Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

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Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



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warfst dich ins Sofa und strecktest Arme und Beine aus: «Wo liegt das Problem? Mach dir ein schönes Leben! Verlass Sami. Vergiss Diogo. Brich auf! Nimm! Alles, was vor dir auf dem Weg liegt! Ja, mach aus deinem Leben ein Kunstwerk! Hör auf, dich selber zu bedauern!»

      Den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen fügtest du noch leise an: «Das Wichtigste hast du erreicht. Du hast ein Kind.»

      Baufälliger Bahnhof, die Zäune abgeblättert, aus den Ritzen des aufgesprungenen Asphalts wuchern Pflanzen, den Gleisen entlanggezogene Gebäude, bis der Bahnhof aufhört, Bahnhof zu sein. Eine Frau in Uniform bringt Schulkinder ins Abteil, verschafft ihnen mit zackigen Gesten und autoritärer Stimme Sitzplätze – alle müssen zusammenrücken –, die Kinder sind artig und sprechen kein Wort, als habe die Vorzugsbehandlung ihnen die Sprache verschlagen.

      Berglandschaft.

      Erzeugt das Gefühl, wenn man sich nur genug bemühe, käme man bald an ein Ziel. Und doch: Bild der Vergeblichkeit. Also beginnt man zu beten und zu singen. Oder zu saufen. Früher jedenfalls. Heute sind die Züge klimatisiert und fahren schnell, die Touristen, gut ausgerüstet, freuen sich auf Wildnis und unberührte Nostalgie – da man nur zu gern glaubt, Notleidende oder Leute aus einfachen Verhältnisse, besässen eine Unschuld, die man selbst verloren hat. Auf den Bergkämmen Silhouetten übereinandergetürmter Wohnsiedlungen – beim Näherkommen und genaueren Hinsehen jedoch hingeknallt wie Sperrgut. Als die Schulkinder den Zug verlassen, ziehen die Mädchen ein Kopftuch über.

      Ein enges Tal lässt gerade mal den Fluss und den Zug durch. Danach eine weite, bis zum Horizont zerdehnte Landschaft, am Flussufer Silberpappel, Silberweiden, Eichen, Birken, Hasel, geduckte, verschachtelte Holzhütten, als würden sie, kaum hingestellt, sich erschreckt in die Erde verkriechen, ziegelrote Blechdächer und buntgemusterte Fliesen, Gärten, Kukuruz, Hühner, Obstbäume, Gemüse, Salate, Blumen, Büsche, üppiges Gras, mittendrin ein grosser, runder Tisch mit Familie – gut zum über den Zaun schauen und am Heimweh sich satt essen.

      Am Fluss konnten Hannah und Jankel, Ossip und Ruthchen sich waschen und erfrischen.

      Und wie sie überqueren? So viele Flüsse?

      Und wenn die im Frühjahr über die Ufer traten?

      Bin müde. Stecke die Kopfhörer ein und höre Musik. An Pierlé: «Before you cry I have been gone … I have always been a dreamer with a dirty mind … I have not had the chance to say goodbye … but it’s not my fault …» Sami macht es auch so. Steckt die Kopfhörer ein und hört Musik oder Radio. Stundenlang.

      Sehne mich nach einem Zeichen von ihm. Das tatsächlich in diesem Moment in Form einer SMS kommt, Kaffeeduft zieht durchs Abteil, eine Geborgenheitsinfusion durch die Nasenkanüle. Ich fühle mich wieder gut.

      Joel war sieben oder acht Jahre alt. Stundenlang kauerte er auf dem Teppich, die Zunge zwischen den Lippen, die Finger in den Locken oder in der Nase, und krakelte mit seiner unbeholfenen Schrift Listen, um im Fall eines Aufbruchs gerüstet zu sein. Er notierte alles, was er liebte und, überrascht von einer Katastrophe oder einer Gefahr, auf keinen Fall zurücklassen wollte.

      Pauline fütterte ihn tagtäglich mit tragischen Geschichten von Freunden und Bekannten, die irgendwann von irgendwoher nach irgendwohin geflüchtet waren. Es war ihr Lieblingsthema und Joel war entsetzt. Vertraute Dinge zurücklassen zu müssen, schien ihm das Schlimmste zu sein. Immer wieder fragte er, wie denn die Kinder der geflüchteten Bekannten und Freunde reagiert hätten, als sie den wahren Grund ihrer Reise erfuhren: Kein Urlaub?

      Flucht? Für immer?

      Erinnerst du dich, liebe Janika? Ich erzählte dir bereits von meiner Strafversetzung in die Ostslowakei. Pauline schickte mich, als ich fünfzehn Jahre alt war, zur Mutter ihrer besten Freundin Brigita, um mir das wahre Gesicht der Armut zu zeigen und mich meiner verwöhnten Borniertheit zu überführen.

      Mitten in der Nacht schlich ich in die Küche – es war dunkel, ich musste Gegenständen ausweichen und mir den Weg ertasten – ich fühlte mich wie eine Einbrecherin – nahm zwei Stück frisch gebackenen Mohnkuchen vom Blech und schlang sie hinunter – essen war für mich schon damals eine Leidenschaft, der man jeglichen Anstand opfern musste.

      Brigitas Mutter hatte vor dem Schlafengehen tiefschwarzen, feuchten Mohnkuchen gebacken. Aufgerissener Himmel und ein Hauch Engel. Hohelied der Mutterliebe. Ein Funken Ekstase in der Nase. Und Gott legte sich auf meiner Zunge schlafen.

      Am nächsten Morgen sprach Brigitas Mutter kein Wort und war nicht in der Lage, mir in die Augen zu schauen – und ich erkannte die Wachsamkeit einer Köchin, die jedes Stück auf ihrem Blech zählte, da sie es gewohnt war, mit knappen Mitteln eine grosse Familie zu füttern. Und während der folgenden Tage trug sie unaufhörlich auf: Fleisch, Schinken, Gurken, Tomaten, Brot, Butter, Knödel, Spätzle, Kohl, Würste und Eier. Und diesen Mohnkuchen vom Blech. Brigitas Mutter kochte von morgens bis abends und stopfte mich mit ihren wunderbaren Gerichten voll, als wolle sie ihre Fähigkeit, alle ihr anvertrauten Lebewesen ausreichend zu ernähren, unter Beweis stellen.

      Und ich, schuldig gesprochen, konnte das bitter vom alltäglichen Mund abgesparte Essen nicht zurückweisen. Denn für Menschen ist es eine Demütigung, wenn das, was sie zu geben bereit sind, zurückgewiesen wird – das hatte ich, obwohl noch sehr jung, instinktiv begriffen. Ich war also verpflichtet, diese kostbare Nahrung bis zum Überdruss zu vertilgen, um die Beziehung von Brigita und Pauline nicht zu gefährden. Nach drei Tagen gab ich auf und fuhr, ohne mich zu verabschieden, nach Prag. Rief Pauline aus einer Telefonzelle im Bahnhof an: Ihr blieb nichts anderes übrig, als mich nach Hause zu holen.

      Brigitas Mutter besiegte mich, eine verwöhnte Göre, und meine herrische, selbstbewusste Grossmutter mit ihrer Kochkunst und ihrem verletzten Stolz.

      Und Pauline sprach während dreier Wochen kein Wort mit mir, sie machte sich nicht einmal die Mühe, meine Version der Geschichte sich anzuhören.

      Und ich wollte die Teetasse an die Wand schmettern. Stattdessen lächelte ich und dachte: Na? Immerhin! Langweilen tut man sich nicht.

      Du, liebe Janika, hast hingegen voller Wut die Suppenteller im Wohnzimmer deiner Eltern zerdeppert. Linsensuppe ist es gewesen. Die Teller noch halbvoll. Braune Linsensuppe mit viel Knoblauch. Und Speck. Ja, dein Vater isst heimlich Speck. Shwejn in Shtejn!

      Liebste Janika. Antworte mir nicht. Du hast so viel zu tun. Deine Aufmerksamkeit beim Lesen meiner Briefe reicht mir vollständig aus.

      Aber lass mich wissen, wie es dir geht.

      Kann dir Diogo Arbeit beschaffen? Ich schreib ihm. Er soll für eine Anstellung in der Gewerkschaft sorgen. Sie brauchen immer wieder durchsetzungsfähige und intelligente Leute.

      Und ich will wissen, wie der Bescheid vom Migrationsamt ausfällt.

      Liebe dich.

      Deine Selma

       25. Juli. Košice

      «Der Angriff auf die Würde und Entscheidungsfreiheit eines Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus liegt in der Erhöhung des psychischen Drucks. Es werden ihm zwar keine unmittelbaren Schmerzen und Leiden zugefügt, aber die durch die Dauer der Massnahme geschaffenen unerträglichen körperlichen und psychischen Belastungen zwingen ihn zu einem bestimmten Handeln. Dieser Angriff wird in voller Absicht und mit kühler Berechnung geplant und ausgeübt.» Notat von Pauline Einzig

      Thread 1: «I was in the very lovely City of Košice. After that I visited the very exciting Lunik 9. Unforgettable highlight of your trip!»

      Thread 4: «In einer Siedlung wie Lunik 9 wohnen mehr als 7.000 Roma. Die Häuser sind verwahrlost, platzen aus allen Nähten, die Fenster sind kaputt – alles zerfällt. Keine Abfallentsorgung.»

      Thread 3: «Die dicke Beamtin an der Grenze zur Ukraine lässt uns zehn Stunden warten. Das ist höchst amüsant, denn sie hat keine Chance und muss uns schliesslich fahren lassen. Schlimm sind aber die widerlichen Zigeuner, die während der Wartezeit an den offenen Zugfenstern betteln.»