Название | Wie die Milch aus dem Schaf kommt |
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Автор произведения | Johanna Lier |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038670476 |
Umarme Joel mit deinen bärenstarken Armen, bis er keine Luft mehr bekommt!
Deine Selma
22:00: «Selma. Bist du da? Will dich anrufen!»
22:15: «Sami, mon cher. Weisst du, was die Leute in der Ukraine sagen? Ein gebrochenes Herz ist ein unversehrtes Herz.»
22:17: «Selma. Will dich anrufen!»
22:45: «Du hast gesagt, deine Heimat ist das Bett, weil es da alles gibt, was du brauchst: Ruhe, Wärme, Träume, Gedanken, Bücher, Musik, Filme, Telefon, Essen, Trinken und hin und wieder Selma. Und Zeit. Zeit für so viele Details. Sie sind die Seele einer Geschichte und die Bausteine unserer Existenz.»
22:47: «Wo bist du? Warum kann ich dich nicht erreichen?»
22:49: «Friedrich Nietzsche hat geschrieben: Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat! Du hast dein Bett. Und ich hab meines. Ich will aber unseres!»
23:01: «Selma! Ich warte!»
23:15: «Seit einer Stunde unterwegs, um eine dienstbereite Apotheke zu finden. Mückenstiche überall. Bin hippelig. Eine Fusssohle ist angeschwollen und entzündet. Fürchte mich vor einer Blutvergiftung.»
23:18: «Mitten in der Nacht? Ruf mich sofort an!»
23. Juli. Wien
Liebe Janika
War heute Morgen im Gänsehäufl-Bad an der alten Donau.
Und hab experimentiert. Du lachst mich nun bestimmt aus. Ich halte mich jedoch an deine Prinzipien: Jede Recherche muss ein Selbstversuch sein; ich schaue nicht beobachtend von aussen, nein, ich begebe mich in die Ereignisse hinein und mache mich selbst zum Forschungsgegenstand. Nur eigens gemachte Erfahrungen entwickeln in der Darstellung eine Wirkung, sagst du.
Ich nähere mich den Dingen, nehme sie zur Hand, gestalte sie und eigne sie mir an.
Also, hör mir zu: Ich schwimme im Fluss und beschliesse, Mikwe zu machen. Mit den Armen rudernd versuche ich unter Wasser zu bleiben, was für ein paar Sekunden gelingt, aber es ist unbefriedigend, ich wiederhole den Versuch und konzentriere mich auf die Frage, was denn abgewaschen werden soll – die Badenden rundherum schauen irritiert.
Weiter oben im Fluss tauche ich mit aller Kraft unter, stosse mich mit einem heftigen Zug in die Tiefe, lasse mich bewegungslos treiben und ein klarer Gedanke steigt auf: Es muss abgewaschen werden, was weg muss, auch wenn ich nicht weiss, was es ist. Mich auf das Ritual der Reinigung einzulassen, ist meine Entscheidung, und was dabei weggeht, das überlasse ich einer klügeren Instanz. Nach dem Auftauchen platzen fast die Lungen, ich keuche, japse und huste – das kann Mikwe nicht sein.
Bevor ich an Land gehe, atme ich tief ein, löse die Füsse vom sandigen Grund und lasse mich schwer in die starke Umarmung der Strömung fallen, sinke und sinke, bloss der Kopf, der verdammte Kopf bleibt wie ein aufgeblasener Luftballon über der Wasseroberfläche, ich atme aus, langsam, kräftig atme ich aus, nun sinkt auch der Kopf, dieses bewusste Untertauchen fühlt sich unangenehm an, ich will ja nicht tot sein. Ich stosse die restliche Luft aus, der Strom aus meinen Lungen ist stärker als der Wasserdruck und bricht den Flusswiderstand, ich schaukle wie ein Embryo und richte die Aufmerksamkeit auf diese klügere Instanz, die weiss, was abgewaschen, was weg muss: die Auflösung meines bisherigen Lebens in bruchstückhaften Bildmontagen.
Die Welt steht still. Wind verfängt sich in den Bäumen. Ich beobachte die im seichten Wasser stehenden und plaudernden Frauen. Und erkenne plötzlich die Gleichförmigkeit junger, attraktiver Körper und die einzigartige Verformung eines jeden einzelnen älteren Körpers. Die Details dieser nackten Menschen lösen Begehren aus: Ich schaue den unbekannten Mann an und setze mich auf seinen braunen Schwanz, der sich an der Eichel bläulich verfärbt, ich spüre die grünen Augen der Frau, die Cola trinkt, auf Brüsten und Bauch, ich streiche mit der Hand über den rundlichen Rücken und Po ihrer Freundin und dringe mit den Fingern von unten ein, kühle Luft auf der Haut. Bis in jede Falte. In jede Öffnung.
Sami hat erzählt, während seiner ersten Jahre in Marseille sei er jeden Freitag an den Strand gefahren und habe übers Meer geschaut. Sass auf dem Felsen und starrte in die Ferne.
In den Libanon hinein.
Liebe Janika, ich umarm dich.
Selma
24. Juli. Wien – Košice
Liebe Janika
Passagiere schlafen, essen Snacks aus Plastiktüten, reden leise, lesen, lösen Sudokus, Kinder zeichnen, eine ältere Frau tuscht sich wiederholt die Wimpern, die Farbe hängt klumpig an den Lidern, eine Roma-Mutter kämmt ihrer Tochter das lange Haar und flicht Zöpfe, lässt sich von ihrem Mann die Schultern massieren, zärtlich sind sie, aber warum schreibe ich Roma-Mutter, nicht einfach nur Mutter, und erwische mich beim Gedanken: Seht hin! Roma! Sie sind liebevoll, sie sind freundlich. Warum hasst ihr sie?
Ja, erst vor dem Hintergrund ihrer Herkunft und der gesellschaftlichen Situation entfaltet ihr familiärer Umgang seine besondere Wirkung.
Damit du mir wütend auf die Hände schlägst, fahre ich dir in deine Haarpracht. Die sich nicht einfach so in einem Eisenbahnabteil entwirren und kämmen liesse, da sie alle Anwesenden unter sich begraben und ersticken würde. Wer trägt heute noch hüftlanges Haar? Wer macht sich heute noch die Mühe, in langwieriger Arbeit diese Fülle zu komplizierten Frisuren zu knüpfen? Allein diese Befestigungstechniken! Mittelalterliche Architektur. Du würdest hier auffallen. Als eine dem Film entsprungene rotblonde Kleopatra läufst du schnell und leicht durch die Gänge und wirfst dich dem schönen jungen Mann, der mir gegenübersitzt, lachend an die Brust.
Durch schmutzige Fensterscheiben sehe ich buttrige Sonnenblumenfelder, helles Weizenland, Strohballen, Vogelschwärme. Am Horizont eine Bergkette, die Polen von der Slowakei trennt. Bin schlecht gelaunt. Die Unbehaustheit kriecht wie müde Fliegen den Magenwänden entlang und die versteckten Blicke der Leute setzen sich auf meine Haut, stechen zu, spritzen Gift und saugen. Blut. Das innere Bild vom Zweck meiner Reise bricht weg.
Das Wissen um die Distanz zum Abfahrts- wie auch zum Ankunftsort provoziert Unruhe und Ängste, das Gefühl einer sinnhaften Kontinuität kommt mir abhanden. Warten – bis man sich in Bewegung setzt. Warten – bis man irgendwo weg kann. Warten – bis man anderswo ankommt. Warten – nicht als gefühltes Verstreichen von Zeit. Warten – als Ausblenden von Zeit. Meine Uhr steht still. Ich zerlege sie in ihre Einzelteile, verstehe aber nicht, wie ich sie wieder zusammensetzen kann.
Die Gedanken verlassen ihre Bahnen. Verborgenes arbeitet sich an die Oberfläche. Vielleicht äussert sich noch ein Rest Text im Unterleib. Nachts. Und in Träumen. Tagsüber Hunger, Durst, Notdurft und Müdigkeit.
Trockenheit oder Nässe, Hitze und Kälte sind übriggebliebene Wörter in dieser reduzierten Rede vom Sein im Nichtsein, wobei ich jetzt von den Flüchtlingen rede, der schwarzen Hannah, dem schweigsamen Jankel, von Ossip und Ruthchen. Ich sehe sie vor mir, wie sie Kräuter, Wurzeln und Nudeln ins kochende Wasser werfen, vielleicht – kostbar, unendlich kostbar – eine Prise Salz dazu, und wie sie Nudelsuppe schlürfen.
Hatten sie Löffel und Näpfe dabei?
Liebe Janika, deine Hände schossen hoch und deine dunkle Stimme las mir die Leviten: «Pauline plante deine Reise von langer Hand. Nun sitzt sie irgendwo, beobachtet dich Tag und Nacht und lacht sich kaputt. Sie hat diese Kiste nicht einfach so unter ihrem Bett zurückgelassen.»
Und ich schaute dich an und fragte mich, ob es deine Absicht war, mich von dieser Reise abzuhalten, oder du einfach Lust hattest, die Frequenzen deiner Stimme in der Brust und die Substanz deiner Worte auf der Zunge zu spüren. Sprechen ist ein körperlicher Akt – wie Sex, wie essen, wie kacken, wie schlafen –, hast du gesagt. Und du geniesst ihn.