Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

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Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



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die für eine junge Frau der damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie, zusammen mit Brigita, einer Kommunistin aus der Slowakei, in den Armenvierteln Londons als Sozialarbeiterin.

      Später wohnte Brigita bei Pauline in Zürich.

      Pauline liebte Brigita.

      Als ich mit fünfzehn Jahren die Schule verweigerte, schickte Pauline mich kurzerhand zu Brigitas Mutter in ein Dorf in der slowakischen Tiefebene, damit ich das wahre, das wirklich harte Leben kennenlernte. Diese Erfahrung sollte mich auf den richtigen Weg zurückbringen.

      Die Menschen im Wartesaal in Košice schwiegen, bis ein junger Mann, der mich unverwandt angestarrt hatte, eine Bemerkung machte. Alle schreckten auf und schauten mich an. Das Gespräch weitete sich aus und wurde lebhafter, die zuvor noch müden Reisenden musterten mich, wiesen schamlos auf Details meiner Erscheinung und meines Gepäcks hin und – ich redete mir nichts Falsches ein –, lästerten über mich und lachten. Der Hohn und die Aggression im Wartesaal schwollen an. Die Blicke, Finger und Stimmen schwappten über mir zusammen und verdichteten sich an meinem Hals zu einem Angstkragen. Ich verharrte regungslos, als könnten Gleichmut und Schweigen mich vor dem Ausbrechen der Katastrophe schützen. Nur die Augen. Ich wusste es. Meine Augen verrieten mich. Niemand kann kontrollieren, was in den Spalten zwischen den einzelnen Sekunden für jeden sichtbar aufblitzt.

      Liebe Janika. Die Verlängerung deiner Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz ist mein grösster Wunsch. Ich weiss, du magst nicht darüber reden – die Umstände kümmern sich gerade nicht um deine Pläne. Das macht dich bockig und wütend. Du bist nervös und verweigerst dich. Aber ich möchte dir trotzdem sagen, wie traurig es für mich wäre, wenn du nach Israel zurückkehren müsstest.

      Aber ich bin zuversichtlich. Alles wird gut.

      Ich umarm dich.

      Selma

       22. Juli. Wien

      «Wenn alle Staaten Nationen verkörpern, dann sind alle Fremden mögliche Verräter. Ob man ihnen erlaubt – oder auch vorschreibt – sich zu assimilieren oder nicht, auf jeden Fall haben sie weniger Rechte, um ihre Andersartigkeit oder Besonderheit zu leben.

      Dazu kommt, dass die elementaren Ängste und Nöte von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung aus einer sicheren, sesshaften Perspektive kaum vorstellbar sind.» Notat von Pauline Einzig

      Die Leopoldstadt liegt in den Auen zwischen Donau und Donaukanal auf einer Insel. 1624 vertrieb Ferdinand der Zweite die Juden aus Wien und sie zogen auf die sogenannte Werd. 1671 zerstörte Leopold der Erste die Synagoge und erbaute eine Kirche für den heiligen Leopold – von da an hiess die Insel Leopoldstadt. Dennoch kehrten die Juden zurück, wegen der für den Handel günstigen Lage in Hafennähe und wegen der Nachbarschaft zum Prater, einer ausgedehnten Auenlandschaft – 1766 zur allgemeinen Benutzung freigegeben zog sie Kaffeesieder und Wirte an. Später wurde der Wurstelprater zum Zentrum für Unterhaltung, Prostitution, Handel und Schwarzmarkt. Als Joseph der Zweite 1849 in seiner Märzverfassung «Gleiches Recht für alle» proklamierte, wuchs die jüdische Bevölkerung in der Leopoldstadt an, auch wegen der Nähe zum Nordbahnhof, der, 1865 erbaut, Ankunftsort der Reisenden aus Galizien, Lodomerien, Böhmen, Ungarn und Rumänien war. Die Insel erhielt den Spitznamen «Mazzesinsel».

      Praterstrasse. Taborstrasse. Grosse Sperlgasse. Kleine Sperlgasse. Tandelgasse. Marktgasse. Augarten. In der Hollandstrasse eintönige Häuser. Ein Kosher-Supermarket. In der Lilienbrunngasse ein lang sich hinziehendes Gebäude mit schmutzig-grüner Fassade. «Tapezierer» steht auf einer Blechtafel geschrieben. Milchglasfenster. Keine Dekoration, kein Schmuck.

      Ein Schild weist auf eine Bäckerei hin. In einer verstaubten Vitrine ist Werbung angebracht für einen Jahreskalender, den man mit Selbstporträts gestalten kann. Identität heisst also, während eines ganzen Jahres sich täglich anzuschauen. Heute, am 22. Juli, und am 22. Juli vor einem Jahr bin ich gewesen und am 22. Juli nächstes Jahr werde ich sein. Und so gehe ich nicht verloren in der unberechenbaren Welt – eine Selbstvergewisserung zum Frühstück.

      In der kleinen Sperlgasse das Kosher-Restaurant Milk & Honey. Afrikanerstrasse. Mohrengasse. Negerchengasse.

      Am Ufer der Donau, unter dem Kopf der Reichsbrücke der Mexikoplatz. Hier der Schwarzmarkt mit illegalen Geldtauschgeschäften. Ein Schmuggel- und Hehlermarkt der Migranten, Flüchtlinge und Sans-Papiers: Türken, Serben, Vlachen, Albaner, Polen, osteuropäische Juden, Sinti, Roma und viele andere. Dieser Ort anarchisch-illegaler Überlebenstaktik wird als Übergangslösung von der Stadtverwaltung akzeptiert, da einer, der sich hier aufhält, jederzeit ausgeschafft werden kann. Praktisch ist es, flexibel und billig und nützlich für den bevorstehenden Wahlkampf. Denn jeder Politiker, der einen solchen Ort aufräumt und das «Gesindel» vertreibt, wird gewählt – und die Übriggebliebenen, die nicht verhaftet worden sind, ziehen in die Freudenau.

      Im Schatten der Bäume die Rücken der Männer, über die Brettspiele gebeugt.

      Der Redefluss der Frauen fliesst den Bänken entlang: russisch, serbisch, hebräisch, türkisch.

      Das Kichern der Kinder unter der schimpfenden Bewachung der Alten. Fliegende Bierdosen und liebkoste Fahrräder in den Händen junger, balgender Männer.

      Gierige Mädchenfäuste in der Tiefe der Schokoladentüte.

      Mexiko ist weltweit der einzige Staat gewesen, der 1938 in der Unoversammlung gegen den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland protestiert hat. Ist in schwarzen Lettern in den Granitbrocken graviert. Leider hat Österreich selber nicht protestiert. Es braucht schon einiges an Selbstironie, die Tafel zu Ehren Mexikos gerade hier zu platzieren, denn die Leute, die hier Handel treiben, wären wohl ausnahmslos von den Nazis getötet worden: Aycan Supermarket / Wohnheim Stadt Wien / Uhren und Hörgeräte / Bronek: Batterien, Ghettoblaster, Haarspray, Uhren, Fernbedienungen, Fotorahmen / Textil Magazin Krenek: Lichterketten, Uhren, Kochgeschirr, Parfum / Vili – Waren aus aller Welt: Taschen, Uhren, Geschirr, Stofftiere, Ventilatoren / Tabak / Zach Juwelen: Gold- und Silbermünzen, An- und Verkauf / Krystyna 194: Taschen, Stoffblumen, Statuen, Holzlöffel, Schmuck, Ventilatoren / Alibaba: T-Mobile, Handy, Computer, SAT-Anlagen / Ernex Swiss Textile steht leer, vergilbte Tapeten, im Schaufenster eine Landkarte von Afrika / Billige Einkaufsquelle von Waren aus aller Welt: Spielzeug, Abfallsäcke, Kartonschachteln / Kandow: Gold, Silber, Juwelen, Uhren, Wäschekörbe, Kisten aus China / Feig & Co: steht leer / in der leergeräumten Korber Konditorei: Baumaterial, Leitern, Farbtöpfe, türkische Einkaufstüten, Leuchtreklamen für Coca Cola / F. Wasser: Kleider, Gemälde / M. Spiegel: Kleider, Western Union / Everything Center: Laptop, Skier, Fahrräder, Dragon Energy Drink / Handy Vienna: Billig Telefonieren, An- und Verkauf, Reparatur / Nikita da Russo: Russische Pizzeria. In der Lassallestrasse eine Reihe von Börsen: An- und Verkauf, Tausch.

      Lieber Diogo

      Wie gern würde ich mich ziellos treiben lassen: aufwachen, Geräusche und Gerüche, Sonnenlicht, wandern, schwimmen, Eis essen, Wein trinken, Mond und Sterne, Gerüche, Geräusche, einschlafen.

      Aber ich will eine fassbare, zusammenhängende Geschichte, die ich erzählen kann. Ich suche mir das Material und erfinde sie neu.

      Warum sollte ich es nicht tun?

      Du kannst dir nicht vorstellen, wie verwirrt und leer ich mich fühle. Von allem, was mir Nahrung zugeführt hat, bin ich getrennt. Und frei. Befreit. Und mir schwindelt. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie mich belogen hat. Pauline! Die alte, verrückte Pauline!

      Und diese Hitze! Sogar das Tippen, körperlicher Kleinstaufwand, treibt einem das Wasser aus den Poren. Ich sollte in der kleinen Donau schwimmen gehen.

      Und ich muss an deine Eltern denken. Joel sprach oft von ihnen. Er nennt sie Mae-Pai. Ein wenig Portugiesisch hat er also gelernt. Du wärst sicher glücklich gewesen, wenn du den zärtlichen Unterton in seiner Stimme gehört hättest. Hört sich Indianisch an: Mae-Pai.

      Joel hat Geld von mir bekommen, damit er zum Friseur geht. Warum reagierst du so ungehalten auf seine