Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Hervé Guibert

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Название Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat
Автор произведения Hervé Guibert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941360921



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die an der Reihe war, beiseite zu drängeln, doch überdrüssig verschwand er mit seinem Gerätewagen im selben Augenblick, als die Stimme des blauen Taxiunternehmens mir sagte, woraufhin ich sofort wieder aufhängte, es sei zur Zeit, nach zehn Minuten Warten, kein Wagen für die Nummer der Rue Raymond-Losserand frei, die ich, als ich endlich durchgekommen war, hastig durch das Fenster der Telefonzelle erspäht hatte, in welche ich nun die ausländische junge Frau einließ, um mich wieder in die Métro zu stürzen, diesmal zu allem bereit, mit einer Übelkeit und Schwäche, die schon wieder an Kraft grenzten, zum Äußersten bereit, sogar mit einer gewissen Fröhlichkeit, dazu, mich sozusagen rein zufällig an jenem Morgen zusammenschlagen oder von einem Verrückten unter den Zug stoßen zu lassen, wo ich zum zweiten Mal zerquetscht würde, mit angehaltenem Atem und hocherhobenem Kopf, nur durch die Nase atmend, von dem Gedanken gepeinigt, dass ich zu allem Überfluss Gefahr lief, die Chinesische Grippe aufzuschnappen, die, so stand es in der Zeitung, schon zweieinhalb Millionen Franzosen ans Bett gefesselt hatte. Das Abteil auf der Linie Mairie d’Issy-Porte de la Chapelle, wo Dr. Chandi mir auszusteigen empfohlen hatte, wahlweise auch an der Porte de la Villette, um danach gut zehn Minuten an einem Zubringer zum Autobahnring entlangzulaufen, war seinerseits fast leer. Ein Mann, der eine Kappe mit Ohrenklappen aus Fell trug, beschrieb mir beim Verlassen der Station Porte de la Chapelle den Weg mit ausholenden Gesten, die kilometerweit wiesen, und als ich ihm den Namen Claude-Bernard sagte, denn er fragte mich genauer nach der Nummer in der Avenue de la Porte d’Aubervillers, zu der ich hinwollte, schien es mir, als begreife er meine Situation und mein Unglück voll und ganz, denn er war auf einmal von unvergleichlicher Freundlichkeit mir gegenüber, die, so zurückhaltend und leicht, fast humorvoll sie auch war, mir jenen schwarzen Kaffee nicht weniger versüßte, der mir immer noch Übelkeit verursachte, er hatte in der Zeitung zwei Tage zuvor gelesen, dass man das Hôpital Claude-Bernard, das aus den Zwanzigern stammte und baufällig geworden war, in neue Gebäude umgesiedelt hatte, außer dem Haus Chantemesse, wohin ich auf Dr. Chandis Weisung gehen sollte, der darauf verzichtet hatte, mir die Lage der Dinge zu schildern, ein Gebäude, das ausschließlich Aidskranken vorbehalten war und wo man bis auf weitere Verfügung innerhalb des ausgestorbenen Krankenhauses arbeitete. Am Telefon hatte Dr. Chandi, den ich bat, mir zu beschreiben, auf welchem Wege ich, zumal an einem Streiktag, zum Claude-Bernard käme, denn ich hatte ausgerechnet den Zettel verlegt, auf dem ich es mir einen Monat zuvor notiert hatte, lediglich gesagt: „Ach ja, Ihre Blutuntersuchung, war das schon morgen? Mein Gott, wie die Zeit vergeht!“ Ich fragte mich in der Folge, ob er diesen Satz absichtlich so formuliert hatte, um mich daran zu gemahnen, dass meine Zeit nun abgemessen war und ich sie nicht dadurch verschwenden sollte, unter einem anderen Schriftstellernamen als meinem eigenen zu schreiben, was mir jenen anderen, fast schon rituellen Satz ins Gedächtnis zurückrief, den er einen Monat davor gesprochen hatte, als er an den jüngsten Analysen die geschwinde Verbreitung des Virus in meinem Blut erkannte und mich bat, durch eine erneute Blutabnahme die Suche nach dem Antigen P24 zu ermöglichen, das Zeichen für das offensive, nicht mehr bloß latente Vorhandensein des Virus im Körper, um den Verwaltungsprozess in Gang zu setzen, mit dessen Hilfe ich AZT erhalten sollte, bis heute die einzige Möglichkeit, Aids im Vollbild zu behandeln: „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, ist es nicht mehr eine Frage von Jahren, sondern von Monaten.“ Ich hatte nochmals nach dem Weg gefragt, einen Tankstellenwart, denn es war kein Mensch auf dieser von der Autoflut plattgewalzten Avenue ohne Geschäfte, der mir hätte Auskunft geben können, und ich sah am Blick des Tankstellenwarts, dass er irgendeine Gemeinsamkeit, er begriff nicht, welche, in den Gesichtern und Blicken, im fieberhaften, gespielt selbstsicheren und entspannten Auftreten jener Männer zwischen zwanzig und vierzig erkannte, die ihn nach dem Weg zu dem stillgelegten Krankenhaus fragten, zu einer Tageszeit, zu der Krankenbesuche nicht üblich waren. Ich überquerte einen weiteren Zubringer zum Autobahnring, um an das Eingangsportal des Hôpital Claude-Bernard zu gelangen, wo es weder Wachtmann noch Pfortendienst gab, stattdessen ein Schild des Inhalts, die in das Haus Chantemesse bestellten Patienten, jenes, dessen Name mir Dr. Chandi buchstabiert hatte, sollten sich direkt an die Schwestern in diesem Gebäude wenden, das sie auf dem Gelände fänden, indem sie dem mit Pfeilen markierten Weg folgten. Alles lag verlassen, leergeräumt, kalt und feucht, wie geplündert, mit blauen, ausgefransten Vorhängen, die im Wind flatterten, ich ging an den ziegelfarbenen, verbarrikadierten Gebäuden entlang, an deren Frontgiebeln stand: Infektionskrankheiten, Tropenkrankheiten, bis hin zum Gebäude der tödlichen Krankheiten, der einzigen beleuchteten Zelle, hinter deren Milchglasscheiben es weitersummte und wo man ohne Unterlass das infizierte Blut förderte. Ich traf niemanden auf meinem Weg außer einem Schwarzen, der den Ausgang nicht mehr fand und mich anflehte, ihm zu sagen, wo er eine Telefonzelle finden könne. Dr. Chandi hatte mir erzählt, die Schwestern auf dieser Station seien sehr freundlich. Ganz gewiss sind sie es zu ihm, wenn er Mittwoch morgens zu seiner Sprechstunde vorbeikommt. Ich wagte mich in einen gekachelten Flur, der in ein Wartezimmer umfunktioniert war, für arme Schlucker wie mich, die einander anstarrten und dabei dachten, die Krankheit verstecke sich genau wie bei ihnen hinter diesen Gesichtern, die doch gesund aussahen und manchmal voller Jugend und Schönheit, während sie selber einen Totenschädel sahen, wenn sie in den Spiegel schauten oder umgekehrt den Eindruck hatten, in diesen ausgemergelten Blicken unvermittelt die Krankheit auszumachen, während sie selber sich unablässig im Spiegel vergewisserten, dass sie noch bei guter Gesundheit sind, trotz ihrer schlechten Werte, und als ich mich weiter in diesen Flur wagte, erkannte ich hinter einer der Milchglasscheiben, die bis zu den Schultern reichten, von schräg vorn das vertraute Gesicht eines Mannes, mit dem ich zu tun gehabt hatte, und ich wandte mich sofort ab, entsetzt von dem Gedanken, mit ihm jenen Blick des Wiedererkennens, der erzwungenen Gleichheit zu wechseln, wo ich doch nichts als Verachtung für diesen Mann empfinde. Drei Schwestern drängten sich, als seien sie für eine Zirkusnummer übereinandergestapelt, in einem Besenschrank und blätterten wie besessen die Seiten eines Ordners durch, wobei sie Namen riefen, da riefen sie auch schon meinen, doch es gibt ein Stadium der Krankheit, da ist einem die Geheimhaltung herzlich egal, da wird sie sogar widerwärtig, lästig, und eine von ihnen erzählte von ihrem Weihnachtsbaum, man darf sich vom Schrecken dieser Krankheit nicht überwältigen lassen, sonst frisst er alles auf, sie ist schließlich nichts weiter als eine Art Krebs, ein Krebs, der mittlerweile durch den Fortschritt der Forschung fast völlig durchschaut ist. Ich hatte in einer von den Blutabnahmeboxen Zuflucht gesucht, hatte hastig die Tür hinter mir geschlossen und mich so tief wie möglich auf den Sitz gekauert, voll Angst, der Mann, den ich wiedererkannt hatte, könne mich seinerseits erkennen, doch andauernd wurde die Tür wieder von Schwestern geöffnet, die mich nach meinem Namen fragten oder sagten, ich hätte mich in die falsche Box gesetzt. Die Schwester, die mir Blut abnehmen sollte, musterte mich mit einem Blick voller Sanftheit, der bedeutete: „Du stirbst vor mir.“ Der Gedanke half ihr, milde zu bleiben und die Nadel ohne Handschuhe geradewegs in die Vene zu setzen, nachdem sie noch einmal ihre Röhrchen nachgezählt hatte, indem sie sie mit den Fingerspitzen in der Schale hin und her rollte. Sie sagte: „Es geht um die Analyse zur Verschreibung von AZT! Seit wann sind Sie in Behandlung?“ Ich überlegte, bevor ich antwortete: „Seit einem Jahr.“ Als sie das neunte Röhrchen an das Pumpsystem anschloß, das mir das Blut unter Vakuum abmolk, sagte sie: „Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein Frühstück, Nescafé und Marmeladenbrote, ist’s recht?“ Ich erhob mich umgehend von dem Sitz, und sie drückte mich ängstlich wieder hinunter: „Nein, bleiben Sie noch etwas sitzen, Sie sind zu blass, sind Sie sicher, dass Sie sich nicht mit einem Frühstück stärken möchten?“ Es drängte mich, hier herauszukommen, zwar konnte ich mich wohl nicht auf den Beinen halten, aber ich hatte Lust zu laufen, zu laufen wie noch nie, im Schlachthof galoppiert das Pferd, dessen Halsschlagader man durchtrennt hat, in Gurten aufgehängt weiter, im Leeren. Die Stapelkünstlerinnen in ihrem Besenschrank gaben mir ungefragt einen Termin für den Morgen des 11., bei Dr. Chandi. Als ich in die Kälte hinaustrat, dachte ich, jetzt fehle nur noch, dass ich wie der Schwarze in diesem Geisterkrankenhaus in die Irre ginge, der Gedanke brachte mich zum Lachen, mich verirren oder umkippen, in diesem einzigen Krankenhaus auf der Welt, da gab es keinen Zweifel, in dem ich womöglich Stunden warten müsste, bis jemand vorbeikäme, um mir aufzuhelfen. Trotz all meiner Anstrengung, mich auf dem mit Pfeilen markierten Weg nicht zu verirren, stellte ich bald fest, dass ich mich einem versperrten Tor näherte, ich musste den ganzen Weg in umgekehrter Richtung zurückgehen und mich auf die Suche nach einem anderen Ausgang machen. Ein Motorradfahrer sauste vorüber, der Helm machte sein Gesicht unkenntlich wie das eines Fechters. Ich kam wieder