Chaos. Gilles Kepel

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Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



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unter der Führung eines Klerus, der für eine ähnliche Ideologie gewonnen wurde, die fromme Mittelschicht und die arme, städtische Jugend, die, streng sozial betrachtet, eigentlich Gegenspieler hätten sein müssen.

      Ajatollah Chomeini verbrachte von 1964 bis 1978 sein Exil in der den Schiiten heiligen irakischen Stadt Nadschaf und ging anschließend in den Pariser Vorort Neauphle-le-Château. Bei seiner triumphalen Rückkehr nach Teheran am 1. Februar 1979 bewies er das politische Genie, die eben beschriebene Möglichkeit aufzugreifen und sich für die Sache der »Entrechteten« einzusetzen. Es gelang ihm, den Klerus, der ihm anfangs nicht wohlgesinnt war, zu kontrollieren und die linken Bewegungen zu instrumentalisieren, bevor er sie dann nach seinem Sieg und der Verkündung der »Islamischen Republik« aus dem Weg räumte. Dazu griff er, ganz ähnlich wie es der Salafismus in der sunnitischen Welt tat, auf eine fundamentalistische und von jedem Dogma »gereinigte« Form zurück, die sich deutlich von den im Laufe der Geschichte entwickelten Kompromissen zwischen den Ajatollahs und den Herrschern absetzte. Nach Chomeinis Auffassung repräsentiert der Imam Hussein, als Märtyrer im Oktober 680 im Kampf gegen Soldaten des sunnitischen Kalifen Yazid gestorben, die erhabene Inkarnation der »Entrechteten«, während der Schah den »selbstgefälligen« Yazid personifizierte. Indem er so die Grundlagen des durch seine Ideologie neu interpretierten Glaubens mit den Gegebenheiten der Gegenwart zusammenführte, gelang Chomeini eine beachtliche Mobilisierung, die die Oberhand über alle übrigen Anhänger der Opposition und auch des Königshauses gewann.

      Folglich entwickelte sich Chomeini, der an Bord einer Air-France-Maschine nach Teheran zurückgekehrt war und sich fortan »Revolutionsführer« nennen ließ, nun im Kontext der Islamisierung des Nahen und Mittleren Ostens, die sechs Jahre zuvor vom saudischen Königshaus und seinen Alliierten mit dem Ramadan-Krieg und der Vervielfachung des Ölpreises begonnen worden war, zu einer besonders starken, konkurrierenden schiitischen Kraft. Der Antagonismus zwischen Sunniten und Schiiten sollte zur wichtigsten Triebfeder der Kriege und Krisen werden, die die Region in den folgenden vier Jahrzehnten heimsuchten. Er reichte sogar darüber hinaus und traf durch den wiederkehrenden Export des islamistischen Terrors besonders Europa, wo er die hier lebenden muslimischen Migranten zu seinen Geiseln machte. Infolge der schwankenden Ölpreise sollte dieser Gegensatz schließlich sogar jene Bruchlinie relativieren, die der arabische Nationalismus nach den Unabhängigkeitsbewegungen herausgebildet hatte – den israelisch-palästinensischen Konflikt –, bis er schließlich Teil der bestehenden Logik der Auseinandersetzungen wurde (wie seine Vereinnahmung durch die libanesische Hisbollah und die palästinensische Hamas zeigt, die beide unter dem Einfluss Teherans stehen). Die Dynamik dieses Konflikts wurde durch den unablässigen Überbietungswettbewerb geschürt und vollzog sich auf Kosten einer ständigen Verschlimmerung des Chaos inmitten der Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Was vor allem an einer unverantwortlichen Politik lag, die durch die Öleinnahmen möglich geworden war und bis in die Mitte der 2010er-Jahre als endlos weiterführbar angesehen wurde.

      Die Herausforderung der Iranischen Revolution für Saudi-Arabien und seine Verbündeten war beachtlich, denn der Iran beschränkte nun die Reichweite einer Islamisierung unter sunnitischer Führung und nahm ihr die soziale und heroische Anmutung. Die über die Emire der arabischen Halbinsel laufende, lockere Verknüpfung eines weltweiten salafistischen Netzes und die finanzielle Unterstützung, die zu dieser Zeit ein Großteil von ihnen der internationalen Muslimbruderschaft zukommen ließ, entzündeten keinen solchen Enthusiasmus, wie ihn die Ereignisse im Iran bei der muslimischen Bevölkerung weltweit spontan auslösten. Umso mehr, als der Diskurs Chomeinis gleichzeitig zwei globale Feinde ins Visier nahm: den »großen Satan« Amerika (sowie in dessen Begleitung den »kleinen Satan« Frankreich, trotz aller in Neauphle-le-Château gewährten Gastfreundschaft), aber auch die Ölmonarchien, die er schlicht als Lakaien der Vereinigten Staaten darstellte. Indem Chomeini sich den Ideen Schariatis und damit einer weltweiten Dritte-Welt-Bewegung anschloss und die Vereinigten Staaten attackierte, ging er über die einfache religiöse Dimension hinaus. Das wiederum trug ihm Sympathien bis nach Lateinamerika ein. Und durch die Kritik an den Ölmonarchien versuchte er, über die rein persische und schiitische Identität (die nur etwa 15 Prozent der Muslime weltweit bilden) hinauszuwirken, um die Führung des universellen Islam durch die wahhabitischen Herrscher, »die Wächter der zwei Heiligen Stätten«, infrage zu stellen.

      Die amerikanisch-saudische Antwort auf die Iranische Revolution bestand zum einen im Dschihad in Afghanistan. Die Gelegenheit dazu war die Vergeltung für den Einmarsch der Roten Armee an Weihnachten 1979. Im selben Jahr wurde am 26. März auch der ägyptisch-israelische Friedensvertrag unterzeichnet – ein Zeichen für die Verschiebung der Hauptkonfliktlinie vom Nahen Osten und der Mittelmeerregion hin zum Persischen Golf und nach Zentralasien. Anders noch als bei den sowjetischen Interventionen in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968, die im Rahmen der Jalta-Verträge stattfanden und keinerlei militärische Reaktion der »freien Welt« nach sich zogen, verstieß die Ankunft von Fallschirmjägern und Panzern in Kabul gegen die Regeln, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aufgestellt worden waren. Breschnew sah sich zum Handeln gezwungen, um die örtlichen Kommunisten an der Macht zu halten, die in ihrem atheistischen Bekehrungseifer auf den allgemeinen Widerstand einer in Volksgruppen und dem ländlichen Leben äußerst verhafteten Gesellschaft mit starken traditionellen Normen gestoßen waren. Das Weiße Haus konnte eine erneute Schmach nicht einfach hinnehmen, war es vier Jahre zuvor doch bereits in Vietnam unterlegen und hatte Anfang 1979 mit dem Iran einen Verbündeten verloren. Letzteres war ein durchaus relevantes geopolitisches Problem, da der Schah zuvor die Rolle eines »Polizisten am Golf« übernommen und die unermesslichen Ölvorräte des Landes damit dem sowjetischen Zugriff entzogen hatte. Darüber hinaus mussten die Vereinigten Staaten eine beispiellose Demütigung erleiden, nachdem »Studenten von der Linie des Imam« am 4. November Geiseln in der US-Botschaft in Teheran genommen hatten und der Versuch ihrer Befreiung gescheitert war. Die sowjetische Militärpräsenz in Afghanistan, einem Nachbarland des Iran, dessen eigene kommunistische Partei Tudeh zu den revolutionären Kräften gehörte (Chomeini ging erst in seinen letzten Jahren gegen sie vor), frischte, über den Verstoß gegen den Pakt von Jalta hinaus, die amerikanische Angst vor Moskaus Durchbruch in Richtung der »warmen«, d.h. eisfreien Weltmeere auf. Man darf dies als zeitgenössische Variation des anglo-russischen »Großen Spiels« in Zentral- und Südwestasien seit dem 19. Jahrhundert verstehen.

      Und schließlich wurde das Ende des Jahres 1979 von einem Drama beherrscht, das, aus Sicht der islamischen Welt, mit hoher Symbolkraft ausgestattet war: Der 20. November markierte den ersten Tag im 15. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung. Unter Berufung auf die islamische Lehre, nach der in jedem Jahrhundert ein »Erneuerer« (mouhi) oder »Messias« (mahdi) auftritt, der nach vielen Abweichungen die Reinheit des Glaubens wiederherstellt, überfiel an diesem Tag eine radikale Dschihadistengruppe die Große Moschee in Mekka. Ihr Anführer, Dschuhaiman al-Utaibi, stammte aus einer bedeutenden Familie des Landes und wollte mit dem Überfall gegen die Korruption der vom Westen abhängigen Herrscherfamilie protestieren und seinen Schwager, Abdullah al-Qahtani, zum Messias ausrufen lassen. Dschuhaiman, der zu den Randgruppen der strengsten Verfechter des salafistischen Establishments Saudi-Arabiens gehörte, hatte »Briefe« in Umlauf gebracht, von denen sich 30 Jahre später der sogenannte »Islamische Staat« inspirieren ließ. Erst nach zwei Wochen konnte das Heiligtum in Mekka zurückerobert werden, auch dank des Eingreifens einer Truppe der nationalen französischen Gendarmerie (GIGN). Das allerdings wurde streng geheim gehalten, da es Nicht-Muslimen untersagt ist, heiligen Boden zu betreten (haram). Tausende Pilger wurden bis zur Befreiung in der Moschee festgehalten, und 244 Menschen starben beim Sturm auf die Moschee (darunter 117 Angreifer), obwohl jedes Blutvergießen dort verboten ist. Nachdem die saudische Staatsführung in den ersten Tagen vor Schreck wie gelähmt gewesen war, zeigte sie sich erschüttert, und zwar zum einen deshalb, da sie von noch strengeren Wahhabiten und Dschihadisten übertrumpft worden war, obwohl sie den Prozess der Islamisierung in der Region doch selbst angestoßen hatte. Und zum anderen, da ihre Unfähigkeit offensichtlich geworden war, Ordnung und Sicherheit an den Heiligen Stätten zu gewährleisten. Ihr Ansinnen, sich als Wächter der Heiligen Stätten auszugeben und, in logischer Folge, mit der Oberherrschaft über den Islam zu brüsten, hatte sich als Fehler herausgestellt.

      Die Ankunft der Roten Armee in Kabul, kaum drei Wochen nach der unheilvollen Rückeroberung des als haram erklärten Gebiets