Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Hervé Guibert

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Название Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat
Автор произведения Hervé Guibert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941360921



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Arztes, trotz des Bekanntheitsgrades seines Patienten, bislang vor der Gerüchteküche bewahrt habe, unterzog mich jedesmal, wenn er mich untersuchte, in derselben Reihenfolge denselben Prozeduren: Nachdem er mir wie üblich den Blutdruck gemessen und mich abgehört hatte, inspizierte er die Fußsohlen und die Hautritzen zwischen den Zehen, zog dann behutsam den Ausgang der besonders empfindlichen Harnröhre auseinander, dann erinnerte ich ihn, nachdem er mir die Leistengegend, den Bauch, die Achselhöhlen und den Hals unter dem Kiefer abgetastet hatte, daran, dass es zwecklos sei, mir das helle Holzstäbchen hinzuhalten, mit dem meine Zunge seit meiner Kindheit jede Berührung beharrlich verweigert, und dass ich es vorzöge, den Mund bei der Annäherung des Lichtkegels sehr weit zu öffnen und durch eine Kontraktion der Rachenmuskeln das Zäpfchen ganz nach hinten an den Gaumen zu drücken, doch Dr. Chandi vergaß jedesmal, wie viel leichteren Zugang ihm das verschaffte als das glatte, mit mentalen Splittern gespickte Stäbchen, er hatte im Verlauf der Untersuchung nicht nur das Gaumensegel inspiziert, sondern hatte auch, und zwar recht nachdrücklich, als läge es fortan bei mir, durch stete eigene Beobachtung zu kontrollieren, ob sich in dieser Region ein deutliches Zeichen für die Entfaltung der unheilvollen Krankheit eingenistet hat, aufmerksam den Zustand der Schleimhaut in Augenschein genommen, die das oft bläulich oder lebhaft rot gefärbte Gewebe umkleidet, welches die Zunge mit dem Bändchen verbindet. Indem er dann meinen Hinterkopf mit der einen Hand festhielt und Daumen und Zeigefinger der anderen mit starkem Druck mitten auf die Stirn presste, fragte er mich, ob das schmerze, und beobachtete dabei die Reaktionen meiner Iris. Er beschloss die Untersuchung, indem er sich erkundigte, ob ich letzthin häufige, andauernde Durchfälle gehabt hätte. Nein, alles war in Ordnung, dank der Einnahme von Trophisan-Ampullen auf Glycolbasis hatte ich mein Gewicht aus der Zeit vor der Abmagerung während der Gürtelrose wiedererlangt, nämlich siebzig Kilo.

      8

      Bill war es, der mir als Erster von der sagenhaften Krankheit erzählte, ich würde sagen, 1981. Er war gerade aus den Staaten zurückgekehrt, wo er in einer Fachzeitschrift die ersten klinischen Berichte über Todesfälle mit dieser eigentümlichen Vorgeschichte gelesen hatte. Er selber sprach davon wie von einem Mysterium, realistisch und skeptisch. Bill ist Manager eines großen Pharmalabors, in dem Impfstoffe produziert werden. Als ich anderntags unter vier Augen mit Muzil zu Abend aß, berichtete ich ihm von der alarmierenden Nachricht, die Bill herumerzählte. Er ließ sich, von einem Lachanfall gekrümmt, vom Sofa fallen: „Ein Krebs, der ausschließlich Homosexuelle trifft, nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein, das ist zum Totlachen!“ Der Zufall wollte, dass Muzil zu dem Zeitpunkt schon von dem Retrovirus befallen war, dessen Inkubationszeit, Stéphane hat es mir kürzlich erzählt, man weiß es mittlerweile, verbreitet die Tatsache aber nicht, um nicht unter den Tausenden von Positiven Panik zu säen, recht genau sechs Jahre betragen soll. Einige Monate, nachdem ich bei Muzil jenen Lachanfall ausgelöst hatte, fiel er in eine schwere Depression, es war Sommer, ich bemerkte am Telefon seine veränderte Stimme, von meinem Appartement aus beobachtete ich verzweifelt den Balkon meines Nachbarn, so hatte ich, ohne dass es bemerkt worden wäre, Muzil ein Buch gewidmet, „Meinem Nachbarn“, bevor ich dann das folgende „Dem toten Freund“ widmen musste, ich befürchtete, er werde sich von diesem Balkon stürzen, ich spannte unsichtbare Netze von meinem Fenster zu seinem, um ihm zu Hilfe zu kommen, mir war unbekannt, woran er litt, doch hörte ich an seiner Stimme, dass es schlimm war, ich erfuhr später, dass er es niemandem anvertraute außer mir allein, er sagte mir an jenem Tag: „Stéphane krankt an mir, endlich habe ich begriffen, dass ich Stéphanes Krankheit bin und es sein Leben lang bleiben werde, was ich auch anstelle, es sei denn, ich verschwinde; das einzige Mittel, ihn von seiner Krankheit zu heilen, da bin ich sicher, wäre, mich umzubringen.“ Doch da waren die Würfel schon gefallen.

      9

      Dr. Nacier, mit dem ich noch befreundet war und der sich nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus von Biskra, wo er als Assistenzarzt seinen Wehrdienst leistete, der Geriatrie zugewandt hatte, arbeitete zu jener Zeit in einem Altenpflegeheim am Pariser Stadtrand, wohin er mich auf einen Besuch einlud, zu dem ich einen Fotoapparat mitbrachte, der leicht in der Tasche des weißen Kittels zu verstecken war, welchen ich auf sein Geheiß anzog, damit er mich während der allgemeinen Sprechstunde als Kollegen ausgeben konnte. Wegen des Fotoromans über meine Großtanten, die damals fünfundachtzig beziehungsweise fünfundsiebzig Jahre alt waren, meinte Dr. Nacier, ich hegte eine geheime Neigung für todgeweihtes Fleisch. Er lag da völlig falsch, was mich anging, denn ich machte in jenem Altenpflegeheim nicht eine einzige Aufnahme, außerdem reizte es mich nicht im Geringsten, eine zu machen, diese Visite in Verkleidung flößte mir Scham und Abscheu ein. Dr. Nacier, dieser hübsche Kerl, der den alten Frauen so gefiel, dies ehemalige Model, das sich glücklos als Schauspieler versucht hatte, bevor es geknickt in die medizinische Fakultät eintrat, dieser Beau, der damit prahlte, er sei als Fünfzehnjähriger im Grand Hôtel von Vevey, wo er mit seinen Eltern abgestiegen war, kurz vor dem Autounfall, dem sein Vater zum Opfer fallen sollte, von einem der Schauspieler, die den James Bond gespielt hatten, vergewaltigt worden, dieser Ehrgeizling konnte sich einfach nicht zu einer Laufbahn als praktischer Arzt herablassen, um in einer Stadtteilpraxis, die leicht zur Jauchegrube verkommen könnte, von seinen schmerbäuchigen, stinkenden, kleinkarierten Patienten fünfundachtzig Francs pro Konsultation zu kassieren. Aus diesem Grund versuchte er zunächst, sich mit der Kreation eines durchgestylten Sterbehauses mit eingetragenem Warenzeichen einen Namen zu machen, wo er in einer Art Hightech- oder Baukastenklinik die endlosen, widerlichen Agonien durch ein reibungsloses, märchenhaftes Hinübergleiten auf einer Reise zum Mond erster Klasse ersetzen wollte, ohne Erstattung durch die Kasse. Um an die Bankbürgschaften zu kommen, musste Dr. Nacier eine moralische Autorität ausgraben, die dafür sorgen sollte, dass man sein Vorhaben nicht für zwielichtig hielt. Muzil war hier der ideale Pate. Durch meine Vermittlung bekam Dr. Nacier leicht einen Termin bei ihm. Nach ihrer Unterredung sollte ich mit Muzil zu Abend essen. Zu meiner Überraschung hatte er strahlende Augen und war irrsinnig aufgekratzt. Dieser Plan, auf den er im Ernst keinen Pfifferling geben wollte, juckte ihn wie ein Floh. Nie hat Muzil so viele Lachanfälle gehabt wie als Todkranker. Als Dr. Nacier gegangen war, sagte er zu mir: „Weißt du, was ich deinem Kumpel geraten habe: Seine Bude da dürfte nicht eine Einrichtung sein, in die man zum Sterben kommt, sondern in die man kommt, um so zu tun, als stürbe man. Natürlich müsste alles prunkvoll sein, mit prächtigen Bildern und sanfter Musik, aber nur, damit des Pudels Kern besser versteckt wird, denn ganz hinten in dieser Klinik gäbe es eine kleine Tür, vielleicht hinter einem von diesen Bildern, die einen ins Träumen bringen, man würde in der einlullenden Melodie des Nirwana aus der Spritze verstohlen hinter das Bild schlüpfen und schwups! wäre man verschwunden, tot in aller Augen, und man würde auf der anderen Seite der Wand wieder auftauchen, im Hinterhof, ohne Gepäck, mit nichts in den Händen, ohne Namen, und müsste sich eine neue Identität erfinden.“

      10

      Sein Name war für Muzil zum Schreckgespenst geworden. Er wollte ihn tilgen. Ich hatte bei ihm für die Zeitung, bei der ich arbeitete, einen Text über die Kritik bestellt, er sträubte sich, wollte mich gleichzeitig nicht enttäuschen, schob entsetzliches Kopfweh vor, das seine Arbeit lähme, bis ich ihm schließlich vorschlug, diesen Artikel unter falschem Namen zu veröffentlichen, zwei Tage darauf erhielt ich mit der Post einen Text von seiner Hand, klar und scharf, mit diesem Brief: „Welches Wunder an Verständnis hat dir eingegeben, dass nicht der Kopf Ärger macht, sondern der Name?“ Als Deckname schlug er Julien de l’Hôpital vor, und jedes Mal wenn ich ihn zwei, drei Jahre später im Krankenhaus besuchte, wo er im Sterben lag, dachte ich an jenes düstere Pseudonym, das nie das Licht des Tages erblickte, denn natürlich scherte sich die große Tageszeitung, bei der ich angestellt war, nicht im Geringsten um einen Text über die Kritik aus der Feder eines Julien de l’Hôpital, eine Kopie lag noch lange im Ordner einer Sekretärin, als Muzil sie von mir zurückverlangte, war sie daraus verschwunden, ich fand das Original bei mir zu Hause und gab es ihm, Stéphane stellte nach seinem Tod fest, dass er es vernichtet hatte, wie so viele Schriften, überstürzt, in den wenigen Monaten, die seinem Zusammenbruch vorausgegangen waren. Ich trug zweifellos die Schuld an der Vernichtung eines kompletten Manuskripts über Manet,