Chaos. Gilles Kepel

Читать онлайн.
Название Chaos
Автор произведения Gilles Kepel
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783956143427



Скачать книгу

Mitte der 1970er-Jahre dabei, die ersten schiitischen Parteien zu gründen wie etwa Amal oder die »Bewegung der Entrechteten« des Imam Musa as-Sadr. Wegen Gebietsstreitigkeiten und den vom Libanon aus abgeschossenen palästinensischen Katjuscha-Raketen, die israelische Bombardements auf den ganzen Süden des Landes nach sich zogen, traten nun allerdings Spannungen zutage. Während der Iranischen Revolution bot Arafat Chomeini 1978 organisatorische Mitarbeit an und erbat später Fatwas zugunsten der »palästinensischen Revolution«, um die Feindseligkeiten mit der schiitischen Bevölkerung zu verringern. Mit der Ausweitung der israelischen Angriffe nach 1972 verschlechterte sich insgesamt das Verhältnis zwischen dem libanesischen Staat, insbesondere dem christlichen Bevölkerungsanteil, und den Palästinensern.

      All diese Gründe erklären den Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs am 13. April 1975, als ein Angriff von Phalange-Milizionären (Maroniten) auf einen Bus mit Palästinensern 27 Todesopfer forderte. Mit seiner Reaktion sicherte sich das »islamisch-progressive« Lager, dem die Palästinenserorganisationen die entscheidende Feuerkraft verliehen, die militärische Überlegenheit, und zwar zunächst mit syrischer Billigung. Im Juni 1976 jedoch ließ Hafiz al-Assad seine Armee in den Libanon einmarschieren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen und Kapital daraus zu schlagen. Die syrische Besetzung eines Großteils des Landes dauerte fast drei Jahrzehnte und endete erst im April 2005. Von den vielen Wendungen des Bürgerkriegs, zu denen unter anderem der Einmarsch Israels im Südlibanon 1978 und zwischen 1982 und 1985 dann im gesamten Land bis an die Grenzen der Hauptstadt gehören, aber auch die Entführung westlicher Geiseln sowie die Bruderkriege zwischen christlichen Fraktionen, sind für meine Betrachtungen zwei Ereignisse entscheidend. Erstens die Gründung der Hisbollah Ende 1982, die seit 1985 offiziell existiert. Auf Betreiben von Chomeinis Iran gegründet, sollte diese schiitische Partei drei Jahrzehnte später das politische Leben des Libanon bestimmen, nachdem sie den Widerstand gegen Israel von der PLO übernommen hatte. Zweitens besiegelte das 1989 im saudi-arabischen Taif geschlossene Abkommen die Niederlage der Christen, indem es die politische Macht vom maronitischen Staatspräsidenten auf den sunnitischen Ministerpräsidenten übertrug. Der bedeutendste Profiteur dieser Regelung war der libanesisch-saudische Milliardär Rafiq al-Hariri, der ab 1992 wiederholt den Posten des Ministerpräsidenten einnahm und die zerstörte Innenstadt von Beirut wiederaufbauen ließ. Dieses »Solidere« genannte Projekt sollte die Wirtschaft des Landes ankurbeln – bis zu Hariris Ermordung am 14. Februar 2005 durch einen Anschlag auf seine Fahrzeugkolonne in eben dem Stadtteil, dem er so sehr seinen Stempel aufgedrückt hatte.

      Die deutliche Umgestaltung des Libanon in einen sunnitischen Raum spiegelte sich an der Demarkationslinie zwischen der christlichen und der muslimischen Zone der Hauptstadt, im zerstörten Suq-Viertel und sichtbar im Bau der »Hariri-Moschee« wider, die so gewaltig ist, dass sie die benachbarte maronitische Kathedrale beinahe erdrückt. Paradoxerweise stellte das Abkommen von Taif, obwohl es ausdrücklich darauf abzielte, Muslime auf Kosten der Christen zu stärken, in Wirklichkeit doch einen schwachen Versuch der Sunniten dar, dem unaufhaltsamen Aufstieg der schiitischen Gemeinschaft einen Riegel vorzuschieben. Diese war zur inzwischen größten Bevölkerungsgruppe des Landes herangewachsen und wurde über den Umweg der Hisbollah vom Iran unterstützt und bewaffnet. Um die Logik des Aufstiegs einer schiitischen Macht in Konkurrenz zu Saudi-Arabien im islamischen Raum zu verstehen – aus dem sich letzten Endes auch der syrische Bürgerkrieg 2018 als Konsequenz ergab –, müssen wir uns in die Perspektive der Ereignisse des Schlüsseljahrs 1979 begeben. Es begann mit der Rückkehr Chomeinis nach Teheran im Februar und endete am Weihnachtstag mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan sowie dem dortigen Beginn des sunnitischen Dschihad. Unterdessen hatten im März Israel und Ägypten in Washington auch ihren Friedensvertrag unterzeichnet.

      Das Schlüsseljahr 1979: Überbietungswettbewerb zwischen Schiiten und Sunniten

      Wie alle Erdöl exportierenden Länder hatte auch der Iran in großem Umfang vom Anstieg des Barrelpreises profitiert – selbst wenn er, als nicht-arabischer Staat, zu keinem Zeitpunkt an der Entscheidung für das Embargo im Oktober 1973 beteiligt gewesen war. Doch Schah Mohammad Reza Pahlavi setzte in der Folge einen Überbietungswettbewerb in Gang. In der Vervierfachung des Ölpreises erkannte er die Möglichkeit, sein Land zu einem der führenden Staaten weltweit zu machen, und gab seine überdimensionierten Pläne durch große Anzeigen in der internationalen Presse bekannt. Der Schah stieg in die europäische Firma zur Urananreicherung Eurodif ein und beunruhigte damit seine Nachbarstaaten am Golf, die eine iranische Vorherrschaft in der Region befürchteten. Seine Megalomanie zeigte sich beispielsweise in den prunkvollen Feierlichkeiten in Persepolis, wo im Oktober 1971 für mehrere Milliarden US-Dollar die 2500-Jahr-Feier der Gründung des Perserreiches begangen wurde. Ansonsten profitierten von den enormen Erdöl-Einnahmen vor allem seine Vertrauten, die Armee und der Staatsapparat, wohingegen die Zivilgesellschaft gewalttätigen Repressionen durch die Polizei ausgesetzt war. Der Abstieg der Mittelschicht, verkörpert durch die Basarhändler oder die schiitischen Kleriker, die aus ihr hervorgegangen waren, förderte die soziale Krise. Verschlimmert wurde sie noch durch den Zustrom von Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte, wo ihre Hoffnung enttäuscht wurde, vom Geldsegen der Ölerträge zu profitieren; sie bildeten ein riesiges Proletariat der »Entrechteten«. Vor diesem Hintergrund wandten sich zahlreiche Empfänger großzügiger Stipendien, die zu Zigtausenden zum Studium in den Westen entsandt worden waren, um den Iran der Zukunft aufzubauen, schließlich gegen das autokratische und korrupte Herrscherregime.

      Im November 1977 löste der Schah mit seinem Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten, in denen sich der demokratische Präsident Jimmy Carter gerade von seinem Vorgänger Richard Nixon abzusetzen und die US-Außenpolitik zu »moralisieren« versuchte, gewalttätige Gegendemonstrationen aus. Das Tränengas, das die Polizei einsetzte, um die vor allem marxistischen oder linken Studenten und Aktivisten von der Mall in Washington zu vertreiben, wurde vom Wind in den Rosengarten des Weißen Hauses geweht, sodass Mohammad Reza Pahlavi seine Radio- und TV-Ansprache unter Tränen abbrechen musste. Die symbolische Wirkung dieser Bilder setzte dem Regime zu und ermutigte die iranische Opposition, zumal die US-amerikanischen Forderungen nach einer Anerkennung der Menschenrechte zu einer Mäßigung der Repression führten. Wie dann in Algerien 1988 und bei dem »arabischen Aufstand« zu Beginn der 2010er-Jahre wässerten die religiösen Kräfte die schon gelegte revolutionäre Saat, um damit die Bewegung für sich zu vereinnahmen und nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Wie in den benachbarten arabischen Staaten, in denen modernisierende Autokraten den Laizismus im Dienste ihrer Diktatur missbrauchten und die Legitimität einer demokratischen Opposition, die ebenfalls diese Ideale vertrat, damit kompromittierten, hatte auch der Iran unter Pahlavi eine solche Polarisierung bevorzugt. Auf der einen Seite stand noch die kommunistische Partei, auf der anderen standen die am stärksten politisierten Gruppen der schiitischen Kleriker.

      Trotz des von den Marxisten behaupteten Atheismus existierte zwischen diesen beiden Gruppierungen eine Art struktureller Affinität: Wie bei den leninistischen Organisationen ist der schiitische Klerus hierarchisch aufgebaut und immer in der Lage, effektiv für die Verbreitung von Slogans und die Mobilisierung der Anhänger zu sorgen (was sie von der sunnitischen Welt unterscheidet, in der durch die verschiedenen, zueinander in Konkurrenz tretenden Ulemas die religiöse Autorität zersplittert ist). Dank dieses kostbaren Werkzeugs kann unablässig die revolutionäre Bewegung im Kampf gegen die Herrschenden angetrieben werden. Diese Ähnlichkeit manifestierte sich in zahlreichen islamisch-marxistischen oder islamisch-linksgerichteten hybriden Gruppierungen. Zu den bekanntesten gehören die Volksmudschaheddin, die bereits im Namen die Ideale des Dschihad und des Populismus kombinieren. Diese Verbindung geht zurück auf den Intellektuellen Ali Schariati, der aus einer Klerikerfamilie stammte und seine letztgültige Ausbildung im Quartier Latin erhalten hatte. Er übersetzte Frantz Fanons Werk Die Verdammten dieser Erde ins Farsi und formulierte die berühmte marxistische Gegenüberstellung von »Unterdrückten« und »Unterdrückern« in korankonformes Vokabular um, wenn er von »Entrechteten« (mostadafin) und »Selbstgefälligen« (mostakbirin) sprach. Diese Neuformulierung griff jedoch nicht die gleichen Kategorien auf wie das Original: Indem sie den Begriffen eine starke religiös-moralische Bedeutung mitgab, ermöglichte sie es, die Grenzen des Klassenkampfs zu verschieben. Damit gehörten zur großen Gruppe der »Entrechteten« nun alle