Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat. Hervé Guibert

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Название Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat
Автор произведения Hervé Guibert
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941360921



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mich nach dem Weg fragte. Ich verspürte immer noch diese höllische Lust, zu lachen und zu reden, so schnell wie möglich meine Lieben anzurufen, um ihnen all das zu erzählen und es loszuwerden. Ich hatte vor, mit meinem Verleger zu essen und den Vorschuss auf meinen neuen Vertrag auszuhandeln, der mir erlauben würde, eine Weltreise in der eisernen Lunge zu machen oder mir das Hirn mit einer goldenen Kugel aus dem Kopf zu pusten. Am Nachmittag rief ich Dr. Chandi in seiner Praxis an, um ihm zu sagen, dass mich das Erlebnis am Vormittag ernstlich mitgenommen hatte. Er sagte: „Ich hätte Sie informieren sollen, Sie haben mit allem recht, aber ich sehe nichts mehr, ich bin einmal wöchentlich einen Vormittag lang dort, und ich muss mir einfach eine dicke Haut zulegen, damit der Laden läuft.“ Ich sagte, ich wisse schon, er habe mich dorthin geschickt, weil es unumgänglich sei, doch fragte ich ihn, ob wir uns nicht künftig, soweit möglich jedenfalls, diese Krankenhausbesuche ersparen und die Sache weiterhin unter uns behandeln könnten. Beunruhigt von der Drohung, die ich bei unserem letzten Treffen hatte durchblicken lassen, dass ich nämlich zwischen Suizid und dem Verfassen eines weiteren Buches wählen würde, sagte mir Dr. Chandi, er wolle alles dafür tun, was in seiner Macht stehe, die Aushändigung von AZT könne jedoch ausschließlich durch ein Kontrollgremium erfolgen. Ich berichtete noch am gleichen Abend Bill von diesem Gespräch, nachdem ich mit meinem Verleger zu Mittag gegessen und den Nachmittag mit meiner Großtante im Krankenhaus verbracht hatte, und Bill sagte: „Die haben wohl Angst, du könntest dein AZT weiterverkaufen, an Afrikaner zum Beispiel.“ In Afrika lässt man wegen der hohen Kosten des Medikaments lieber die Kranken verrecken und steckt das Geld in die Forschung. Am Nachmittag des 22. Dezember also beschloss ich gemeinsam mit Dr. Chandi, nicht zu dem Termin am 11. Januar zu gehen, den nun er an meiner statt wahrnehmen wollte, womit er eine Rolle in beiden Lagern zugleich spielen würde, um nötigenfalls das ersehnte Medikament zu erhalten, oder um mich glauben zu machen, er könne es nur so erhalten, durch die Vorspiegelung meiner Anwesenheit, indem er die für unseren Termin reservierte Zeit blockierte, um das Kontrollgremium zu täuschen. Ich soll ihn am 11. Januar nachmittags anrufen, um meine Resultate zu erfahren, und aus diesem Grunde sage ich, dass mir heute, am 4. Januar, nur noch sieben Tage bleiben, um die Geschichte meiner Krankheit zu erzählen, denn was mir Dr. Chandi am 11. Januar nachmittags mitteilen wird, droht, egal in welcher Richtung, wobei jede Richtung, wie mich Dr. Chandi vorbereitete, nur verhängnisvoll sein kann, dies Buch zu gefährden, es an seiner Wurzel zu zertrümmern und meinen Zähler auf Null zu stellen, die fünfundfünfzig schon beschriebenen Blätter zu löschen und dann die Revolvertrommel rotieren zu lassen.

      19

      ’80 dürfte das Jahr gewesen sein, in dem mir Jules die Hepatitis eines Engländers namens Bobo anhängte, der Berthe nur knapp dank einer Gammaglobulinspritze entging. ’81 das Jahr von Jules’ Reise nach Amerika, nach Baltimore, wo er Bens, und nach San Francisco, wo er Josefs Liebhaber wurde, kurz nachdem mir Bill erstmals von der Existenz der Krankheit erzählt hatte, es sei denn, er hatte mir schon Ende ’80 davon erzählt. Im Dezember ’81 in Wien fickt Jules vor meinen Augen am Abend meines Geburtstags einen kleinen blond gelockten Masseur, den er in der Sauna aufgegabelt hat, Arthur, der fleckig und schorfig am ganzen Leib war und über den ich tags darauf in mein Tagebuch schreibe, halb unbewusst, denn damals glaubte man nur bedingt an die Geißel: „Gleichzeitig empfingen wir auf dem Körper des anderen die Krankheit. Wir hätten Lepra empfangen, wenn wir es gekonnt hätten.“ ’82 war das Jahr, in dem mir Jules in Amsterdam die Zeugung seines ersten Kindes ankündigte, das Arthur heißen sollte und im Scheißhausbecken gelandet ist, eine Ankündigung, die mich so schockte, dass ich Jules bat, in meinem Leib stattdessen eine negative Kraft heranzuziehen, „einen schwarzen Keim“, sagte ich an jenem Abend unter Tränen zu ihm, in dem Restaurant in Amsterdam, bei Kerzenlicht, was er nicht sichtbar befolgte, denn ich träumte wirklich von Schlägen, von Knechtung und Dressur, ich wollte sein Sklave werden, doch dann wurde er in unregelmäßigen Abständen meiner. Im Dezember ’82, in Budapest, wohin er gekommen ist, um an Bartóks Grab Andacht zu halten, lasse ich mir von einem Amikalb aus Kalamazoo den Arsch vollspritzen, Tom, der mich sein Baby nennt. ’83 war das Mexikojahr mit dem Abszess im Hals und Jules’ Lymphknotenschwellung. ’84 das Jahr des Verrats von Marine und meinem Verleger, von Muzils Tod und der im Moostempel in Japan niedergelegten Wünsche. ’85 ordne ich nichts ein, was mit unserer Geschichte zu tun hat. ’86 war das Todesjahr des Priesters. ’87 das Jahr meiner Gürtelrose. ’88 das Jahr des unwiderruflichen Ausbruchs meiner Krankheit, drei Monate später von jenem Umstand gefolgt, der mich an Rettung glauben ließ. In dieser Chronik, die acht Jahre umspannt und die Vorzeichen der Krankheit einschließt und markiert, wobei man heute laut Stéphane weiß, dass deren Inkubationszeit zwischen viereinhalb und acht Jahren beträgt, sind die körperlichen Krankheitsäußerungen nicht weniger entscheidend als die sexuellen Erlebnisse, weder die Vorahnungen noch die Wünsche, die sie verdrängen wollen. Diese Chronik wird zu meinem Schema, außer wenn ich feststelle, dass die Fortentwicklung aus dem Ungeordneten entspringt.

      20

      Als sich im Oktober ’83 nach meiner Rückkehr aus Mexiko jener Abszess tief in meinem Hals öffnet, weiß ich nicht mehr, an welchen Arzt ich mich wenden soll, Dr. Nocourt behauptet, er mache keine Hausbesuche, Dr. Lévy ist tot, und es kommt mittlerweile weder in Frage, Dr. Aron anzusprechen, seit der Geschichte mit der Dysmorphophobie, noch Dr. Lérisson, der mich nur mit einem Haufen Kapseln ersticken würde. Ich habe mich dazu entschlossen, einen jungen Vertreter von Dr. Nocourt kommen zu lassen, der mir Antibiotika verschrieben hat, obwohl in den drei, vier Tagen, seit ich sie einnehme, nicht die geringste Besserung zu bemerken ist, der Abszess breitet sich aus, ich kann nicht mehr schlucken, ohne dass es mir entsetzliche Schmerzen bereitet, ich esse so gut wie nichts mehr, außer der weichgekochten Nahrung, die mir Gustave, der vorübergehend in Paris ist, täglich vorbeibringt. Jules ist nicht abkömmlich: Kaum hatte er sich von seinem Fieber erholt, da übernahm er eine Arbeit in einer Theaterproduktion, die ihn stark beansprucht. Wegen dieser offenen Wunde, die mir den Hals zerfrisst, beginnt mich der Gedanke an den Kuss der alten Hure auf der Tanzfläche des Bombay in Mexiko zu verfolgen, eines perfekten Doubles jener italienischen Schauspielerin, welche sich in mich verknallt hatte und im selben Jahr geboren war wie meine Mutter, die mir unvermittelt die Zunge tief in den Hals gestopft hatte wie eine närrische Natter, während sie sich an mich presste, auf der leuchtenden Tanzfläche des Bombay, wohin mich der amerikanische Produzent geschleppt hatte, um einen Trupp Huren aufzusammeln, die in der Verfilmung von Unter dem Vulkan auftreten sollten, einem der Lieblingsromane Muzils, der mir vor meiner Abreise sein vergilbtes, abgestoßenes Exemplar geliehen hatte. Die Huren, von der jüngsten bis zur ältesten, marschierten an dem Tisch ihres Chefs, Mala Facia, vorbei, um mich aus der Nähe zu sehen und mich zu berühren und mich eine nach der anderen auf die Tanzfläche zu zerren, denn ich bin blond. Sie pressten sich lachend an mich, oder auch schmachtend, wie es diese Hure tat, die stark nach Schminke roch, die mir auf halluzinatorische Weise vorkam wie die Reinkarnation der italienischen Schauspielerin, welche mich geliebt und mir ihre Lippen hingehalten hatte, wobei sie mir zuflüsterten, mit mir würden sie es in einem der Verschläge auf der Etage umsonst treiben, denn ich bin blond. Die Regierung hatte kürzlich die althergebrachten Bordelle geschlossen, mit ihren Patios, in denen das Fleisch aufmarschierte, und ihren dunklen, von Zellen gesäumten Korridoren, die aus der Nische am Ende von der strahlenden Jungfrau der Barmherzigkeit beleuchtet wurden. Diese verbarrikadierten, von der Polizei bewachten Etablissements waren eilends durch große Dancings nach amerikanischem Vorbild ersetzt worden. Einige Tage zuvor war ich unglücklicherweise in die Schwulenbar gegangen, die mir Jules’ mexikanischer Freund genannt hatte, und die Jungen waren ebenso vor mir Schlange gestanden, um mich zu mustern, die Kühnsten betasteten mich wie einen Talisman. Die alte Hure hatte den Schritt, den ich der italienischen Schauspielerin verwehrt hatte, getan, hatte mir ohne jede Vorwarnung ihre Zunge tief in den Hals gestopft, und Tausende von Kilometern weiter kam mir ihr Kuss jedesmal in den Sinn, wenn ich den Schmerz des Abszesses spürte, der sich immer tiefer bohrte wie die Spitze eines weißglühenden Eisens. Die alte Hure hatte das Entsetzen, das ihr Kuss ausgelöst hatte, bemerkt, sie hatte sich entschuldigt, sie war traurig. Zurück in meinem Hotelzimmer in der Edgar-Allan-Poe-Straße hatte ich mir die Zunge eingeseift und mich im Spiegel betrachtet, ich hatte von diesem komischen, durch Trunkenheit und