Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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Hass gegen Christen eine soziale Dimension bekam, als die massive Arbeitslosigkeit, die mit dem Absturz des Ölpreises und der geringen Emigration in Richtung arabischer Halbinsel einherging (in Saudi-Arabien waren infolge des Zusammenbruchs des ägyptischen Bildungssystems ägyptische Abschlusszeugnisse weniger gefragt), der islamistischen Ideologie des radikalen Bruchs neue Anhänger verschaffte. Angriffe auf Apotheker, Juweliere und »arrogante« koptische Kaufleute nahmen zu, ebenso wie die Brandstiftung an Kirchen, und wurden im Namen der bei den Ungläubigen erzielten Beute von aufgeputschten Predigern gerechtfertigt. Der Kairoer Vorort Embaba, in dem vor allem aus dem ländlichen Oberägypten zugezogene Menschen wohnten, wurde derart von den Dschihadisten kontrolliert, dass der Scheich der dortigen Hauptmoschee in einem Interview mit der Presseagentur Reuters die Proklamation der »Islamischen Republik Embaba« bekannt geben und behaupten konnte, auf seinem Gebiet werde die Scharia vollständig umgesetzt. Der vom algerischen Vorbild gewarnte Mubarak entsandte 1992 14.000 Polizisten und Soldaten, um das Gebiet zu besetzen und die Dissidenten auszumerzen. Damit sollte die Vereinigung verschiedener gesellschaftlicher Bestandteile der islamistischen Bewegung verhindert werden. Zumal am 12. Oktober ein Erdbeben in Kairo rund 1000 Tote und zehn Mal so viele Verwundete gefordert hatte, und die karitativen Verbände der Islamisten – wie im Jahr zuvor im algerischen Tipasa – beeindruckende Hilfeleistungen für die Opfer auf die Beine gestellt hatten (u.a. Zelte, die ursprünglich für die muslimischen Bosniaken gedacht waren), während der Staat durch Inkompetenz auffiel.

      Durch das algerische Beispiel aufgeschreckt, suchte das Regime den Kompromiss mit der Muslimbruderschaft, um seine Gegner zu spalten. Doch konnte nicht einmal der Einsatz von Repressionen verhindern, dass die Muslimbrüder bei allen Berufsverbänden, von den Medizinern und Ingenieuren bis zu den Anwälten, die Wahlen gewannen. Dies belegt den Einfluss der Muslimbruderschaft bei den Universitätsabsolventen und in der Mittelschicht. Von 1993 an wurde die Auseinandersetzung härter – Mubarak selbst entging beim afrikanischen Gipfeltreffen im äthiopischen Addis Abeba im Juni 1995 nur knapp einem Mordversuch ägyptischer Dschihadisten –, denn zunehmend geriet auch der Tourismus ins Visier, eine der Lebensadern der ägyptischen Wirtschaft. Im März 1996 wurden 18 Griechen in Kairo von der al-Dschamaa al-islamiyya hingerichtet, die sie für Israelis gehalten hatten. Die Islamisten erhofften sich vom Zusammenbruch des wichtigsten Devisenbringers den Sturz des Regimes. Erstes Opfer wurden jedoch all jene Millionen armer Ägypter, die direkt oder indirekt von diesem Sektor abhingen, weshalb die Dschihadisten in Oberägypten – wo sich ein Großteil der Sehenswürdigkeiten zwischen Assuan und Luxor befindet – rasch ihre Unterstützung im Volk verloren. Am 17. November 1997 ermordete die al-Dschamaa al-islamiyya 60 Touristen im Tempel der Hatschepsut in Luxor. Dieses Massaker läutete, ähnlich wie das Blutbad am Rande Algiers zwei Monate zuvor, für das die GIA verantwortlich gemacht wurde und von dem sie sich nicht mehr erholte, das Ende des ägyptischen Dschihad der 1990er-Jahre ein – denn es brachte einige islamistische Gruppen dazu, sich freiwillig von solchen Taten zu distanzieren. Auch wenn die Niederlage zeitweise zu ihrem Rückzug aus der Politik führte, so löste die militärische Niederlage der Aktivisten weder die sozialen Ursachen noch den starken Einfluss einer Mentalität, die durch die Öldollars von der arabischen Halbinsel gefördert wurde. Stattdessen erzwang sie eine bedeutende strategische Anpassung, die die örtlichen Konflikte vernachlässigte, um sich dem globalen Terrorismus zuzuwenden.

      Der Ursprung des Dschihad in Bosnien liegt im serbischen Angriff auf Sarajevo nach der Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas im März 1992. Er fügt sich damit ein in den größeren Rahmen des »Balkankriegs«, der aufgrund des Auseinanderbrechens Jugoslawiens entlang der wieder auftretenden ethnischen und religiösen Bruchlinien Ende des 20. Jahrhunderts entflammte. Der bosnische Dschihad war allerdings, anders als in Algerien und Ägypten, nicht das Ergebnis eines historischen und inneren Islamisierungsprozesses, der die Gesellschaft tief durchdrungen hätte, sondern wurde, in Reaktion auf die Verfolgung und »ethnische Säuberung«, unter der unter anderem auch Muslime zu leiden hatten, von außen hereingetragen. So verlängerte er den internationalen Dschihad, der in Afghanistan entstanden und im April 1992 mit dem endgültige Fall Kabuls geendet war.

      In gewissen intellektuellen Kreisen Bosniens war als Reaktion auf die Abschaffung des Kalifats 1924 in Istanbul eine panislamistische Bewegung entstanden – nach einem ähnlichen Modell wie bei den ägyptischen Muslimbrüdern 1928. Sie nannte sich El-Hidaje (vom arabischen hidaya: »die Rechtleitung zum Islam«) und wurde 1936 gegründet. Einige ihrer Anhänger schlossen sich der SS-Division »Handschar« (»Krummsäbel«) an, die der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, einem Freund des »Dritten Reichs«, unter bosnischen Muslimen rekrutierte. 1941, mitten während des Zweiten Weltkriegs, entstand die Jugendorganisation Mladi Muslimani (die Jungmuslime). Nach der Befreiung löste die Tito-Regierung die El-Hidaje auf, verbot 1949 die Mladi Muslimani, verurteilte vier ihrer Führer zum Tode und verhaftete weitere Mitglieder. Die Parallele zu den ägyptischen Muslimbrüdern setzte sich fort, als einer der 1949 Inhaftierten, Alija Izetbegović, im Todesjahr Nassers 1970 ein Manifest mit dem Titel Islamische Deklaration veröffentlichte. Darin griff er einige der Themen auf, die Sayyid Qutb fünf Jahre zuvor in Ägypten in seinem Buch Zeichen auf dem Weg angesprochen hatte. Da Nasser und Tito im Bund der blockfreien Staaten miteinander verbunden waren, lud man muslimische Bosniaken zu Aufenthalten nach Kairo ein, wo einige von ihnen Arabisch lernten und sich diskret mit den verborgenen Netzwerken der ägyptischen Muslimbruderschaft vertraut machten.

      Nach der iranischen Revolution und dem Tod des langjährigen jugoslawischen Staatschefs wurde Izetbegović 1983 ein weiteres Mal verhaftet und in einem Verfahren mit 13 Angeklagten wegen »islamischen Fundamentalismus« verurteilt. 1990, als sich Jugoslawien endgültig auflöste, gründete er die Partei der demokratischen Aktion (SDA), deren ursprünglichen Namen Muslimische Partei Jugoslawiens die Behörden nicht zugelassen hatten. Kurz darauf wurde er zum Präsidenten Bosnien-Herzegowinas gewählt – und zwar nicht wegen eines islamistischen Programms, sondern als Politiker muslimischen Glaubens, für den seine Glaubensbrüder im Kontext der sich verstärkenden Abgrenzung gegen andere Religionsgemeinschaften gestimmt hatten. Sie waren zum Großteil zwar vergleichsweise laizistisch eingestellt, fanden sich jedoch von serbischen und kroatischen Milizen eingekreist. Während sich die unter Tito entwickelten Sicherheiten auflösten, profitierte Izetbegović von der Aura des vom Regime Verfolgten und repräsentierte die Identität der bedrohten muslimischen Bosniaken. Seine Partei schloss sich jedoch mit keiner sozialen Bewegung islamistischer Prägung zusammen, anders als die FIS. Auch wenn die SDA, ähnlich wie die algerische Islamische Heilsfront, Unterstützung eher in den Kleinstädten und auf dem Land fand und die säkularisierten Eliten in Sarajevo sie nicht wählten, so zielte sie niemals darauf ab, die Scharia einzuführen. Angesichts der serbischen Übergriffe und des aus den »ethnischen Säuberungen« erwachsenen Drucks, aber auch da ihr Vorsitzender Freundschaften mit Islamisten im Nahen und Mittleren Osten eingegangen war, nahm sie gezwungenermaßen deren militärische und finanzielle Unterstützung an. Diese verbündeten Islamisten bemühten sich, den letzten Balkankrieg des 20. Jahrhunderts in einen Dschihad zu verwandeln – über dessen Kontrolle sich Sunniten und Schiiten stritten.

      Der Iran, neben der ehemaligen Sowjetunion eines der Ziele des von Sunniten geführten Dschihad in Afghanistan, erkannte im bosnischen Dschihad und dessen Internationalisierung unter Teherans Führung sofort die Möglichkeit, die Schlüsselstellung zurückzugewinnen, aus der ihn seine Rivalen verdrängt hatten. Zudem war die Islamische Revolution von 1979 mit ihrem »modernen« Charakter bei den Funktionären der SDA auf weit positiveres Echo gestoßen als der wahhabitische Archaismus – wie Izetbegovićs Prozess 1983 gezeigt hatte. So wurden ab 1992 über Kroatien iranische Waffen ins Land gebracht, einige Hundert Pasdarans (»Revolutionsgarden«) in Bosnien eingesetzt – wie 1982 auch im Libanon – und in den wichtigsten bosnischen oder ethnisch gemischten Städten iranische Kulturzentren eröffnet, etwa in Mostar. Teheran zeigte in der Organisation der Islamischen Konferenz unablässigen Tatendrang und rüttelte damit an der saudischen Führungsrolle, da man Riad Halbherzigkeit bei der Unterstützung der verfolgten bosnischen Muslime vorwarf. Saudi-Arabien zögerte, sich auf europäischem Boden zu engagieren. Zumal in den sunnitischen Hauptstädten die Ausdehnung eines neuen weltweiten Dschihad inzwischen deutlich kritischer gesehen wurde als zur Zeit des Afghanistan-Kriegs: Zehn Jahre zuvor hatte man sich erhofft, die einheimischen Extremisten dadurch loswerden