Название | Wie die Milch aus dem Schaf kommt |
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Автор произведения | Johanna Lier |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038670476 |
Als ich dich nach deinen ersten Erinnerungen gefragt hab, hast du starr geschaut und abgehackt erzählt, eher aufgezählt: festgestampfte Erde, braune Schaumstoffmatratze, Mutters rosafarbenes Kleid mit grünen Blumen, was dich erstaunt hat, weil draussen im Garten die Gräser und Büsche, aber nicht die Blumen grün waren, roter Plastikbecher mit weisser Milch, scharfe Schafsmilch, Glut auf Steinen, blau, violett, orange, und die Flammen, die am geschwärzten Holz lecken, langsam lecken und zucken, waren gelb, wie meine Zunge in dir, hast du gesagt, wie meine Zunge auf dir. An dir. Ich leck dich, bis du verkohlst.
Wir liegen auf der schmalen Couch, eng umschlungen. Ich schaff es nicht abzutauchen. Muss neue Positionen suchen. Noch enger. Noch inniger. Und dann ist es zu heiss. Zu wenig Luft. Mein Körper aufgelöst in deinem. Der Kopf hellwach, aufgeladen, angespannt.
Und du sagst: «Sorge dich nicht. Alles kommt gut.» Ich bekomme einen Lachanfall. Es passiert einfach, und danach meinen Schluckauf. Jedes Mal diesen lästigen Schluckauf.
Unterhalb der Eisenbahntrasse, in der Schlucht, ein schwarzer Fluss. Der Zug hält in einem kleinen Dorf, von dem ich noch nie etwas gehört hab. Bruggen in St. Gallen. Blutfarbene Schindelhäuser. Wein und Kerbel. Überall Pflanzen. Es ist alles so unglaublich verpflanzt.
Früher sind sie gewandert oder auf dem Pferdewagen gefahren. Sie hatten das Wetter auf der Haut und die Gerüche in der Nase. Geräusche haben sich genähert und wieder entfernt. Ich jedoch sitze im klimatisierten Zug. In einer geschlossenen Metallkapsel dringen wir in die Landschaft ein, die Lüftung neutralisiert die Gerüche und die Temperaturen, übernächtigt schaue ich auf den Landschaftsfilm, der vor meinen Augen vorbeiläuft, unberührt, was eine Sehnsucht auslöst, aber nur schwach, mir schiesst der Gedanke durch den Kopf: Fehlende Sinneswahrnehmungen bedeuten den Verlust von Gefühlen und Erinnerungen.
Aber es ist schön. Unzweifelhaft schön. Es würde dir gefallen.
Du liebst die Erinnerung an die Mandelbäume und die Schafe. Und die Blüten. Überall Blüten. Du bräuchtest einen Traktor, um die Felder am Fuss des Bergs Hermon umpflügen zu können. Obwohl ich mittlerweile herausgefunden hab, dass dein Dorf nicht am Fuss des Bergs Hermon, sondern viel weiter im Süden liegt. Du lügst. Und manipulierst. Wie Pauline. Sie hat das dauernd getan. Sagt auch Joel.
Joel. Mein Joel.
Weisst du noch, wie wir uns eine Kinderschar ausgedacht haben? Unsere Kinder. Die du nicht willst. Unsere Kinder, die du aufziehen würdest, wie Pauline es getan hat: Fleissig und erfolgreich müssten sie sein und gut angepasst und dennoch stolz auf ihre Herkunft und Traditionen, all das, was die Umgebung ablehnt und verachtet, hegen und pflegen, AUFRECHTERHALTEN, genau so. Du und Pauline. Ja, es ist dieses Herdfeuer, die langsam leckende und zuckende Flamme, die scharfe Milch im roten Plastikbecher, an die du dich erinnerst. Ich mich jedoch nicht! Und so bist DU aus meiner verlorenen Vergangenheit herausgetreten, so bist DU all das, woran ich mich laut Pauline erinnern soll.
Wir überqueren den Rhein. Bald erreichen wir Bregenz.
Am Horizont, im Dunst, Silhouetten hoher Berge. Davor flaches, fruchtbares Land. Kleine Einfamilienhäuschen. Putzig. Sauber. Geordnet.
Mein Handy meldet, ich sei nun in Österreich. Keine Grenzkontrollen.
Vier junge Frauen vertilgen Berge von Croissants – ihr Vorrat und die Krümel sind unermesslich – und lesen Gratiszeitungen. Wie du. Langsam kauen und Gratiszeitungen lesen. Akribisch. Zeile um Zeile.
Wie du mir fehlst.
Meine Hände sind unruhig. Du magst es nicht. Und bittest mich, damit aufzuhören, an mir selbst herumzufummeln. Warum?
Mein Körper ist dein Körper.
Vergiss. Vergiss mich. Vergiss mich nicht.
Deine Selma
Lieber Diogo
Das Gepäck: Schokolade (Geschenke). Bücher. Ordner. Papiere. Kabel für Elektrogeräte. Laptoptasche. Laptop. Fotokamera. Videokamera. Sonnenbrille. Lesebrille. Agenda. Ausweise. Geldbeutel. Kulturbeutel. Kleider.
Schattenlose Strassen in Hohenems. Auf der Suche nach einem Restaurant: Bin ans Gepäck gebunden – der Koffer rollt schwer und kippt vom Bürgersteig, hängt an einem herausragenden Stein, einer Rille oder steckt in einem Loch –, der Rucksack wie ein klammerndes Affenbaby.
Wie oft trug ich Joel auf dem Rücken.
Nacken und Schultern hart, Hitze auf dem Gesicht, auf der Brust, am Rücken, am Bauch und in der Hose dieses klebrige Gefühl – wie Bettnässen. Vergeblich versuche ich, den Gedanken an frischen Wind, kaltes Bier oder den klimatisierten Zug wegzuschieben.
Und an unsere kühle, dämmrige Wohnung: Pauline hörte Radio und flickte mit ihrer Singer-Maschine alte Küchentücher, alles geflickt, immerzu hat sie alles gestopft und zugenäht und Zigaretten geraucht. Joel trug auch im Wohnzimmer seine Kopfhörer und besetzte während Stunden das Bad.
Ach! Joel!
Ich weiss, du fühlst dich schuldig, weil Joel bei dir ist, was dich glücklich macht, so wahnsinnig glücklich. Aber du hast Angst gehabt – schreist mich wegen Nichtigkeiten an, hörst nicht zu, legst grusslos auf oder läufst weg, ohne zu wissen wohin, läufst einfach weg –, deine Angst, ich rieche sie, ich fühle sie wie meine eigene – du hast Angst gehabt, ich könnte mich umentscheiden, die Reise absagen, die dir so überspannt erscheint, wie dir meine Familie schon immer ein Ärgernis gewesen ist – das kann ich verstehen –, du hast Angst gehabt, ich könnte alles abblasen und sagen: Joel! Bleibt bei mir!
Durst. Mir ist übel. Es fühlt sich unangenehm an. Wie zu laute Musik. Und doch rede ich mir ein, wie schön alles ist, wie aufregend: ein Abenteuer. Ein neues Leben. In Freiheit. Und vollständig auf mich gestellt.
Du und ich. Wir waren Freunde. Erwarteten ein Kind. Und ich hatte nicht den Mut, Pauline zu enttäuschen. Und den Gedanken an ein gemeinsames Leben – du und Pauline unter einem Dach – sprachen wir nicht aus. So undenkbar! So UNMÖGLICH! Ihr hättet euch umgebracht.
Du hattest in meinem Bauch ein Geschenk hinterlassen. Und ich kehrte zu Pauline zurück.
Was für mich das flimmernde Phantom einer alten, verbitterten Frau, ist für dich gelebte Realität einer grossen Familie: essen, trinken, schlafen, reden, lachen, streiten, schreien, seinen Platz kennen, seine Rolle spielen, nicht allein sein, ja, nicht allein sein, das ist wichtig, nicht allein sein, und deine Mutter trägt den Ziegenbraten (Cabrito Assado no Forno) vom Hof deines Cousins, mit Olivenöl (Azeite) aus dem Hain deines Grossonkels und dem Rosmarin (Alecrim) vom Balkon deiner Tante in der Kasserolle, die dein Vater in der Autowerkstatt deines Onkels zusammengeschweisst hat, ins Wohnzimmer, stellt ihn schwer atmend auf den Tisch, auch den mit Pinienkernen (Pinhões) von der Cousine bestückten Reis (Arroz), und keinem der Männer fällt der Schweiss auf, der ihr ins aufgesteckte Haar rinnt. Sie ist die Einzige, die an diesem verfluchten Sonntag etwas tut.
Da ist Paulines offene Marielouise-Wunde ein Dreck dagegen.
Sie zog Marielouise und später mich und Joel allein auf. Nun ist sie tot.
Und Joel bei dir.
Nicht weil wir oder die Umstände es erzwingen. Nein. Weil er es will.
Ich sehe dich vor mir, wie du die Schultern hochziehst, dich innerlich zur Faust ballst, versuchst, dich zu beherrschen, um Joel nicht anzubrüllen, ihn deiner Hilflosigkeit nicht auszusetzen, denn du bist von der Integrität der Kinder, von ihrem Recht auf eine eigene Persönlichkeit überzeugt,