Wie die Milch aus dem Schaf kommt. Johanna Lier

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Название Wie die Milch aus dem Schaf kommt
Автор произведения Johanna Lier
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783038670476



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mit meinen vorauseilenden Schuldgefühlen und dem ungeduldigen Wunsch, mich zu entschuldigen, nicht mithalten konnte, und von Weitem sah ich Paulines Gestalt, die auf der Bank vor der Hütte sass.

      Sie umarmte und wiegte mich. Ich spürte ihre nasse Wangenhaut, hörte ihren stockenden Atem und fühlte den Druck ihrer starken Arme. Und dieses überraschende Liebesglück – in einem Film wäre es ein Happy End gewesen, in unserem Leben war es eine Episode – entschädigte mich für anstrengende Wanderungen unter stechender Sonne, Muskelkater, Mückenstiche, für einsame, stille Nächte, in die jedes Geräusch einschlug wie eine Bombe, furchterregende Gewitter, sterbenslangweilige Blaubeer- und Pilzernten, harte, trockene Kuchen, körnig-käsige Polenta mit verbrannten Zwiebeln und Kartenspiele mit einer Pauline, die ärgerlich die Karten weglegte, wenn sie verloren hatte.

      Meine Grossmutter litt an Depressionen.

      In den Bergen war sie traurig, weil die Steilwände das Fabulieren nicht erlaubten. Zu schnell waren die Täler überfüllt. Und die Berge in der Schweiz erinnerten sie an die Berge in Chile.

      In der Kiste mit den drei goldenen Elefanten fand ich ein Bild von Marielouise auf einem Pferd. Sie trägt elegante, modische Grossstadtschuhe aus Schlangenlederimitat und eine taillierte rote Lederjacke. Eine weit ausgeschnittene grüne Bluse und – du wirst es nicht glauben – einen rosafarbenen Rock. Sie sitzt lächelnd, hoch aufgerichtet und so unpassend gekleidet auf dem braunen Pferd, das schläfrig in die Kamera blickt. Im Hintergrund eine raue Berglandschaft, grobe Felsbrocken, Wasserrinnsal im Geröll.

      Eine Hütte. Rauch über dem rostigen Rohr.

      Es ist verwirrend. Ich weiss, dass Marielouise nicht in Chile ist. Nicht in Chile sein kann.

      Und dann ist plötzlich so eine Fotografie da.

      Du, liebe Janika, wusstest hingegen, wie man die Öfen und den Herd anfeuert. Wie man heizen und kochen kann, ohne die Luft in Paulines Hütte mit Rauch zu vergiften. Man musste lediglich das Feuer in allen Öfen gleichzeitig zünden. Mit deiner Fähigkeit, dauernd in Bewegung zu sein, brachtest du dieses Kunststück zustande. Und du warst eine hervorragende Holzhackerin. Mit gesenktem Kopf liessest du das Beil mitten ins Holz fallen: Zack! Nicht mal Joel durfte ran.

      Diese Tage mit dir, Diogo und Joel. Stundenlang wanderten wir durch die Wälder und bestiegen die Berge. Und ich war so glücklich, wenn Joel jubelnd über die Steine hüpfte, sich ins Wasser wühlte, literweise Sonne soff und kreischend mit den Schmetterlingen Hula-Hopp spielte. Und die Pfiffe der hysterischen Murmeltiere. Diogo liebte es, sie zu erschrecken. Zu Joels grosser Freude verfiel er in ekstatische Bockstänze und stiess schrille Schreie aus.

      Eines Tages jedoch kündigte Joel den Vertrag. Er mochte die Hütte, die Berge, das Wandern und die Schmetterlinge nicht mehr.

      Es tue ihm leid, aber er verspüre keine Lust, mir das Gefühl zu geben, eine gute Mutter zu sein: «Geh mit Pauline oder Janika. Lass mich in Ruhe.»

      Als ich ein Kind und mit Pauline allein in der Hütte war, las ich unter der blau-weiss gewürfelten Bettdecke ein Buch nach dem anderen.

      Und dieser Brandgeruch.

      Immerzu dieser Brandgeruch. Für Pauline, die das Wort aschen liebte: dein goldenes Haar, Margarete. Dein aschenes Haar, Sulamith: Paul Celans Todesfuge. Die grossartigste lyrische Abrechnung mit der Schoa. Hat sie gesagt.

      Johann Wolfgang von Goethes Gretchen und Heinrich Heines Loreley, allesamt deutsch, blond und golden, die Sulamith aus König Salomons Schir Ha’Schirim ist orientalisch und aschen gewesen und in Auschwitz verbrannt worden oder hat überlebt, aber ist nun für immer grau und noch viel grauer in der Seele, so etwas vererbt sich über Generationen hinweg, diese Verfärbung der Seele, wiederholte Pauline immerzu. Und ich wollte die ursprüngliche, noch unversehrte Sulamith aus dem Lied der Lieder zurück, deren glänzendes Haar in Locken über den Rücken fiel und die wunderschön gewesen war und in den Granatapfelgärten in den Hügeln Samarias sich der Liebe hingab, und meine Kinderseele verabscheute diesen Celan, der auf dem Wort aschen und auf Auschwitz beharrte, wenn er doch ebenso melonenkernschwarz und Granatapfelgarten hätte hinschreiben können.

      Ich hingegen liebte historische Abenteuerromane: Angélique! Die wild, ungezähmt und bildschön, als Tochter eines verarmten Landadeligen aus dem 18. Jahrhundert gegen ihren Willen mit einem älteren, reichen Junker verheiratet, sich überraschend in den schweigsamen Mann, der gehbehindert und mit einem tyrannischen Charakter gesegnet ist, jedoch einen brillanten Geist, Humor und eine leidenschaftliche Liebesfähigkeit besitzt, unsterblich verliebt: Joffrey!

      Doch kurz nach der Heirat zum Tod verurteilt und hingerichtet hinterlässt er seiner jungen Witwe nicht genügend finanzielle Mittel zum Überleben. Angélique bricht auf. Vor ihr liegt ein Weg voller Abenteuer und Prüfungen, der sie auf vier Kontinente und die Leserin durch zehn dicke Wälzer führt.

      In Paris lebt sie als Wirtin einer übel beleumundeten Kneipe unter Ganoven und Bettlern, zieht ihre Kinder auf, zählt Dichter und Revolutionäre zu ihren Liebhabern, steigt am Hof des französischen Sonnenkönigs in den Rang der Favoritin und Geliebten auf, flüchtet vor Intrigen und Mordanschlägen übers Meer und wird von Piraten entführt.

      Aufgrund politischer Wirren und launischer Winde, die das Schiff übers Wasser treiben, wird sie zu guter Letzt in den Harem des Sultans von Marokko verkauft.

      Zurück in Europa gerät Angélique im Zuge der Religionskriege zwischen die Fronten der Katholiken und der Protestanten, landet erneut auf einem Schiff und im Bett eines Piraten, der sie in die Neue Welt bringt. Meine Heldin stellt sich selbstbewusst und unerschrocken allen Schwierigkeiten und muss sich doch immer wieder hilflos in die Arme und den Schutz eines mächtigen, einflussreichen Mannes begeben.

      Nicht zu vergessen die quälenden Schuldgefühle! Im Sturm der Ereignisse sind Angélique ihre Muttergefühle und ihre Kinder schlicht abhandengekommen.

      Pauline jedoch starrte aus dem Fenster und sagte: «Deine Mutter wollte sich nicht durch Ehe und Mutterschaft einsperren und frustrieren lassen. Und doch fürchtete sie sich vor Einsamkeit und Verbitterung. Deshalb hatte sie ständig neue Liebhaber, die sie alle auf Distanz hielt. Und wo ist Marielouise jetzt? Wo ist deine Mutter?»

      Sie goss Tee aus der mit Blümchen verzierten Porzellankanne, führte die Tasse an die geschürzten Lippen, die sich gegen die Zumutung der Hitze wappneten, trank mit kleinen Schlucken und hielt eine Hand unters Kinn, um den Pullover aus Kaschmirwolle vor herunterfallenden Tropfen zu schützen – das kostbare Stück, das sie auch in den Bergen, in der verrauchten Almhütte trug –, setzte die Tasse ab, ein leises Klacken, Porzellan auf Porzellan, und befahl, ohne den Blick vom Fenster zu wenden: «Lass es! Hör auf, solchen Mist zu lesen!»

      Und ich dachte darüber nach, was Pauline über meine Mutter Marielouise gesagt hatte.

      Ja, was nun?

      Der Unterschied zwischen dem erfolglosen Verhindern von Unglück und dem vergeblichen Streben nach Glück entzog sich mir – und ich wusste nicht, was Pauline mit ihrer Rede bezweckte.

      Ich beobachtete, wie sie den Duft einer geschälten Mandarine einsaugte und die Schale in kleinste Stückchen zerkrümelte, und konnte den Blick nicht von ihrem schönen Profil abwenden, schaute auf den schlanken Hals, die aufrechte Kopfhaltung, roch den würzigen Duft des zimtbraunen Rollkragenpullovers. Fischreiher. Sie erinnerte mich an einen Fischreiher. Ein leiser Widerwille stieg mir in die Kehle.

      Und ich las weiterhin meine Kitschromane.

      Drapierte mich vor Paulines Augen im Sessel, das Haar im Gesicht, liess langsam die Beine heruntergleiten, spreizte sie, scheinbar völlig unbewusst, und wenn Paulines Blick sich genügend in mich gebohrt hatte, hob ich, irritiert über diese strafende Aufmerksamkeit, unwillkürlich den Kopf, schloss hastig die Beine, lächelte schuldbewusst, wendete mich ab und vertiefte mich erneut in das Buch.

      Ein kleines Mädchen tanzt. Die Arme ausgebreitet, die Hände geöffnet dreht es sich um sich selbst, stampft mit den Füssen. Den Kopf in den Nacken geworfen lacht es selbstvergessen, die Haare fliegen – plötzlich wendet es mit einer impulsiven Bewegung der Kamera den