Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Hervé Guibert

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Название Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat
Автор произведения Hervé Guibert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941360921



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Fieber geschüttelt, den ganzen Leib voll geschwollener Lymphknoten, und dass man im Universitätskrankenhaus unablässig Untersuchungen an ihm vorgenommen hatte, die zu nichts führten, bis man ihn schließlich nach Hause schickte. Während ich die grautrübe Pariser Vorstadtlandschaft hinter den Fenstern des Taxis, das mir wie ein Krankenwagen vorkam, vorüberziehen sah, und weil Jules mir eben die Symptome beschrieben hatte, die man allmählich mit der rätselhaften Krankheit verknüpfte, sagte ich mir, dass wir beide Aids hatten. Das änderte alles, augenblicklich, diese Gewissheit ließ alles, mitsamt der Landschaft, umkippen, und das lähmte mich zugleich und verlieh mir Flügel, nahm mir die Kraft und verzehnfachte sie, ich hatte Angst und war berauscht, ruhig gleichzeitig und zu Tode erschrocken, vielleicht hatte ich endlich mein Ziel erreicht. Natürlich gaben die anderen sich Mühe, mir meine Überzeugung auszureden. Zuerst Gustave, dem ich mich noch am selben Abend telefonisch anvertraute und der mir skeptisch von München aus riet, ich solle nicht aus einer schlichten Panik heraus urteilen. Dann sagte mir Muzil, bei dem ich Tags darauf zu Abend aß, und der sich selbst in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium der Krankheit befand, ihm sollte weniger als ein Jahr zu leben bleiben: „Mein armes Häschen, was willst du dir denn noch alles einbilden? Wären alle Viren tödlich, die in der Welt herumreisen, seit Charterflüge in Mode gekommen sind, dann wäre dieser Planet doch so gut wie entvölkert.“ Das war zu der Zeit, da über Aids die fantastischsten Gerüchte kursierten, die aber damals doch glaubwürdig schienen, so wenig wusste man noch über Art und Wirkung dessen, was noch nicht als Virus erkannt war, als Lenti- oder Retrovirus, ähnlich dem, der sich in Pferden verbirgt: Man fange ihn sich, indem man Amylnitrit schnüffelt, das auf einmal außer Gebrauch geriet, oder es handle sich dabei um die Waffe eines biologischen Kriegs, mal von Breschnew abgefeuert, mal von Reagan. Ganz am Jahresende ’83 sagte ich zu Muzil, weil er wieder mit alter Heftigkeit hustete, nachdem er die Antibiotika abgesetzt hatte, deren Dosierung, so hatte ihm ein Apotheker in seinem Viertel versichert, ausreichen würde, ein Pferd krepieren zu lassen: „In Wahrheit hoffst du, Aids zu haben.“ Er warf mir einen Blick zu, finster und voll herrischen Gleichmuts.

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      Kurz nach meiner Rückkehr aus Mexiko brach tief in meinem Hals ein monströser Abszess auf, hinderte mich am Schlucken und bald daran, überhaupt Nahrung aufzunehmen. Ich ging nicht mehr zu Dr. Lévy, dem ich vorwarf, meine Hepatitis nicht sorgfältig behandelt zu haben und all meine Leiden auf die leichte Schulter zu nehmen, vor allem jenes hartnäckige Seitenstechen rechts, das mich Leberkrebs befürchten ließ. Dr. Lévy starb bald darauf an Lungenkrebs. Ich hatte ihn durch einen anderen Arzt aus der Inneren Klinik, die mir Eugénie empfohlen hatte, ersetzt, Dr. Nocourt, den Bruder eines Kollegen aus der Zeitung. Indem ich ihm keine Ruhe ließ und ihn wegen jenes Seitenstechens mindestens einmal pro Monat aufsuchte, setzte ich ihm so zu, dass er mir schließlich die Verschreibungen für alle nur möglichen und erdenklichen Untersuchungen aushändigte, darunter natürlich die Blutuntersuchung, mit der mein Transaminasespiegel kontrolliert wurde, aber auch eine Echografie, in deren Verlauf ich, während ich gemeinsam mit ihm auf den Monitor schaute und er meinen eingeschmierten Bauch, das Gewölk meiner Eingeweide, mit seinem Ultraschallabnehmer abtastete, den Arzt beschimpfte, dessen Blick während der Untersuchung mir zu kalt, zu unbeteiligt erschien, um nicht irgendeine Verheimlichung zu verbergen, ich bezichtigte seinen Blick der Lüge, bis meine Verdächtigungen ihn in Gelächter ausbrechen ließen und er mir sagte, man sterbe selten mit fünfundzwanzig an Leberkrebs, schließlich eine Urografie, eine fürchterliche Prüfung, gedemütigt lag ich nackt, länger als eine Stunde, man hatte mich nicht einmal über die Dauer dieser Untersuchung informiert, auf einem eiskalten Metalltisch, unter einem Glasdach, durch das mich Handwerker, die auf einem Dach arbeiteten, sehen konnten, außerstande, irgend jemanden zu rufen, denn man hatte mich vergessen, mit einer dicken Nadel, die man mir in die Vene gerammt hatte und die eine bläuliche Flüssigkeit in mein Blut einströmen ließ, was es zum Sterben erhitzte, bis ich endlich hinter dem Wandschirm die Ärztin kommen hörte, die zu einem Kollegen sagte, sie habe die Gelegenheit genutzt, unten ein Steak zu kaufen, und die ihn über den Urlaub befragte, den er kürzlich auf Réunion verbracht hatte, es stellte sich heraus, dass diese Nachforschung endlich etwas ergeben hatte, was mich erleichterte und enttäuschte zugleich, denn Dr. Nocourt teilte mir mit, es handle sich um eine äußerst seltene, doch vollkommen gutartige Erscheinung, die ihm in den dreißig Jahren seiner Tätigkeit noch nicht untergekommen sei, eine wohl angeborene Missbildung der Nieren, eine Art Becken, in dem sich Kristalle ablagern, die dieses Seitenstechen verursachen können und die mir der Urologe durch massive Gaben von Sprudel und Zitronensaft vom Hals schaffen wollte. Bevor ich mich jedoch einem fanatischen Zitronenkonsum hingeben konnte, hörte das Seitenstechen, dessen Ursprung ich ja nun kannte, auf, und ich war auf einmal, für sehr kurze Zeit, wie ein Idiot, völlig schmerzfrei.

      16

      Mittlerweile hatte Eugénie mir geraten, Dr. Lérisson aufzusuchen, einen Homöopathen. Marine und Eugénie waren nach Dr. Lérisson völlig verrückt. Eugénie verbrachte ganze Nächte in seinem Wartezimmer, mitsamt Gatten und Kindern, in Erwartung eines unverhofften Termins, umgeben von mondänen Damen und Pennern, denn Dr. Lérisson rechnete es sich als Ehre an, Comtessen tausend Francs pro Konsultation zu berechnen und die gleiche Zeit Landstreichern zu widmen, ohne einen Pfennig dafür zu nehmen, dabei starrte Eugénie, bis sie Halluzinationen bekam, die Tür des Behandlungszimmers an, durch die manchmal, gegen drei Uhr früh, mit einer schlaffen Handbewegung Dr. Lérisson die ganze kleine Familie, alle bei vollkommener Gesundheit, hindurchschleuste, woraus sie mit Rezepten für zehn gelbe Gelatinekapseln von der Größe eines Schokoriegels, die sie jeweils vor den Mahlzeiten schlucken sollten, dazu für fünf rote Gelatinekapseln mittlerer Größe, sieben blaue Pillen und einen Haufen Kügelchen, die sie unter der Zunge auflösen sollten, wieder auftauchten. An dieser Medikation wäre Eugénies Sohn fast krepiert, als er eine schlichte Blinddarmentzündung hatte, Dr. Lérisson ist gegen hartes Vorgehen, chirurgische Eingriffe oder chemische Behandlung, er vertraut dem Gleichgewicht der Natur und Kräuterwickeln, und schon hatte sich Eugénies Sohn eine Bauchfellentzündung eingehandelt, mit diversen Nebeninfektionen als Komplikation, erkennbar an drei aufeinanderfolgenden Schnitten, von denen ihm eine niedliche Narbe blieb, von der Scham bis an den Hals. Marine verkündete mir ekstatisch, Dr. Lérisson sei ein Heiliger, der seiner Kunst alles Privatleben opfere und sogar seine arme Gattin, die sie mit Vergnügen leer ausgehen sah. Als Marine ihn rund drei-, viermal pro Woche aufsuchte, ging sie mitnichten durch das Wartezimmer: Eine Sprechstundenhilfe ließ sie, sobald sie ihre dunkle Brille erkannte, durch eine verborgene Tür in ein Boudoir neben Dr. Lérissons Praxis ein, wo dieser die täuschendsten Experimente für seine berühmtesten Patientinnen bereithielt, welche er nackt in Metallkisten einschloss, nachdem er ihren Leib über und über mit in Kräuterextrakt getauchten Nadeln gespickt hatte, Extrakt von Tomaten, Bauxit, Ananas, Zimt, Patchouli, Rübchen, Lehm und Karotten, denen sie mit weichen Knien, scharlachrot und wie trunken wieder entstiegen. Dr. Lérisson nahm in seiner überfüllten Praxis keine weiteren blinden Jünger an. Dank der außerordentlichen Empfehlungen von Eugénie und Marine wurde mir endlich, nach Unterhandlungen mit einer okkulten Sekretärin, ein Termin für das folgende Quartal gewährt. Ich hatte vier Stunden lang im Wartezimmer geschmort, im Kreise bedrückender Physiognomien, als der unscheinbarste Sprechstundenhelfer der Welt eine Tür öffnete und meinen Namen nannte, ich sagte zu ihm: „Nein, ich habe einen Termin bei Dr. Lérisson.“ – „Treten Sie ein“, sagte er. „Nicht doch“, entgegnete ich, einen Betrug witternd, „ich möchte zu Dr. Lérisson persönlich.“ – „Aber ich bin doch Dr. Lérisson!“ sagte er und schlug ärgerlich hinter mir die Tür zu. Aufgrund der einstimmigen Schwärmereien von Eugénie und Marine hatte ich mir einen Don Juan vorgestellt. Mit einem Blick hatte Dr. Lérisson erfasst, woran es bei mir hing, er kniff mir in die Lippe, starrte meine Lider an und sagte: „Sie leiden an Schwindelanfällen, oder?“ Nach meiner Antwort, die sich von selbst verstand, fuhr er fort: „Sie sind einer der unglaublich spasmophilsten Menschen, die mir je begegnet sind, vielleicht noch mehr als Ihre Freundin Marine, und die ist schon ein ausgeprägter Fall.“ Dr. Lérisson erläuterte mir, Spasmophilie sei nicht recht eigentlich eine Krankheit, übrigens weder organisch noch psychisch, sondern vielmehr ein großartiges Hilfsmittel, das von Kalziummangel dynamisiert und durchaus in der Lage sei, den