Husseins Irak zur Invasion des Emirats.

      Das Jahr 1989: der Dschihad und der Zusammenbruch des Kommunismus

      Als 1989 das Jahrzehnt endete, hatte sich im internationalen System ein islamisch geprägter Raum fest etabliert. Während die Aufteilung zwischen der von Washington geführten freien Welt und dem von Moskau gelenkten sozialistischen Raum nach der Konferenz von Jalta 1945 als Hauptantrieb für die Dialektik der Welt galt, schuf 1989 eine neue Wasserscheide. Die von den Einkünften aus dem Ölverkauf getragene Islamisierung ist ein umso stärkeres Symbol des kulturellen Bruchs, als in diesem Jahr auch der 200. Jahrestag der Französischen Revolution begangen wurde, der Geburtsstunde des Laizismus par excellence. In Frankreich belastete eine erste Auseinandersetzung um das Tragen des Schleiers in einer Schule in Creil (Region Paris) die Feierlichkeiten. Damit war der Startschuss für zahlreiche juristische Auseinandersetzungen gegeben, die von islamistischen Verbänden gegen den Staat angestrengt wurden, bis ein Gesetz im März 2004 endgültig das Tragen von »offensichtlichen religiösen Kennzeichen« in öffentlich finanzierten Schulen verbot. Bedenkt man die Aufregung in Großbritannien um die Anfang desselben Jahres gegen Rushdie ausgesprochene Fatwa, standen sich damit in gewisser Weise zwei dominante Auffassungen gegenüber: Doch sowohl der britische multikulturelle Säkularismus als auch der französische Laizismus entstammen der modernen europäischen Aufklärung und wurden beide mit voller Wucht von der Islamisierung der gesellschaftlichen und moralischen Werte getroffen, zum einen aus Richtung der schiitischen Revolution, zum anderen vom sunnitischen Konservatismus.

      Es war ein bedeutsamer Zufall, dass sich die »Schleier-Affäre« von Creil, bei der sich am 18. September 1989 drei muslimische Schülerinnen in einem Pariser Vorort weigerten, den hijab im Unterricht abzulegen, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November ereignete. Als Augenzeuge erinnere ich mich, dass die französische Presse und Öffentlichkeit sich über die Verschleierung der Schülerinnen mehr erregten als über den Mauerfall. Wie bereits erwähnt, hatte auch Chomeinis Urteil über den Verfasser der Satanischen Verse am Valentinstag 1989 in den Medien den sowjetischen Rückzug aus Kabul am folgenden Tag, dem 15. Februar, völlig überdeckt. Der von einem Stück Stoff vor dem Gesicht von Teenagerinnen hervorgerufene Vorfall nahm trotz seiner Trivialität in der französischen Öffentlichkeit einen solchen Raum ein, dass der Zusammenbruch der UdSSR und des Kommunismus und damit das Ende des Kalten Krieges kaum wahrgenommen wurden. Auch wenn Beobachter aus dem englischen Sprachraum Gefallen daran fanden, die Aufregung in Frankreich zu verspotten, so spürte die französische Gesellschaft doch eine gewisse Angst vor dem schleichenden Bruch auf kultureller Ebene, der sich darin zeigte, dass die Vororte nach und nach islamisiert wurden. Der Bruch ersetzte jene Spaltung auf sozialer Ebene, die sich in der Politik in der Opposition zwischen links und rechts ausdrückte. Dies spiegelte das Ende der weltweiten Konfrontation zwischen Ost und West, zwischen Kommunismus und freier Welt wider und läutete eine Lesart der Gegenwartsgeschichte ein, bei der sich im »Kampf der Kulturen« der Westen und der Islam wie zwei unversöhnliche Einheiten gegenüberstanden, wie es Harvard-Professor Samuel Huntington in seinem gleichnamigen Bestseller von 1996 nannte. Drei Jahrzehnte später muss man festhalten, dass sich dieser kulturelle Bruch deutlich verstärkt hat und, über seine Steigerung in den dschihadistischen Terrorismus, zu einer der großen Verwerfungen der französischen Gesellschaft (wie auch des übrigen Europas) geworden ist. Dieses Phänomen konnte Frankreich bereits 1989 aus nächster Nähe in Algerien beobachten – einer Region, mit der Frankreich durch eine unerfreuliche, 130-jährige Kolonialgeschichte und mehrere Millionen Einwohner algerischer Herkunft verbunden ist, von denen die meisten bereits französische Staatsbürger waren oder es werden wollten.

      Im März 1989 gründete ein Konglomerat aus unterschiedlichen Aktivisten, islamistischen Predigern, Salafisten und Dschihadisten verschiedenster Richtungen in der Ben-Badis-Moschee in Algier die Front islamique du salut (FIS, Islamische Heilsfront). Zu diesem Zeitpunkt kehrten algerische Afghanistan-Kämpfer in ihr Heimatland zurück und wurden für ihren Sieg gegen die Sowjetunion gefeiert – dabei hatte Moskau, einer der wichtigsten Förderer der in Algerien regierenden FLN, in seinen Universitäten und Militärakademien zahlreiche algerische Kader ausgebildet und Algeriens Armee ausgerüstet. Dank der Einkünfte aus dem Öl- und Gasverkauf hatte Algerien »den Sozialismus aufgebaut«, kontrolliert durch eine Oligarchie von Generälen, die sich mit dem Geldsegen Ruhe und Frieden erkauften. Im Zuge dessen zerstörten sie jedoch jeglichen Ansatz einer Zivilgesellschaft und trugen zur Zerschlagung der wirtschaftlich entscheidenden Klasse bei. Diese Strategie entließ die Bevölkerung, deren starkes Wachstum eine hartnäckige Konkurrenz zu Marokko um die Vorherrschaft im Maghreb auslöste, aus jeglicher Verantwortung und machte das Land für Schwankungen im Ölpreis anfällig, da der Verkauf von Rohstoffen die gesamte Wirtschaftsleistung bestimmte. Der konjunkturelle Einbruch 1986, der den Staatshaushalt halbierte, führte zu Entbehrungen und einer Senkung des Lebensniveaus. Misswirtschaft, Korruption und die Allgegenwart des trabendo (Schwarzmarkt) verschlimmerten die Lage zusätzlich.

      In diesem schwierigen Umfeld brachen am 4. Oktober 1988 Unruhen aus, deren Niederschlagung mehrere Hundert Tote forderte. Die urbane, arme, revoltierende Jugend beschimpfte die Polizisten dabei als »Juden«, die sich den Israelis angenähert hätten, denn das Staatsfernsehen übertrug Bilder der gleichzeitig stattfindenden Repressionen gegen die Intifada. Wie im Iran 1978 hatte der algerische Aufstand anfangs keinen religiösen Charakter, doch die Staatsführung selbst appellierte an die Prediger. Am 10. Oktober empfing Staatspräsident Chadli Bendjedid muslimische Geistliche, um die Situation zu entschärfen, denn es war schon zu Plünderungen gekommen. In den 1980er-Jahren war die islamistische Bewegung in Algerien, wie übrigens in der gesamten sunnitischen Welt, stark angewachsen. 1982 schloss sich Moustapha Bouyali nach der Lektüre von Sayyid Qutbs Texten der