Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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hatten die enormen Reichtümer aus dem Ölverkauf für eine gesteigerte Kriegslust der politischen Führung gesorgt und die militärische Aufrüstung begünstigt, in Saddams Fall vor allem durch die Westmächte. Der Ölreichtum hatte zudem den Bruch zwischen Schiiten und Sunniten zu einem Höhepunkt geführt, weit über den militärischen Konflikt zwischen Persern und Arabern hinaus.

      Um den Druck auf ihre Grenzen und den Luftraum zu reduzieren, trug die Islamische Republik zur gleichen Zeit den Konflikt über Stellvertreter in den Libanon. Der Iran nutzte die Schwachstellen, die der fortdauernde libanesische Bürgerkrieg und der immer gewalttätiger werdende israelisch-palästinensische Konflikt boten. Die 1980er-Jahre wurden tatsächlich sowohl durch die zunehmende Islamisierung des Vokabulars in beiden Konflikten als auch durch das Vordringen iranischer Interessen geprägt, was im Libanon deutlich, in Palästina etwas schwächer wahrzunehmen war. Teheran hatte damit einen bis dahin unbekannten, aber beachtlichen Hebel in der Hand, um Druck auf den Westen auszuüben. Im Libanon zeigte sich dies zunächst durch Entführungen. Außerdem wurde die schiitische Gemeinschaft mobilisiert, die im Land zwar die Mehrheit bildete, politisch aber an den Rand gedrängt worden war. So entwickelte sich die Hisbollah zur dominanten Kraft im Zedernstaat, und es gelang ihr in den folgenden drei Jahrzehnten, alle konstitutiven Minderheiten des levantinischen Mosaiks hinter sich zu vereinen, darunter auch die orientalischen Christen. Gerade für die Christen schwang in der Ausbreitung des dschihadistischen Salafismus immer die drohende Auslöschung mit, die der IS schließlich auf die Spitze trieb. Aus den schiitischen Zonen im Südlibanon heraus ersetzte die Hisbollah de facto mit ihrem »Widerstand« (Mouqawama) gegen Israel den eigentlichen palästinensischen Widerstand, und unterstützte in diesem Zuge auch die Hamas – Letztere eines der wenigen Beispiele für eine sunnitisch islamistische Gruppierung, die in Verbindung mit der Muslimbruderschaft steht und an Teheran ausgerichtet ist.

      Im Süden des übel zugerichteten und geteilten Libanon, auf den seit dem syrischen Einmarsch im Juni 1976 Damaskus großen Einfluss ausübte, hatten Palästinenser Raketenwerfer aufgebaut und feuerten damit auf das israelische Galiläa. Die Folge war, dass Israel im Juni 1982, im Rahmen der Operation »Frieden für Galiläa«, in das Gebiet einmarschierte. Die bis in die Vororte von Beirut vorrückenden Israelis vertrieben die palästinensischen Gruppen zunächst in den Nordlibanon und schließlich ganz aus dem Land. Die Palästinenser flohen auf französischen Schiffen nach Tunis (um später ins nordlibanesische Tripolis zurückzukehren, von wo die Syrer sie im Dezember 1983 erneut verjagten). Zunächst begrüßte die schiitische Bevölkerung den israelischen Einmarsch, der sie von den palästinensischen Fedajin befreite. Doch die israelische Militärpräsenz, die eine Verbindung mit prowestlichen christlichen Kämpfern schuf, verschlechterte das Verhältnis der lokalen Kräfte mit Damaskus und dessen iranischen Verbündeten. Die Ermordung des libanesischen Präsidenten Bachir Gemayel führte im September 1982 zu einem Rachemassaker in den palästinensischen Lagern Sabra und Schatila, das phalangistische Milizen unter den Augen der israelischen Armee verübten. Bachirs Bruder, Amine Gemayel, übernahm die Amtsgeschäfte und unterzeichnete eine Vereinbarung mit Israel, in der der Abzug der Armee aus dem Libanon und ein Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern vorgesehen war, was allerdings ein gemeinsames Vorgehen Syriens und des Iran verhindern konnte. Die Islamische Republik entsandte mehrere Hundert Revolutionsgarden (Pasdaran) in die Bekaa-Ebene mit ihrer schiitischen Bevölkerungsmehrheit und griff damit direkt auf libanesischem Boden ein. Wenig später erfolgte die Gründung der »Partei Gottes« oder Hisbollah, die Chomeini als Führer und Mentor ansah. Der Libanon kann seit dem 15. Dezember 1981 als Echokammer des schiitisch-sunnitischen Konflikts im Ersten Golfkrieg gelten, als mit einem Anschlag gegen die irakische Botschaft das erste Selbstmordattentat begangen wurde. Nach Ankunft einer multinationalen Eingreiftruppe aus US-Amerikanern, Franzosen und Italienern im September 1982, die die Kämpfer auseinandertreiben sollte, wurde im April 1983 ein weiterer Anschlag dieses Typs gegen die diplomatische Vertretung der Vereinigten Staaten verübt, dem 63 Menschen zum Opfer fielen. Am 23. August folgten zwei weitere Attentate auf amerikanische und französische Kasernen des Expeditionskorps (die 256 beziehungsweise 58 Menschenleben kosteten). Auch wenn niemand sich zu dieser Politik des Terrors bekannte, so passt sie zu den iranischen Selbstmordanschlägen an der irakischen Front. Aus diesem Einsatz eines asymmetrischen Kriegs gegen konventionelle Truppen der Großmächte zog der neueste Dschihadismus seine Inspiration, im Libanon führte er 1984 zum Abzug der internationalen Eingreiftruppe. Die syrisch-iranische Achse entwickelte sich – durch unzählige zweitrangige Wechselfälle während eines dreißigjährigen Konflikts – im Libanon nach und nach zur tonangebenden Macht.

      Zur zweiten Ebene dieser Strategie gehört die Geiselnahme vom 22. März 1985, bei der zwölf Franzosen, acht US-Amerikaner und sieben Bürger anderer, dem Iran feindlich gesonnener Nationen entführt wurden. Zu der Entführung von Jean-Paul Kauffmann und Michel Seurat zwei Monate später bekannte sich eine schiitische »Organisation des islamischen Dschihad«. Sie forderte ein Ende der französischen Hilfe für den Irak – just in dem Moment, in dem Paris die Super-Étendard-Kampfflugzeuge geliefert hatte – und muss im Zusammenhang mit der iranischen Forderung verstanden werden, die in die nukleare Wiederaufbereitungsanlage Eurodif investierten Geldmittel zurückzuerhalten, was Frankreich blockierte. Paris empfand die Geiselnahme als nationale Tragödie, zumal ein Fernsehteam, das über die Vorfälle informierte, ebenfalls entführt und getötet wurde. Die Geiselnahme Michel Seurats und sein anschließender Tod in Gefangenschaft hatten 1989 ein Nachspiel in Form des Besuchs des Außenministers Roland Dumas in Teheran. Im Anschluss wurden einige in Frankreich inhaftierte Terroristen freigelassen und ausgewiesen, darunter ein libanesischer Schiit, der im Juli 1980 in einem Pariser Vorort versucht hatte, den ehemaligen Chef der letzten Schah-Regierung und Gegner der Islamischen Republik, Schapur Bachtiar, zu töten.

      Neben der Nutzung des libanesischen Staatsgebietes als Schaltstelle der antiwestlichen Aktivitäten des Iran, wurde im Südlibanon, der nach und nach vollständig unter die Kontrolle der Hisbollah geriet, eine Hochburg des Widerstands gegen Israel errichtet. Das schärfste Schwert war nun die »Partei Gottes« und nicht mehr die PLO: Die Hisbollah ersetzte den arabischen Nationalismus, für den die PLO stand, und entwickelte sich zum stärksten Kämpfer in der Auseinandersetzung mit der »zionistischen Einheit«. Dadurch erhöhte sie ihre Popularität im Iran, aber auch in der arabischen Welt insgesamt – obwohl diese mehrheitlich sunnitisch geprägt ist. Dieser Prozess kulminierte im »33-Tage-Krieg« (Libanonkrieg) zwischen Israel und der Hisbollah vom 12. Juli bis 14. August 2006. Dieser endete mit einer Niederlage der israelischen Armee und machte aus Hassan Nasrallah, dem Generalsekretär der Hisbollah, den arabischen Helden schlechthin. Sogar in den Satelliten-TV-Programmen auf der arabischen Halbinsel wurde er gefeiert, eine Premiere für einen Schiiten, der dem Führer der Islamischen Republik, Ajatollah Chamenei, die Treue geschworen hat.

      Im Libanon selbst stellte sich die Hisbollah als Inbegriff des »Widerstands« dar, dessen arabische Bezeichnung Mouqawama als Namensgeber für ihre Maßnahmen diente. Daraus leitete sie das Recht ab, ihre Waffen zu behalten, als alle anderen Milizen entwaffnet wurden, und erhielt eine Legitimität jenseits der eigenen Gemeinschaft. Sie konnte ab Ende der 1980er-Jahre ihren Einfluss immer weiter auf das gesamte Land ausdehnen und so das am 22. Oktober 1989 in der saudischen Stadt Taif unterzeichnete Abkommen ermöglichen, mit dem der 15 Jahre andauernde Bürgerkrieg beendet und die Niederlage der Christen festgeschrieben wurde. Tatsächlich verlor der maronitische Präsident der Republik dabei einen Großteil seiner Machtbefugnisse zugunsten des sunnitischen Ministerpräsidenten. Der durch Petrodollar ermöglichte Sieg Saudi-Arabiens zeigte sich nicht zuletzt symbolisch auch in der Person des libanesisch-saudischen Milliardärs und Politikers Rafiq Hariri. In Wirklichkeit waren die Vereinbarungen jedoch rasch überholt, da sich im Laufe der vorangegangenen Jahre die Kräfteverhältnisse vor Ort verändert hatten: Die sunnitische Gemeinschaft wurde zunehmend von der Hisbollah marginalisiert – was dies in den 2000er-Jahren mit sich brachte, soll im Folgenden erläutert werden.

      Die Islamisierung des Palästina-Konflikts und dessen Eingliederung in die Rivalität zwischen Schiiten und Sunniten war eine der bedeutenden Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten während der 1980er-Jahre. Kurz nach dem Triumph der iranischen Revolution veröffentlichte Fathi Schakaki, ein von den Muslimbrüdern inspirierter und nach Ägypten exilierter palästinensischer Arzt, 1979 ein erfolgreiches Buch mit dem Titel Chomeini: die alternative