Название | Wie die Milch aus dem Schaf kommt |
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Автор произведения | Johanna Lier |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038670476 |
Liebe Janika
Heute Nacht stürzte der Regen. Das Wasser von den Dächern spritzte aus angerosteten Rohren und bildete im Hinterhof ein weitverzweigtes Netz von Pfützen.
Jugendliche hocken auf kaputten Tischen, trinken Bier, reden und lachen laut, ein kleiner Junge liegt bäuchlings auf einer Schaukel und angelt nach einem Plastikgewehr: Pengpeng! Eine magere Frau mit grünem Regenmantel und grauer Kappe zieht eine Holzstange aus dem Geviert, in dem die Container stehen, und stochert damit im Abfall herum.
Ich stehe auf dem Balkon und rauche.
In der kleinen Wohnung am Prospekt Svobody sind die Kleider aufgehängt, die Bücher sortiert, die Toilettenartikel aufgereiht, das Bett ist gerichtet. Schreibplatz.
Der Besitzer hat mir eine Bratpfanne gebracht.
Ich brauche Milch, Kaffee, Zucker, Joghurt.
Die Verkäuferin im kleinen Supermarkt in der Hrnaluka holt ihre Brille aus der Schublade und studiert mein Wörterbuch. Fürsorglich steckt sie mir zusätzlich zum Vanillejoghurt noch eins mit Aprikosen dazu: Wasser, Käse, Brot.
Salz, Pfeffer, Öl, Essig – du weisst ja, ich bin glücklich, wenn ich die Möglichkeit zum Kochen hab.
Diogo hat seine redaktionellen Kontakte spielen lassen. Marya und Ludmila, zwei russische Übersetzerinnen, erwarten mich. Um die fünfzig, blass, blond und schüchtern freuen sie sich über meine Ankunft, als sei ich eine nahe Verwandte. Sie wohnen bei ihren kranken Eltern – ein Leben wie mit Kleinkindern –, zerrissen zwischen Arbeit, Pflegedienst und dem Bedürfnis, noch etwas anderes zu sein: Liebhaberinnen, Freundinnen, Opernbesucherinnen. Nach dem Vaterländischen Krieg zogen ihre Eltern aus Russland in die Ukraine, um Arbeit und billige Wohnungen zu finden, Zufall, nur Zufall, und Marya und Ludmila blieben in Lemberg.
Nach zwei Tassen heisser Schokolade – dickflüssig und übersüsst – reden wir über Adriano Celentano, Roberto Benigni und Jim Jarmusch. In Wolldecken gehüllt auf der Terrasse des Kawy Swit an der Katedralna.
Zwei junge Roma-Frauen packen mich am Ärmel und reden auf mich ein, so viele Zigeuner hier, lästig, lästig, bemerkt Marya und wedelt mit der Hand. Schwarze Wolken saugen am Licht.
Wir bestellen Tee und Käsekuchen. Marya und Ludmila setzen ihre Erzählung fort: Während der Sowjetzeit habe sich niemand um die Nationalität oder die Religion der anderen gekümmert, mindestens zwei Drittel der Klasse wären jüdisch oder sonst etwas gewesen, man diskutierte über die gleichen Dinge, ging zusammen ins Kino, nach dem Ende der Sowjetunion schossen jedoch jüdische, ukrainische, russische, tatarische, armenische und sonstige Identitäten wie Pilze aus dem dunklen, feuchtwarmen Hummus der vergärten Völkergemeinschaft hervor.
Später zeigen mir Ludmila und Marya den Markt. Helfen, das Abendessen einzukaufen: Nudeln, Tomaten, Frühlingszwiebeln, Suppensellerie, Heidelbeeren und Basilikum. Von der Reise hab ich noch frischen Ziegenkäse.
«Kein Fleisch?» Sie fragen immer wieder. «Kein Fleisch?»
«Nein. Heute nicht.»
Ludmila: «Die ukrainische Küche ist hervorragend. Ich liebe die mit Schweinefleisch gefüllten Piroggen und die mit Leber gefüllten Varenykys. Schau dich mal um.»
Marya: «Hast du unsere Wälder und Pilze vergessen? Meine russische Grossmutter legte Waldpilze, Lorbeer, Pfefferkörner und Wacholder in Salzlake ein. Sowas kriegst du hier nicht.»
Ludmila: «Siehst du! Wir brauchen ein kosmopolitisches Leben.»
Sie nimmt meine Hand und sagt, man solle die Welt der Grenzen, Nationalitäten und Rassismen verlassen und ins Land des Friedens, der Zeichen und Wunder flüchten, man müsse in die eigene Seele einziehen, wie die Schildkröten, die ihr Haus auf dem Rücken tragen, um jederzeit Schutz suchen zu können, wenn sie sich bedroht fühlten.
Und Ludmila weint.
Und schreibt mit einem Bleistift auf eine mit Zwiebeln gefüllte Papiertüte: «Let your sleeves never be wet of tears. You are too beautiful to cry.»
Im benachbarten Museum für Religionsgeschichte, das früher «Museum für die Geschichte des Atheismus» genannt worden ist, liegen in einem beleuchteten Sarkophag zwei dreitausend Jahre alte Skelette in innigster Umarmung. Gestorben während des Liebesakts.
Marya schaut schweigend in den Sarkophag.
Und Ludmila weint.
Ich erinnere mich: Lag nachts im Bett. Heiss. Schob die Decke in der Mitte zusammen und legte die Beine drum herum. Auch eine Art Umarmung. Bewachte die Lichtvorräte, die aus den Strassenlaternen ins Zimmer flossen, und hörte Pauline in der Küche klappern. Obwohl wir nach dem Essen alles spülten und wegräumten, ging Pauline, während ich im Bett auf den Schlaf wartete, in die Küche, arbeitete, als gälte es, eine Grossfamilie zu versorgen. Ich tauchte in die grauen Schatten ein, die das Zimmer in ein abstraktes Gemälde und mich in ein Sujet verwandelten, wartete auf das Abtauchen und legte das Versprechen ab, schnell, ganz, ganz schnell erwachsen zu werden, einen Mann zu finden, ihn mit dem Schleier über dem Kopf siebenmal zu umkreisen: Wein trinken, Gläser zertreten, Ringe austauschen und laut zu singen: Ich bin meines Liebsten und mein Liebster ist mein.
Ich legte den Schwur ab, nicht, wie die Frauen in meiner Familie es üblicherweise tun, allein zu leben, nein, ich wünschte mir eine Familie. Eine ganz normale Familie. Mit Pauline, mit meiner Mutter Marielouise, mit meinem Grossvater Hendrik, meinem unbekannten Vater und ganz vielen Geschwistern. Mit Cousinen und Cousins, mit Tanten und Onkeln. Eine mit Diogo oder Sami oder einem anderen Mann.
Und mein Bauch hätte dauernd ein Kind ausgespuckt, das von den hungrigen Herzen der Grossfamilie geschluckt worden wäre.
Eine solche Familie wäre für dich ein Albtraum. Alle diese Menschen würden dich überwältigen, vereinnahmen und deinen Rhythmus durcheinanderbringen. Eine solche Menschenansammlung mit all ihren unberechenbaren Nöten und selbstbezogenen Bedürfnissen störte deinen Drang nach Perfektion und deinen Wunsch, in allem die Beste zu sein.
Deine wunderbaren, grosszügigen Eltern und dein liebenswerter Bruder treiben dich ja bereits zur Verzweiflung.
Dennoch bist du mit deiner Lautstärke, deinem unbändigen Lachen, deinem Schimpfen und Fluchen, deiner überfüllten, gemütlichen Küche, deiner opulenten Kocherei, deiner Fürsorge, die weder Grenzen noch Skrupel kennt, meine vermisste Familie – die fehlende Stimulation in meinem zurückgezogenen, stillen Universum.
Wir bilden Einheiten gegen den Rest der Welt, um sie gleich darauf zu sprengen, um diesen Rest der Welt uns einzuverleiben.
Du sagst, die Entscheidung, wen oder was wir lieben, gibt Auskunft darüber, wer wir sind und was für uns ein gutes Leben ist.
Auf dem Heimweg kaufe ich bei einer alten Frau Blumen: Der Strauss, Margeriten, Erikas und in der Mitte eine rote Rose, riecht wie das Kraut, das auf der Wiese rund um Paulines Almhütte wuchs. Heftiges Heimweh. Obwohl ich sicher bin, dieses Stück Pauline-Natur, diese Leere – Sommer für Sommer diese Leere –, diese endlosen Tage in verschwitzten Kleidern und dieses über dem Feuer gekochte, nach Rauch schmeckende Essen zu hassen.
Monster zogen ihre langen Mäntel schattenhaft über die buckligen Wiesen, ihre Zähne blitzten in der Finsternis, Eulen lugten von den Bäumen, Füchse brachen durchs Gehölz, Maulwürfe huschten unter die Felsbrocken. Ich verkroch mich klopfenden Herzens und mit weichen Knien in einer Senke, kauerte auf weichen, vom Tag noch warmen Föhrennadeln, Ameisen krabbelten, doch ich blieb, wickelte die Würstchen aus dem rosafarbenen Fettpapier und verschlang sie alle – kaltes, süssliches Fleisch.
Pauline hatte in unseren leeren Vorratsschrank gestarrt und mich ins eine Stunde Fussmarsch entfernte Dorf zum Einkaufen geschickt. Auf dem Heimweg trödelte ich herum, bis der Einbruch der Nacht mich überraschte und Dunkelheit über mich herfiel.
Der Verzehr der Würstchen gab mir Kraft und Zuversicht, die Alm öffnete sich und zeigte sich im Mondlicht als harmloser, gleichgültiger Raum. Ich kroch aus der Senke und lief zur