Название | Wie die Milch aus dem Schaf kommt |
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Автор произведения | Johanna Lier |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038670476 |
Und ich will Paulines Kiste auf den Grund gehen. Ein unsinniges, ärgerliches Vorhaben, du vergleichst mich mit meiner Grossmutter und beklagst meine sinnlose Beschäftigung mit Mythen, Fantastereien und Illusionen – Sami gehört auch dazu. Ein unerreichbarer Liebhaber! Etwas Richtiges aus Fleisch und Blut würde mir jedoch gut tun, sagst du, etwas, was jeden Tag da ist, rülpst und furzt, Erwartungen hat und peinliche Schwächen zeigt: Ob es dir passt oder nicht.
Ob es dir passt oder nicht.
«Du bist, was du tust!» In voller Grösse stehst du da, die Hände am Hosenbund, spielst mit Pistolen und forderst mich heraus.
Wie viele Nächte haben wir in deiner Küche versoffen und über Marielouises Leben nachgedacht? Wo lebt sie? In der Wüste Atacama? In Valparaiso? Hübsch am Hügel mit Sicht aufs Meer? Oder in einer trostlos langweiligen Vorstadtsiedlung? Stellt sie einem mürrischen Ehemann das Essen auf den Tisch? Oder kifft und meditiert sie irgendwo in der Wildnis? Hat sie Familie? Einen Mann? Eine Frau? Kinder? Ist sie einsam? Mit ein paar Schafen im Süden? Oder Abuela einer grossen Sippe? Erfreut sie sich am Sonntag an einer lauten Enkelschar? Oder hat sie einer neurotischen Tochter beigebracht, mit gespreiztem kleinen Finger die Teetasse zu halten? Vermisst sie Selma? Weint sie in der Nacht? Oder verdrängt sie? Weiss sie von Joels Existenz? Will sie davon wissen? Hat sie alles vergessen? Liebt sie Augusto Pinochet? Oder Salvador Allende? Oder kämpft sie für die Rechte der Mapuche? Ist sie gleichgültig und denkt nur an ihr Vergnügen? Oder an Geld? Oder ihre kleinbürgerliche Ruhe? Ist sie ein Arschloch oder ein Engel? Weise? Humorvoll? Im Frieden mit sich selbst? Oder ein Kriegsschauplatz?
Übersetzerin? Reiseleiterin? Weinhändlerin? Käseproduzentin? Fischerin? Bäuerin? Grossgrundbesitzerin? Oder – Bettlerin? Hure? So eine alte, verbrauchte Hure? Die das Leben kennt, so wie es ist?
Calamity Jane?
Unter welchem Namen lebt sie? Valentina Rodriguez, Sofia Fernandez, Isidora Molina, Maite Perez? Als Künstlerin? Verkäuferin? Sekretärin? Putzfrau?
Oder gar jüdisch-orthodox? Chilenischer Zionismus?
Ist sie dick oder dünn? Schön? Hässlich? Unscheinbar?
Hat sie Liebhaber? Oder träumt und masturbiert sie? (Das würde ich von meinen Eltern nie wissen wollen, hast du gelacht. Und dich so verschluckt, dass ich fürchtete, du würdest ersticken.)
Warum hat sie nie von sich hören lassen? Was ist zwischen ihr und Pauline vorgefallen? Warum hat sie ihre Tochter nicht mitgenommen?
So viel Stoff. Damit könnte man Bibliotheken füllen, spottest du, nimmst mich in deine fuchtelnden Arme, tröstest mich mit deiner trägen Stimme, die einfährt wie alter, schwerer Rotwein, füllst mein Glas: Nastrowje! Wir schauen uns in die Augen und trinken ex. Ich mit offenem Rachen. Du mit spitzen Lippen. Und wir plündern deinen Kühlschrank. Morgens um fünf.
Was hat Marielouise ihren chilenischen Kindern gekocht? Knödel und Borschtsch? Gefillte Fish? Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti? Milchreis? Ajiaco? Curanto en Hoyo oder Chancho en Piedra – was übersetzt heisst: Schwein in Stein?
Ja. Schwein in Stein. Deine Mutter ist Schwein in Stein. Oder Shwejn in Shtejn.
Erwache früh. Um sechs Uhr dröhnender Baulärm. Schlafe wieder ein. Um neun Uhr ruft Sami an. Will wissen, was ich tue, wann und mit wem. Und ich dasselbe. Kontrolle als Ersatz für Verbindlichkeit. Oder als Ausdruck der Angst, Gefühle aufrichtig zu äussern. Denn es könnten Verpflichtungen entstehen. Ja, wir sind uns nichts schuldig. Die Übereinkunft einer lockeren Affäre führt jedoch über kurz oder lang zum Eiertanz um fehlende oder hinderliche Leidenschaft. Trotz der Angst vor Verbindlichkeit möchte man im Wirbel des Schwindels einen Mittelpunkt finden … Den Zustand der Entfremdung und Selbsttäuschung hinter sich lassen … Das gelobte Land des Eigentlichen und Vollgültigen betreten …
Bin froh um meine Abreise …
Im Dorf, in dem Sami aufgewachsen war, übernachteten im Herbst 1972 europäische Touristen. Eine ältere Frau aus Schweden ging abends ans Flussufer, machte eine Gaslampe an, reihte ihre Kosmetika auf, band sich ein Haarband um den Kopf, wischte sich mit Lotion die Schminke weg, wusch sich Gesicht, Hals und Brust mit Seife, tupfte rosafarbene Wässerchen auf die Augenpartie, rieb unterschiedliche Cremes auf Gesicht, Hals, Brust, Arme, Hände und Füsse – Augenwasser, Lippenfett und ein Hauch aus einer Spraydose aufs Haar. Zähneputzen, Gurgeln und Brauenzupfen.
In diesem libanesischen Bergdorf assen die Bewohner am offenen Feuer, schliefen und kochten auf gedeckten Terrassen, wuschen sich und ihre Wäsche im Fluss, der schäumend durchs Dorf toste.
Die Kinder umringten die Frau aus Schweden und bestaunten das merkwürdige Ritual. Sami entzifferte die Namen auf den Flaschen, Stiften, Tuben und Tiegeln: Christian Dior, Jean-Paul Gaultier, Helena Rubinstein, Coco Chanel, Estée Lauder, Elizabeth Arden, Maybelline – noch heute zählt er sie, ohne zu zögern, auf. Er hatte, so erzählte er, instinktiv die Botschaft dieser erstaunlichen Performance begriffen: Man muss seinen Körper lieben und sich um ihn sorgen, denn er ist das einzige Zuhause, aus dem man bis zum Tod nicht vertrieben werden kann.
Auch ich reihe all die guten Dinge, die ihr mir mitgegeben habt, im Regal neben dem Badezimmerspiegel auf: Birkenpeeling und Granatapfelöl für den Körper, Rosencreme fürs Gesicht, Hafermilchdeodorant (alles von dir), Zahnpasta aus Meer- und Solsalzen (von Sami), eine dunkelgelb leuchtende Glyzerinseife (von Joel), meine alte Zahnbürste, ausgefranst und verwildert (von Pauline).
Frühstück im türkischen Restaurant. Wenn ich das Brot aufschneide, bringt mich der Duft um mein Leben: warm und weich! Frischer Ziegenkäse, knackige Gurkenscheiben, süsse Tomatenräder, würzig ölige Oliven, Rührei mit scharfer Wurst, Butter, Honig, Povidl-Marmelade. Ich bemühe mich, langsam zu essen, um den verdammt kurzen Moment zu verlängern – doch dann erfasst mich der Strom der Nahrungsaufnahme, die feinen Sachen strömen in meinen Mund und unzerkaut durch meinen Rachen in den Magen – dennoch schaffe ich nur den halben Käse, das Brot, die Gurken und Tomaten, drei bis vier Oliven, und der noch gut gefüllte Teller geht zurück. Es kostet nicht viel. Das Geld ist nicht das Problem. Die Überfülle, das Zuviel. Einpacken lassen? Nein! Denn morgen möchte ich Köfte, Paprika, Salat, Joghurt und Reis essen.
Auf meinem schwarzen Kleid bleiben Mehl und die Sesamkörner zurück. Die Frau vom Nebentisch starrt mich an. Ich schäme mich und versuche, das weisse Mehl wegzuwischen.
Ich bring dir Rezepte nach Hause, einfache und deftige, wie du sie liebst. Wir sammeln sie für unser Restaurant mit den schwarz-weiss gemusterten Bodenfliesen, das versteckt im Garten liegt: Bäume, Büsche, Blumen, Gräser, Kräuter – und Wege aus allen Himmelsrichtungen führen zu einem einzigen Aussichtspunkt: Wüste, rundherum Wüste, und im Norden Bergketten und im Süden das Meer –, in unserem Garten kann man flanieren, ja geradezu wandern und in Lauben, unter Pergolen und in an Bäumen hängenden, freischwingenden Korbstühlen ausruhen, was gut ist für die Verdauung und für unser Restaurant, denn dadurch entsteht neuer Hunger – aber zuerst testen wir die Rezepte, kochen, bitten unsere Freunde zu Tisch und beobachten sie beim Essen.
Die Reise durch die Slowakei macht mir Sorgen. Bratislava. Košice. Von dort ist es nicht mehr weit bis zur Ukraine. Gibt es an der Grenze Übernachtungsmöglichkeiten? Gibt es Verbindungen nach Lemberg? Muss ich einen Umweg fahren? Warschau? Krakau? Budapest? Man hat mir gesagt, die Bahnverbindungen in der Slowakei und der Ukraine seien sehr schlecht. Eigentlich mag ich es, mich ziellos treiben zu lassen. Aber ich hab kein Bild von den Wegstrecken und ich spüre meinen Körper nicht.
Obwohl ich mit fünfzehn Jahren schon einmal durch diese Landschaft gefahren bin. Das war vor zwanzig Jahren.
Im slowakischen eKošice, es war im Jahr 1990, setzte ich mich frühmorgens mit geschlossener Jacke und verschnürter Tasche in den Bahnhofswartesaal, um auf den Bus zu warten, der mich nach Drjetoma, ein kleines Dorf an der östlichen Grenze, bringen sollte. Allmählich füllte sich der Saal mit mürrischen Menschen.
Obwohl Pauline mir und Joel zeitlebens Disziplin, Loyalität und Fleiss predigte – ja, sie bezeichnete ihre Familie als zivilisatorisches Experimentierfeld –, war sie