Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

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Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



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gebräuchlich. Menschen, die nicht sesshaft sind, einer anderen Religion angehören und eigene Traditionen besitzen, werden mit gefährlichen, bösartigen Eigenschaften ausgestattet. Diese gelten gleichermassen für die Juden, Roma, Sinti und Jenischen.»

      Thread 2: «Juden beschimpfe nur, wenn du besoffen bist und hinter vorgehaltener Hand. Bei den Zigeunern tu dir keinen Zwang an. Jeder hört zu!»

      Thread 4: «Deutsche Wissenschaftler wollen unter dem Deckmantel des Antiziganismus eine harte Assimilationspolitik durchsetzen.»

      Thread 5: «In Rumänien fahren wir an Roma-Siedlungen vorbei. Halbzerfallene Plattenbauten, die Fensterscheiben sind eingeschlagen, auf den Fensterbrettern sitzen Hühner und im Hauseingang steht eine Kuh. Auf den Abfallhaufen spielen oder schlafen Kinder.»

      Thread 3: «Sie sind fremd. Unheimlich. Gehören nirgends hin. Praktizieren eine primitive Religion. Der Staat baut ihnen Häuser und finanziert ihren Lebensunterhalt. Man muss die Wut der Slowaken verstehen.»

      Thread 2: «Heutige Roma-Siedlungen erinnern an die ehemaligen Schtetl der osteuropäischen Juden. Die Roma weigern sich ebenfalls, ihre Kinder in die öffentliche Schule zu schicken. Sie fürchten sich vor der Assimilation. Sie wollen sich nicht anpassen und nicht dazugehören.»

      Thread 4: «Wenn hingegen ein Roma ein Studium abschliesst, findet er keine Arbeit. Der Bund akademischer Roma ist so frustriert, dass er jedes Interview mit Journalisten verweigert. Ich hab es zwei Monate lang versucht.»

      Thread 5: «Für die Roma ist Geldsparen eine Sünde. Von Gott geschenkt, muss es wieder zurückgegeben werden. Den Lohn versaufen ist keine moralische Schwäche, sondern ein heiliges Ritual des zyklischen Bekommens und Hergebens. Besitz hat keinen ideellen Wert und dient nur dem Überleben.»

      Thread 4: «Unter der Sowjetmacht wurden die Roma zwangsangesiedelt. Sie verloren ihre traditionellen Berufe, ihr herkömmliches Einkommen. Und wegen des herrschenden Rassismus finden sie keine Anstellung. In einem Viertel wie Lunik 9 beträgt die Arbeitslosigkeit bis zu hundert Prozent. Der einzige Ausweg ist Sozialhilfe.»

      Thread 5: «Freiheit ist die Entfernung zwischen dem Mörder und dem Opfer, sagt die bulgarische Dichterin Malina Tomowa. Ich denke an diese Worte, als ich durch die Stadt Kardschali im Süden von Bulgarien spaziere. Die Stadt ist in drei Stücke geschnitten: Die türkischen Schiiten, die Bulgaren und die Roma. Bei den Bulgaren kleinbürgerliche Ordentlichkeit, die Türken ziehen eine Mauer um ihr Viertel und die Roma leben in baufälligen Hütten. Die Küche ist im Freien. Der Hausrat verstreut.»

      Thread 3: «Für Touristen sind die Zigeuner nicht so schlimm. Sie gehören dazu. Bringen Farbe ins Bild.»

      Thread 1: «Lunik 9 liegt am Stadtrand, durch eine Schnellstrasse vom Rest der Stadt getrennt, dahinter kahle Hügel.»

      Sumpfige Trampelpfade führen durch hüfthohes, nasses Gras zu den verwahrlosten Plattenbauten, zerknüllte Kleider, ausgeweidete Regenschirme, zerbrochene Flaschen und zerrissene Plastiktüten in den Büschen und Wiesen. Der Regen verwandelt die Umgebung in eine Seenlandschaft. Ich hüpfe von Inselchen zu Inselchen, bis ein schmaler, brauner, aber schnell fliessender Fluss den Weg versperrt, am Ufer entlang komme ich zu einem Übergang – einem glitschigen, in der Mitte gebrochenen Brett.

      Stimmen und Schritte. Unvermittelt stehen zwei kleingewachsene, magere Jungen vor mir und sprechen mich an. Ich verstehe sie nicht und stammle etwas auf Russisch, sie verstehen mich nicht, schliesslich fragt einer auf Deutsch nach meinem Namen, Selma sage ich, als Roman stellt sich einer vor, als Kamil der andere. Sie setzen ihren Weg Richtung Schnellstrasse durchs hohe Gras fort, Angst kriecht hoch, wie ich da aus dem Takt gebracht am Fluss stehe, Roman und Kamil hingegen stapfen unbekümmert durch dieses matschige Gräsermeer, sie plaudern, und ich spüre, sie reden über mich, entwerfen einen Plan. Ich beginne zu laufen, stolpere, kann mich gerade noch auffangen und folge ihnen.

      Ohne zu schauen, überqueren sie die Schnellstrasse und beobachten lachend von der anderen Seite, wie ich ängstlich nach links und rechts schaue, bevor ich die Strasse wie ein aufgescheuchtes Huhn überflattere, eine hochschwangere, in Wolltücher gehüllte Frau und ein magerer Mann mit prallgefüllten Plastiktüten von Lidl nähern sich, auch sie, ohne zu schauen, tauchen in die Schnellstrasse und schwimmen im Gräsermeer davon.

      Wir gehen die löchrige Strasse zur Busstation hoch. Roman hält mir entschlossen zwei hohle Hände hin. Ich gebe ihm zwei Euro. Kamil läuft herbei und Roman bittet um weitere zwei Euro, ok, in Ordnung, zwei Euro. Roman legt den Kopf schräg, Augenaufschlag, hält nochmals die Hände hin, ist gut jetzt, ist genug, sage ich, Roman verbeugt sich und imitiert einen frivolen Knicks, Kamil flötet ein zuckersüsses Danke und nickt mit dem Kopf. Sie laufen von mir weg und wieder zurück, umkreisen mich, halten die Hände hin und fragen: Ok? Und ich antworte: Ja! Roman verbeugt sich, Kamil flötet ein Dankeschön. So besteigen wir, das Ritual wiederholend, spielend und scherzend den Hügel bis zur Bushaltestelle – und plötzlich sind sie weg. Vom Erdboden verschluckt.

      Im Park in der für die ehemaligen Kronländer des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs typischen Altstadt schiesst zu den Klängen von Johann Strauss’ An der schönen blauen Donau Wasser in regelmässigen Intervallen mal höher und mal tiefer aus einem Springbrunnen in den grauen Himmel. Der Mythos von der guten alten Zeit spritzt in tausend Gefühlstropfen und süssen Zuckerfleckerln in die trostlose Sonntagslaune und nährt sie mit tröstlichen Illusionen. Alte Leute, junge Paare, Kinder auf Dreirädern stehen im Regen und starren auf das entrückte Schauspiel. Das Crescendo der Tanzmusik fetzt über die Köpfe der teilnahmslosen Zuschauer und der aufkommende Wind stülpt die Regenschirme um.

      In einer düsteren Passage stimmen zwei ältere Männer ein Akkordeon und eine Klarinette aufeinander ein, drei vom Regen durchnässte Kinder betteln, obwohl kein Mensch vorbeigeht.

      Ich flüchte in eine kahle, grau gestrichene Eisdiele. Das grellfarbige Eis in grossen Plastikkübeln glänzt.

      Lieber Diogo

      Kaufe mir heissen Kaffee. Nestlé mit Milch. Im Lidl besorge ich Brot, Käse, Tomaten, spanisches Mineralwasser und südafrikanischen Wein. Und ein Cornetto.

      Das Cornetto aus Portugal. Du hast es geliebt.

      Vom netten Kellner, der auch die Rezeption bedient, bekomme ich Messer, Gabel und ein Glas. Zurück im Zimmer beginne ich zu schreiben.

      Deine Vergangenheit liegt hinter dir. Meine breitet sich soeben vor mir aus. Habe ich sie betreten und durchschritten, kann ich sie auch wieder verlassen. Unser beider Leben sind vom Verschwinden geprägt, also solltest du mich verstehen.

      Und warum schreibst du, meine Briefe würden dich verunsichern?

      Du sagst, ich würde dich bedrängen?

      Ah. In der Aufzählung der Dinge, die du in Portugal verlassen hattest, ging etwas vergessen. Deine Mutter erzählte es mir in der Küche. Den Ziegenbraten hatte sie gerade in den Ofen geschoben. Geblieben ist mir ein Bild: die schmalen Lichtstreifen, die durch die Lamellen der Jalousien sickern. Das Kichern deiner Mutter, als sie, wegen der Rufe deiner Tante notdürftig in ein Tuch gewickelt, zum Fenster läuft und das Tuch von ihr abgleitet, weil sie die Jalousien mit beiden Händen aufstösst. Sie steht da, nackt, lacht und lacht, schaut dir selbstvergessen in die Augen, steigt aus dem Tuch, das wie ein Nest am Boden liegt, und beugt sich, die Arme über der Brust verschränkt, vorsichtig aus dem Fenster, gegenüber zeichnet sich das Gesicht des Nachbarn ab, der ebenfalls aus dem Fenster, aber nicht hinunter auf die Strasse, sondern zu deiner nackten Mutter starrt. Die Fassaden der hohen Häuser sind schwarz, dazwischen gleissender Himmelsfleck.

      Damals, während eurer Flucht, in dieser Raststätte in Clermont-Ferrand, erkanntest du die Macht, die andere Menschen über dein Leben haben. Und die Faust des Verlusts traf dich mit voller Wucht.

      Auch ich enttäuschte dich. Und ich raubte dir die Aussicht auf eine Familie und nahm dir dein Baby.

      Es war nicht nur wegen Pauline. Auch wegen dir. Du warst so angespannt und zerrissen. Cholerisch. Du hattest diese Sehnsucht, an der Hand genommen und geführt zu werden. Und gleichzeitig diese Angst, weil einem Mann diese Art der Schwäche nicht zusteht.